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MEDIEN/153: Das Werk des Filmregisseurs Michael Haneke (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 10/2009

"Ich lege Wert darauf, ein Außenseiter zu sein"
Das Werk des Filmregisseurs Michael Haneke

Von Christian Wessely


Das Werk des österreichischen Kinoregisseurs Michael Haneke, jüngst in Cannes mit der Goldenen Palme geehrt, polarisiert das Publikum. Seine Filme traktieren das Thema Gewalt bis zur Unerträglichkeit, allerdings in medien- und gesellschaftskritischer Absicht. Sie sind dadurch auch aus theologischer Sicht interessant.


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35 Jahre nach seinem Filmdebüt mit "After Liverpool" (nach einem Hörspiel von James Saunders, TV-Film, 1974) wurde Michael Haneke im Mai 2009 mit einer der höchsten Auszeichnungen der europäischen Filmszene geehrt: "Das weiße Band" (Deutschland/Italien/Österreich 2009) brachte ihm die Goldene Palme des Festivals von Cannes. Freilich kann Haneke bereits auf eine ellenlange Liste internationaler Ehrungen zurückblicken; nichtsdestoweniger stellt die Goldene Palme die bisherige Krönung seiner öffentlichen Anerkennung dar. Ob sich die gesellschaftliche Anerkennung mit Hanekes Selbstverständnis und seinem eigenen Verständnis seiner Filme verträgt, muss allerdings näher betrachtet werden.

Angesprochen auf sein Selbstverständnis im Rahmen des europäischen Autorenkinos meinte Haneke einmal: "Außenseiter bin ich ja hier auch, und eigentlich lege ich Wert darauf, einer zu sein" (Alexander Horwath, No Exit. Ein Essay über und ein Gespräch mit Michael Haneke, in: Christian Wessely u.a. [Hg.], Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft, Marburg 2008, 397-408, hier: 408). Diese Aussage wirft zwei Fragen auf: Wie wird man denn im Filmgeschäft zum Außenseiter, und aus welchem Grund legt man Wert darauf, einer zu bleiben?


Glück durch unbegrenzte Verfügbarkeit des Materiellen?

Michael Hanekes Filme polarisieren das Publikum. Schon seine Fernsehfilme waren stellenweise schwer auszuhalten; insbesondere seine Kinofilme treiben die Herausforderung an die Zuschauer auf die Spitze. Die als "Trilogie der Vergletscherung" konzipierten Filme "Der siebente Kontinent" (Österreich 1989), "Bennys Video" (Österreich/Schweiz 1992) und "71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls" (Österreich/Deutschland 1994) haben Aufsehen erregt, unter anderem, weil die schon damals sowohl handwerklich als auch inhaltlich kompromisslose Darstellungsweise einer in gewissem Sinne "endzeitlichen" Gesellschaft unmittelbar betroffen macht.

Im "Siebenten Kontinent" lässt Haneke eine wohlsituierte Familie kollektiven Selbstmord begehen; in "Bennys Video" eine ebensolche einen brutalen Mord vertuschen; in den "71 Fragmenten einer Chronologie des Zufalls" lässt er Schicksale ineinanderfließen, die bei aller Polyvalenz eines gemeinsam haben: Bessergestellte werden zu Tätern, Schlechtergestellte zu Opfern. Es ist unmöglich, diese drei Filme auf eine gemeinsame "Grundaussage" zu reduzieren und sie einer allzu einfachen Pauschalinterpretation zu unterwerfen. Aber eines ist klar:

Sie beschreiben die Konsequenzen eines gesellschaftlichen Existenzmodells, das seine eigenen Verheißungen vom Glück durch unbegrenzte Verfügbarkeit des Materiellen oder schlechthin Käuflichen nicht einholen kann.

Nach der ästhetisch überaus gelungenen Literaturverfilmung "Das Schloss" (Nach dem Roman von Franz Kafka, Deutschland/Österreich 1997) dreht Haneke "Funny Games" (Österreich 1997) - und die Verhältnisse kehren sich um. Eine wohlhabende Familie wird zu hilflosen Opfern zweier jugendlicher Eindringlinge, die sich mit teuflischer Lust am Leid der Opfer ergötzen. Allerdings entpuppen sich die "Funny Games" eher als medientheoretisches Lehrstück: anhand der Solidarisierung des Publikums mit den leidenden Opfern und der Gier nach Rache, die die Zuseherschaft angesichts vom brutalen und unmotivierten Vorgehen der beiden jugendlichen Angreifer entwickelt, entlarvt Haneke die latente Gewaltbereitschaft auch jener, die vorgeben, von Gewaltdarstellungen in den Medien angeekelt zu sein.

Für "Code unbekannt" (Frankreich/Deutschland/Rumänien 2000) attestieren Kritiker wie Georg Seeßlen Haneke eine Kehrtwende in Richtung Verträglichkeit, auch wenn die wenigen zugänglicheren Stellen des Filmes eher als bittere Ironie erscheinen. Dass die nächsten Filme - die kongeniale filmische Umsetzung der "Klavierspielerin" (Deutschland u.a. 2001) nach einer Vorlage von Elfriede Jelinek, "Wolfzeit" (Frankreich/Deutschland/Österreich 2003) und "Caché" (Frankreich u.a. 2005) - letztlich genau diese von Seeßlen postulierte Richtungsänderung nicht fortsetzen, scheint diese Einschätzung zu bestätigen.

In den Jahren 2006 und 2007 nimmt Haneke die Herausforderung an, seine "Funny Games" im Kontext des US-amerikanischen Kinos neu zu verfilmen - das Ergebnis ist allerdings von der europäischen Version kaum zu unterscheiden, da er mit der ihm eigenen Akribie alle Einstellungen bis ins kleinste Detail rekonstruiert und auch die Schnittsequenz praktisch unverändert bleibt. So bleibt lediglich eine Version mit dem US-Markt vertrauten Schauspielern, deren kulturkritisches Potenzial mehr oder weniger verhungert.

Bleibt noch "Das weiße Band", mit dem Haneke in Cannes reüssierte - die Geschichte eines norddeutschen Dorfes am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in dessen rigiden Strukturen Grundsteine künftiger und teilweise auch schon sich ereignender, aber nicht klar zuzuordnender Gewalt gelegt werden; eine universale Parabel zu Machtstrukturen, Strenge, allzu großem Druck und den Konsequenzen daraus.


Mitunter harsche Medienkritik

Haneke, der nicht nur ein erfahrener Filmemacher, sondern auch Professor für Regie an der Wiener Filmakademie ist und Opern (etwa 2005 Mozarts "Don Giovanni" an der Pariser Oper) inszeniert hat, zeichnet ein sehr konkretes Bild der Gesellschaft und ihres Zusammenlebens. Für ihn sind Angelpunkte der Verwerfungen der vergangenen Jahrzehnte: ein Stil des menschlichen Zusammenlebens, der zunehmend verflacht; die Abnahme der Emotionalität, insbesondere der Empathie; der hemmungslose Konsumismus als Triebfeder einer liberalen, wachstumsorientierten Wirtschaft, die zugleich Schwächere massiv benachteiligt (vgl. auch Franz Grabner, Der Name der Erbsünde ist Verdrängung. Ein Gespräch mit Michael Haneke, in: Wessely, Michael Haneke und seine Filme, 11-24, 15.21f.; Haneke, Bemerkungen zum Zusammenhang von Film, Kultur und Gesellschaft, in: Wessely (Hg.), Kunst des Glaubens - Glaube der Kunst. Der Blick auf das "unverfügbare Andere", Regensburg 2006, 263-268).

Dieses Weltbild prägt natürlich auch sein Filmwerk und jeder Ansatz zu einem reflektierten Sichten seiner Filme muss dies in Rechnung stellen. Notwendigerweise ist mit dieser Sicht auch eine mitunter sehr harsche Medienkritik verbunden, die sich aus der Erkenntnis speist, dass insbesondere die kommerzielle Breitenkultur Medieninhalte und damit auch den Mediengebrauch prägt. Dem Film kommt potenziell eine besondere Rolle im Reigen der Medienprodukte zu, die aber in den seltensten Fällen auch wahrgenommen wird, da ein Großteil der Filmproduktion wie der Zuseherschaft sich jenseits aller kritischen Möglichkeiten nur mit den "unterhaltenden" Aspekten des Films befasst.

Wer in einen kommerziellen Film geht, sei es "Star Wars" (George Lucas, USA 1977 bis 2005) oder "Der Herr der Ringe" (Peter Jackson, USA/Neuseeland 2001 bis 2003), lässt sich zwei Stunden oder länger unterhalten und verlässt das Kino im Bewusstsein, dass das, was er eben gesehen hat, nichts mit dem alltäglichen Leben zu tun hat. Der kommerzielle Film erhebt keinen primären Erziehungs- oder Bildungsanspruch und zielt auch nicht in erster Linie auf die Vermittlung ethischer Werthaltungen. Es gibt nur ein unausgesprochenes Übereinkommen, das besagt, dass eine Infragestellung westlichen Lebensstils mit seiner absoluten Freiheit des Besitzens und Konsumierens nicht ratsam - weil nicht verkaufsfördernd - ist. Filmen wie diesen kann Haneke nichts abgewinnen: nicht nur, weil er seine filmästhetischen Ansprüche in ihnen nicht wiedererkennen kann, sondern auch und vor allem, weil sie das Establishment repräsentieren - sie sind ein Bestandteil des Systems, das den gesellschaftlichen Status Quo einzementiert.

"Ein gutes Beispiel ist der Film 'Air Force One' [Wolfgang Petersen, USA 1997]: Gerade ein deutscher Regisseur, der wissen müsste, was man mit Manipulation alles anrichten kann, dreht einen Film, der zwar offiziell als Unterhaltung läuft, aber tatsächlich ein politischer Propagandafilm ist. Durch seinen Unterhaltungscharakter bleibt das aber unbemerkt; das Publikum findet den Film spannend und toll und hinterfragt die Botschaft des Filmes nicht mehr" (Haneke, Bemerkungen, 265).


Keine Ästhetik der Überrumpelung

Nicht einmal "Antigewalt-" oder "Antikriegsfilme" wie "Full Metal Jacket" (Stanley Kubrick, USA 1987) oder "Natural Born Killers" (Oliver Stone, USA 1994) würden demnach das tun, was sie vorgeben: die inhärente Sinnlosigkeit von individueller oder systemischer Gewalt darstellen. Die explizite Darstellung des Gewaltaktes als ästhetische Inszenierung, in aller Farbenpracht und allem Pathos des Tötungsvorganges, vermittelt im Gegenteil ein "schönes" (sprich unterhaltsames) Bild von etwas, an dem nichts Schönes ist: einem Gewaltakt.

Haneke betont wiederholt, dass es unmöglich sei, einen wirksamen Film über ein Problem mit genau den Mitteln des Problems zu machen: "Es ist schlicht nicht möglich, einen Film über Faschismus mit faschistischen Mitteln, hauptsächlich Überrumpelung, zu machen; möglich ist nur, die Reflexionsmöglichkeit des Zusehers zu nähren" (Haneke, Bemerkungen, 267). Unter "Überrumpelung" versteht Haneke aber genau dies: eine Bildästhetik und eine Handlungsstruktur, die dazu angetan sind, das Publikum durch Unterhaltungswert zu fesseln und dadurch von den schwerwiegenden grundlegenden Problemen, die letztlich gesellschaftlicher Natur sind, abzulenken.

Ein Beispiel dafür mag der durchaus unterhaltsame Streifen "Jäger des verlorenen Schatzes" (Steven Spielberg, USA 1981) bieten: Im Lauf des Filmes werden gezählte 118 Personen erschossen, erstochen, erschlagen, überrollt, in Abgründe gestürzt, aufgespießt usw. Aber all diese Tode sind so großartig inszeniert, dass sie lediglich unterhaltsam wahrgenommen werden.

Noch radikaler, weil vorgeblich mit moralischem Impetus, ist ein Opus wie "King of New York" (Abel Ferrara, USA 1990) zu betrachten: In einer Sequenz überfallen Polizeibeamte, weil sie nicht im Besitz ausreichender Beweise für eine Verhaftung sind, eine Zusammenkunft der Gang des Frank White, der nach außen hin wohltätiger Bürger, tatsächlich aber der "King" der New Yorker Drogenszene ist: Nachdem die Zuseher durch die Schilderung der Rahmenumstände auf die Aktion eingestimmt wurden, kommt es zu einem klassischen Shoot-out in bester Westernmanier, in dem - technisch und ästhetisch schön und anspruchsvoll - Dutzende Menschen zu Tode kommen, was alles als spannend und unterhaltsam empfunden und daher immer wieder genussvoll angesehen wird. Genau dies kritisiert Haneke ausdrücklich und - durch seine Filme, die einen radikalen Gegenentwurf darstellen - implizit.


Wie gewalttätig sind die Filme?

Man hat Michael Haneke selbst wiederholt zum Vorwurf gemacht, dass seine Filme gewalttätig seien. Sie sind es insofern, als die gezeigte Gewalt nur schwer auszuhalten ist. Kaum jemand schafft es, etwa "Funny Games" durchgehend zu ertragen, weil der Regisseur die Technik des Verbergens der Gewalt perfektioniert hat. Anstatt den Akt des Verletzens, Erniedrigens, Quälens und Tötens zu zeigen, lenkt er den Blick des Zusehers unbarmherzig auf das Opfer oder spart den Vorgang optisch völlig aus: Aus dem Off hören wir in "Bennys Video" das gurgelnde Ächzen des Mädchens, das vom Schlachtschussapparat schwer verletzt wurde, während im Bild nur zu sehen ist, wie Benny mit fliegenden Händen nachlädt; aus dem Off hören wir die entsetzlichen Schmerzensschreie des Familienvaters, dem einer der beiden unheimlichen Jugendlichen in den "Funny Games" das Messer in den Körper stößt, während im Bild das entsetzte Gesicht seiner Frau zu sehen ist. Gewalt selbst ist für Haneke undarstellbar, außer anhand des Leidens der Opfer.

Damit verbunden ist natürlich auch eine bestimmte Sicht des Zusammenhanges von Medien- und Gesellschaftskultur. In einer wohl stellenweise sehr komprimierten Sicht konstatiert Haneke, dass das Zeigen unterhaltsamer Gewalt auch die Akzeptanz und Toleranz von Gewalt, körperlicher wie seelischer, in der Gesellschaft fördere. Wenn Medienprodukte, so sein Tenor, die Millionen von Menschen sehen und diese prägen, Gewalt, bestimmte wirtschaftliche Zusammenhänge oder bestimmte politische Ausrichtungen tolerieren oder gar befürworten, dann wird in einem hohen Prozentsatz genau diese Befürwortung nicht ohne Wirkung bleiben und Spuren hinterlassen.


Haneke traut dem Film einiges zu

Ganz so einfach ist es freilich nicht. Zahlreiche Medientheoretiker und -soziologen diskutieren seit Marshall McLuhan auch konträre Thesen zu den gesellschaftsrelevanten Auswirkungen von Medienprodukten. Allerdings gibt der reale Anstieg der Gewaltbereitschaft in der mitteleuropäischen Wohlstandsgesellschaft zu denken; und die Zusammenhänge von gewaltverherrlichenden Computerspielen und realen Gewaltakten sind nur schwer von der Hand zu weisen.


Man sieht: Hanekes Gesellschafts- und Medienbild ist sehr divergent. Während er einerseits eine pessimistische Grundhaltung einnimmt, der gemäß die politische und gesellschaftliche Entwicklung der saturierten westeuropäischen und nordamerikanischen Welt alles andere als ideal ist, ja letztlich den Menschen immer weiter von sich selbst entfremdet - was nicht zuletzt medienbedingt ist - traut er doch dem eigenen Medium Film auch das Potenzial zu, diese Situation zu verbessern. "Der Film hört nicht auf der Leinwand auf, sondern in meinem Hirn" (Grabner, Der Name der Erbsünde, 16), und dabei löst er potenziell Reflexionsprozesse aus, die aufwändig und unangenehm sein können.

"Ob das als kritisches Potential ausreicht, ist allerdings die Frage" (Haneke, Bemerkungen, 265). Es ist genau diese Frage, die Haneke mit seinen Filmen immer wieder stellt, ohne Antworten zu liefern - die Antworten muss das Publikum selbst mühsam in einem Lernprozess erarbeiten. Seeßlen hat darauf hingewiesen, dass Haneke an der Befreiung der cineastischen Ästhetik aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit liegt, indem er das zu solcher Befreiung als notwendig postulierte anti-mythische, anti-psychologische und anti-melodramatische Kino macht (Seeßlen, Strukturen der Vereisung. Blick, Perspektive und Gestus in den Filmen Michael Hanekes, in: Wessely, Michael Haneke und seine Filme, 25-43, 26.42f.).

Diese Analyse Seeßlens, die in ihrer ursprünglichen Form noch auf der "Trilogie der Vergletscherung" und den "Funny Games" beruht, kann auch heute noch - zwanzig Jahre nach dem "Siebenten Kontinent" - mit unverändertem Gültigkeitsanspruch gelesen werden. Denn wenn auch die Brachialität der "nicht dargestellten Gewalt" sich inzwischen geändert hat und subtileren Mechanismen Platz einräumt, die gleichwohl nicht weniger wirksam sind als die vorherigen, ist dennoch in "Code unbekannt", "Caché", "Wolfzeit" und "Das weiße Band" Hanekes Grundaussage und seine Botschaft deutlich präsent.


Wenn er selbst es auch ablehnt, einfach eine Moral zu transportieren: moralisch sind seine Filme allemal. Die Kritik sieht das nicht durchgängig so. Der Schweizer Filmpublizist Charles Martig bringt die Einsprüche auf den Punkt: "Haneke geht mit seiner künstlerischen Motivation auf eine Extremposition: Der Zuschauer selbst wird zum Objekt der Misshandlung" (Charles Martig, Wieviel Haneke erträgt der Mensch? Pamphlet gegen das Kino des philosophisch-cineastischen Sadismus, in: Wessely, Michael Haneke und seine Filme, 391-395, 392). Der Vorwurf des Verbergens eines moralistischen Schemas hinter einem künstlerischen Gestus wiegt durchaus schwer.


Der Grat zwischen Moral und Moralisieren ist schmal

Andere reagieren auf die Herausforderung der doch erheblichen Eigenleistung, die zum Verständnis der Filme notwendig ist, mit Unverständnis. Tobias Kniebe etwa verweigert sich der Offenheit des "Weißen Bandes", sucht nach filminhärenten Antworten und ist von deren Ausfall überfordert: "Man folgt [den Handlungssträngen] gern und hofft die ganze Zeit, die vielen bösen Miniaturen mögen sich zu einem zwingenden Thema verdichten. Aber das passiert nie, und am Ende fallen die Einzelteile, die auch in der Tonalität wild zwischen Vorkriegspathos, Bierbichler-Grummelei und Rückfällen ins Psychodrama der Gegenwart schwanken, recht folgenlos auseinander" (http://www.sueddeutsche.de/kultur/789/469347/text/8/).

Dass jede mitgelieferte und vorgefertigte Antwort - und dazu gehören auch Lösungen für die filmischen Puzzles - Hanekes Offenheitsanspruch zerstören und die Universalität dieser universalen Geschichte über mögliche Ursprünge systemischer Gewalt desavouieren würde, versteht sich jedoch von selbst.


Es stellt sich auch die Frage, ob Haneke das Publikum nicht unterschätzt. Auch wenn man konzediert, dass seine Position begründet ist und viele der Kritikpunkte, die er zuletzt eher implizit formuliert, berechtigt sind: Gerade jene doch eher intellektuelle Bildungsschicht, die sich seinen Filmen stellt, ist durchaus willens und fähig, sich eigene Gedanken zu machen - gerade diesem Publikum gegenüber ist der Grat zwischen Moral und Moralisieren besonders schmal. Und diejenigen, die eigentlich das Zielpublikum für seine Botschaften schlechthin wären, werden sich anstelle von Haneke wohl weiterhin eher Quentin Tarantino, Stone oder Petersen ansehen.


So bleibt Michael Haneke auch mit seinem neuesten Film letztlich der Außenseiter, der er bleiben will. Ein Außenseiter, der nun, durch die Goldene Palme geadelt, zum Establishment der Filmkunst gehört. Man darf hoffen, dass trotz dieser Realität seine Handschrift weiterhin so unverkennbar, so polarisierend und so provozierend bleibt - einmal ganz unabhängig davon, dass Haneke aus mehreren Gründen für die theologische Arbeit interessant ist.


Denn erstens verweigert sich Haneke jeder konkreten Deutung seiner Regiearbeit. Hanekes Fragen sind genuin menschlich und gehen dem Sinnverlangen des Menschen, seinem ethischen Anspruch auch vor dem Hintergrund der Regellosigkeit und dem Verlust von haltgebenden Strukturen nach. Das Sinnverlangen des je konkreten Menschen - nicht einer abstrakten konstruierten Größe - ist jedoch letztlich ein religiöser Grundakt, auch wenn diesem Verlangen die Erfüllung verweigert wird.

Zweitens verzichtet Haneke auf jegliches Delektieren an menschlichem Leid. Es gibt wenig Filmemacher, die dies so konsequent durchhalten: Die Solidarisierung mit dem Opfer wird auf die Spitze getrieben, indem körperliche und seelische Qualen nicht auf eine Distanzierung zwischen Zuschauer und filmischer Gestalt, mithin: auf eine Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt reduziert werden können. Das Schreckliche bleibt ungeschmückt, ohne ästhetische Überhöhung, es erschreckt und evoziert buchstäblich Mitleid im Mit-Leiden des Schauenden. Die Bilder gehen auf den Sehenden mit einer zweifachen Anrede zu: Du sollst dieses Leid nicht dulden, und: Du sollst kein Leid verursachen. Seit dem Propheten Jesaia ist das Bild des zu Unrecht geschlagenen und geschundenen Menschen aus der Theologie nicht wegzudenken - auch wenn sich Haneke dagegen verwahren würde, hier jeweils den Gottesknecht zu sehen.

Außerdem geht Haneke gegen jegliche Isolation des Übels an. Die Passage, in der einer der jugendlichen Gewalttäter in "Funny Games" das Filmpublikum direkt anspricht, belegt zur Genüge: Die Trennlinie zwischen den filmischen Gestalten auf der Leinwand und den physischen Personen im Zuschauerraum ist nur eine virtuelle, der Film endet im Kopf des Zusehers und bezieht ihn ein - die Identitätsgrenzen von Protagonisten und Publikum verschwimmen. Jedermann kann jederzeit nicht nur Opfer, sondern auch Täter werden. Hanekes letzter Film "Das weiße Band" buchstabiert auch dies eindrucksvoll durch. Immerhin geht es auch hier um Schuld und Sünde, Entschuldung und Sühne.


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Christian Wessely (geb. 1965) ist ao. Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz. Er ist Leiter der Internationalen Forschungsgruppe "Film und Theologie" (www.film-und-theologie.de). Zu seinen Publikationen als Mitherausgeber gehört: Michael Haneke und seine Filme. Eine Pathologie der Konsumgesellschaft, Schüren Verlag, Marburg 2008.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2009, S. 533-538
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2009