Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → FAKTEN

INTERNATIONAL/016: Indien - Mädchen der Dongria Kondh sollen lesen und schreiben lernen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. September 2012

Indien: Mädchen der Dongria Kondh sollen lesen und schreiben lernen - Schwieriges Unterfangen

von Manipadma Jena


Mädchen der Volksgruppe der Dongria Kondh - Bild: © Manipadma Jena/IPS

Mädchen der Volksgruppe der Dongria Kondh
Bild: © Manipadma Jena/IPS

Rayagada, Indien, 18. September (IPS) - Der Gongschlag, der im 'Haus der Bildung' (Sikhsya Niketan) ertönt, klingt den 200 Schülerinnen der ethnischen Dongria Kondh wie Musik in den Ohren. Sie stürmen aus den Klassenzimmern in Richtung Mensa, um dort ihr Mittagessen einzunehmen.

Sikhsya Niketan ist ein Internat, das in Chattikona im Bezirk Rayagada im ostindischen Bundesstaat Odisha liegt. Besucht wird es ausschließlich von Dongria Kondh-Mädchen, die aus dem Niyamgiri- Hügelplateau 1.525 Meter über dem Meeresspiegel kommen. Die Schule ist eine von vielen Einrichtungen, die die indigenen Bevölkerungsgruppen Indiens alphabetisieren sollen.

In Odisha gibt es rund 62 Volksgruppen. Sie stellen 22 Prozent der Gesamtbevölkerung des Bundesstaates und 50 Prozent der Armen Odishas. Damit haben sie einen erheblichen Anteil daran, dass die Indikatoren des Unionstaates für menschliche Entwicklung vergleichsweise schlecht ausfallen.

In den rund 120 Niyamgiri-Hügeldörfern der Dongria Kondh leben 8.000 Menschen, von denen nur zehn Prozent lesen und schreiben können. Von den Mädchen sind gerade einmal drei Prozent alphabetisiert. Damit schneiden die Dongria Kondh im nationalen und regionalen Vergleich miserabel ab. In Indien sind 74 Prozent aller Indigenen alphabetisiert, in Odisha immerhin schon 47 Prozent.


Nur zwei Dongria Kondh mit Schulabschluss

Die 14-jährige Rina Wadaka geht im Haus der Bildung in die fünfte Klasse. Sie ist eine von 28 Schülerinnen, die aus dem Dorf Khambesi stammen. Sie will wie ihr großes Vorbild Kasturi Melaka, Lehrerin werden. Melaka ist eine der zwei Dongria Kondh, die die Schule abgeschlossen haben. Ein berufliches Ziel zu haben, gilt als großer Erfolg, sind Mädchen der Volksgruppe nur selten an Jobs und Berufskarrieren interessiert.

Die exklusive Grundschule, die erstmals 2008 123 Mädchen aufgenommen hat, unterrichtet inzwischen 225 Dongria Kondh im Alter von sechs bis 16 Jahren. "Jedes Jahr werden 20 Mädchen aufgenommen, 15 brechen sie ab", sagt Simadri Trinath Row von der Dongria Kondh-Entwicklungsbehörde (DKDA), die die Schulen verwaltet.

In Odisha brechen 6,4 Prozent der Kinder ethnischer Gemeinschaften die Schule ab. Der bundesstaatliche Durchschnittswert liegt mit 2,8 Prozent deutlich darunter, wie dem Jahresplan 2011/2012 der Regierung zu entnehmen ist.

Ein Problem ist die Sprache. Die Dongria Kondh sprechen Kuvi, die zur dravidianischen Sprachfamilie gehört und keine Anknüpfungspunkte zum offiziell gesprochenen Oriya aufweist, das dem Sanskrit am nächsten kommt. Unterrichtet wird in der Kondh-Sprache, die dem Kuvi ähnelt, aber dennoch von vielen Dongria Kondh nicht verstanden wird. "In solchen Fällen helfen uns die sprachbegabteren Schülerinnen, den Stoff ins Kuvi zu übersetzen", berichtet die Lehrerin Jayanti Sabar. Zwar müssten eigentlich Kuvi-sprachige Dongria-Kondh-Lehrer angeheuert werden, doch qualifizierte Kräfte sind rar.

Überhaupt ist es nicht leicht, Dongria Kondh-Mädchen in die Schulen zu holen. Die DKDA schickt deshalb Promotoren aus, die in den Dörfern nach potenziellen Schülerinnen Ausschau halten sollen. Gola Sikkaka, die für die Ortschaft Khambesi zuständige Promotorin, hält die lokalen Wochenmärkte für geeignete Orte, um mit den Eltern ins Gespräch zu kommen.

"Ich erzähle ihnen dann, dass ihre Töchter auf den Schulen lernen können, wie man Gehirnmalaria und Tuberkulose behandelt", berichtet Sikkaka im IPS-Gespräch. Denn diese Krankheiten können die lokalen Heilerinnen nicht kurieren, an die sich die Dongria Kondh in Krankheitsfällen wenden.

Bei den Dongria Kondh sind Frauen in der Mehrheit. Auf 1.000 Männer kommen 1.352 Frauen. Das Geschlechterverhältnis in Odisha liegt bei 978 Frauen pro 1.000 Männer.

Die Mädchen in den Schulen zu halten, stellt die Schulbehörden vor eine weitere große Herausforderung. So kehren viele von ihnen, kaum dass sie ihre Familien an Feiertagen, zur Aussaat oder Ernte besuchen, nicht mehr zurück. Gewohnt, sich frei zu bewegen, empfinden die Mädchen den Schulunterricht in den Klassenräumen oftmals als erdrückend.

Die Internatslehrer achten streng darauf, dass die Mädchen nicht heimlich die Schule verlassen. "Manchmal leiden gerade die Jüngeren von ihnen unter Heimweh und laufen weg. Wir holen sie dann zurück", berichtet Nundruka.


Anreize

Die Regierung versucht die Dongria Kondh mit konkreten Anreizen für die Schulen einzunehmen. Sie zahlt ein monatliches Stipendium in Höhe von zwei US-Dollar pro Schülerin und übernimmt zudem die Kosten für die medizinische Versorgung, für Schuluniformen und andere Ausgaben. Auch statten sie Mädchen, die die weiterführende Schule besuchen, mit Fahrrädern und einem eigenen Bankkonto mit 54 Dollar aus.

Die Mühen scheinen sich allmählich auszuzahlen. Wie aus dem jährlichen Odisha-Wirtschaftsausblick 2010/11 hervorgeht, ist die Schulabbrecherquote von 66 Prozent im Jahr 2000 auf sechs Prozent 2010 gefallen.

Indien ist fest entschlossen das UN-Millenniumsentwicklungsziel (MDG) zu erreichen, allen Kindern bis 2015 eine Grundschulausbildung zu ermöglichen. Mit einer Netto-Einschulungsrate von 95 Prozent ist Indien auf dem besten Weg, das MDG zu erreichen. Die Alphabetisierung der Dongria Kondh-Mädchen ist ein weiterer Versuch, dem Bildungsziel näher zu kommen. (Ende/IPS/kb/2012)


Link:

http://www.ipsnews.net/2012/09/india-coaxes-tribal-girls-into-schools/

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 18. September 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2012