Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → FAKTEN

BERICHT/028: "folklore europaea" ermöglicht Kulturvergleiche (Uni Freiburg)


Freiburger Uni-Magazin - 2/April 2007

Feste, Bräuche, Traditionen

"folklore europaea" macht Kulturvergleiche möglich


Jedes Jahr findet in Venedig die "Regata Storica" statt, in Sevilla die "Semana santa". Ob in Deutschland, Italien, Spanien oder anderen Ländern Europas: Feste und Bräuche haben im kulturellen Leben einen festen Platz. Wer sich bisher dafür interessierte, fand allerdings nur wenige, verstreute Daten. Seit Anfang des Jahres hat sich das geändert: Mit der multimedialen Datenbank "folklore europaea" können sich Wissenschaftler und Laien über Feste, Bräuche und Traditionen in Europa umfassend informieren.


*


Feste und Bräuche in den einzelnen Ländern Europas sind so unterschiedlich wie deren Bewohner. Die multimediale Datenbank "folklore europaea" dokumentiert auf einer bisher einzigartigen Plattform Feste, Bräuche und Traditionen aus verschiedenen Regionen Europas und eröffnet erstmals die Möglichkeit, detaillierte Kulturvergleiche europaweit vorzunehmen. "In erster Linie richtet sich die Datenbank an Wissenschaftler wie Ethnologen, Historiker, Soziologen und Politologen", sagt Professor Dr. Werner Mezger, Institut für Volkskunde, und Projektleiter der Datenbank "folklore europaea". Aber auch interessierte Laien können sich informieren und ethnografisch orientieren - bis hin zur individuellen Reiserouten- und Urlaubsplanung. Die Plattform, die im Fach Europäische Ethnologie entwickelt wurde, bietet Informationen in Form von Texten, Filmen, Fotografien und Tönen über Feste, Bräuche und Traditionen in Europa. Die Datenbank will im Rahmen der europäischen Integration über nationale Grenzen hinweg Verbindungen, Wechselwirkungen und Unterschiede zwischen Kulturräumen aufzeigen sowie Einblicke in Gemeinsamkeiten und Differenzen im kulturellen Erbe geben. In vielen Regionen Europas liegen die letzten Erhebungen zu Festen und Bräuchen mehr als 100 Jahre zurück. "Bislang gab es nur einzelne, weit verstreute Sammlungen", sagt Mezger. Von einer regionalen Datenbank ausgehend, entwickelte sich deshalb die Idee, Feste und Bräuche aus ganz Europa auf einer Plattform zusammenzutragen. Die Multimedialität des Projekts, die es bislang europaweit konkurrenzlos macht, ist entstanden aus einer Kooperation der Universität mit dem Südwestrundfunk Stuttgart: Das SWR-Fernsehen stellt den Gesamtbestand seiner zahlreichen, über Jahre hinweg gedrehten Filmdokumentationen zu Festen und Bräuchen zur Verfügung.


Feste mit Wettkampfcharakter

"Europa existiert nicht nur als politisches Gebilde, sondern muss auch auf der kulturellen Ebene gelesen werden, wobei für unser Fach die Popularkultur besonders interessant ist", erläutert Mezger die Bedeutung der Datenbank. Als spannendes Beispiel für Mentalitätsunterschiede könne etwa bei Festen und Bräuchen südlich der Alpen deren Wettkampfcharakter gelten: Ob bei den rasanten Reiterspielen auf Menorca oder im italienischen Gubbio, wo Männer zu Ehren der Lokalheiligen große Holzgebilde in einer förmlichen Hetzjagd durch die Stadt tragen - immer gehe es im mediterranen Raum darum, wer der Schnellste, Beste, Mutigste sei. Auch über die differenten Formen populärer Frömmigkeit lassen sich Kulturprozesse verstehen: Während etwa in Deutschland liturgisches Theater und geistliches Schauspiel durch Reformation und Aufklärung weitgehend verschwunden sind, spielen sie in Südeuropa nach wie vor eine zentrale Rolle.

Zur Bestimmung einer europäischen Identität sei es jedoch wichtig, nicht nur die Gemeinsamkeiten in der Kulturpraxis einzelner Regionen zu betrachten, sondern viel mehr noch deren Unterschiede. Gleichwohl gebe es eine Menge interessanter Parallelen: In weiten Teilen Südeuropas werde zum Beispiel die Dauer der vorösterlichen Fastenzeit mit einer Puppe visualisiert. Ist in Italien die Mitte der Fastenzeit erreicht, wird eine weibliche Strohfigur in zwei Teile zersägt. In Spanien, vor allem im katalanischen Raum, dient zur Veranschaulichung der Fastenzeit ebenfalls eine menschliche Gestalt: eine siebenfüßige Hexe, der jede Woche ein Fuß abgesägt wird.


Internationales Netzwerk

Mittelfristig soll "folklore europaea" zu einem internationalen Netzwerk ausgebaut werden, das ethnologische Forschungseinrichtungen und Dokumentationszentren in verschiedenen Ländern nutzen können. Schon jetzt arbeiten Projektpartner aus mehreren Ländern im östlichen Europa an der Datenbank mit, indem sie deren Bestände auswerten und eigene Materialien beisteuern. Dass inzwischen auch die UNESCO mit Blick auf ihr Programm zum Schutz des immateriellen Kulturerbes auf die Datenbank aufmerksam geworden ist und Möglichkeiten der Kooperation prüft, freut die Initiatoren.


Praktikumsangebote für Studierende

An der Albert-Ludwigs-Universität hat sich "folklore europaea" in Lehrveranstaltungen bereits bewährt: Studierende nutzen die Datenbank als Forschungsinstrument, begleiten sie mit Ideen und Kritik und tragen zu ihrem weiteren Ausbau bei. Da ein derartiges Projekt viele Mitarbeiter braucht, sind Interessierte stets willkommen. Praktika, die in der Regel sechs Monate dauern, sind bei Studierenden der europäischen Ethnologie, aber auch bei Informatikern, Historikern oder Philologen sehr begehrt. In Zusammenarbeit mit dem New Media Center der Universität lernen Studierende unter anderem zu recherchieren, Datensätze zu entwickeln und Medien zu bearbeiten. Für "folklore europaea" wurden Werner Mezger und seine studentischen Mitarbeiter 2006 mit dem Medienpreis der Universität ausgezeichnet. - SC

"folklore europaea" ist im Internet unter
www.folklore-europaea.uni- freiburg.de zu finden.

Die Navigations- und Suchinstrumente stehen in
Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch zur Verfügung.


*


Quelle:
Freiburger Uni-Magazin Nr. 2/April 2007, Seite 19
Herausgeber: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg,
der Rektor, Prof. Dr. Wolfgang Jäger
Redaktion: Dr. Thomas Nesseler (verantwortlich)
Kommunikation und Presse
Fahnenbergplatz, 79098 Freiburg,
Tel.: 0761/203-4301, Fax: 0761/203-4285
E-Mail: info@pr.uni-freiburg.de

Freiburger Uni-Magazin erscheint sechsmal jährlich.
Jahresabonnement 13,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2007