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MEDIEN/161: Kurz vor Morgengrauen - Inszenierung von Entscheidungen (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 53/Frühjahr 2011

Kurz vor Morgengrauen

Von Martin Butler


Die Popkultur inszeniert Entscheidungen auf vielfältige Weise - ob im Film, Comic oder Computerspiel. Dabei werden Entscheidungen nicht selten zum Fluchtpunkt ethischer Grundsatzfragen.


Wenn die verängstigte junge Frau in dem verlassenen Haus kurz vor Morgengrauen langsam die knarzende Tür des alten Holzschranks öffnet, obwohl daraus eben ein äußerst bedrohliches Geräusch drang, dann wissen die ZuschauerInnen, dass sie genau die falsche Entscheidung getroffen hat. Und sie wissen auch, dass sie sich selbst in dieser Situation völlig anders verhalten hätten - denn eigentlich kann doch niemand so töricht sein und sich der Gefahr, die hinter der Tür lauert, aussetzen. Aber trotzdem - oder soll man sagen: gerade deswegen - schalten wir nicht ab, sondern verfolgen weiter, wie die junge Frau in ihr Verderben rennt, wie eine Kette unglücklicher Entscheidungen dazu führt, dass sie am Ende ihrem Schicksal nicht entrinnen kann. Wir wissen, was kommt, und erschrecken uns trotzdem: Das ist das Prinzip des Horrorfilms. Es sorgt immer aufs Neue für überhöhte Adrenalinausschüttungen, und die falschen Entscheidungen so mancher Handelnden sorgen für die gewünschte Gemütslage des Publikums.

Auch in der jüngsten Batman-Verfilmung (The Dark Knight, 2008) werden ebenso Adrenalin fördernd Entscheidungsprozesse inszeniert: Der von Heath Ledger beeindruckend beängstigend gespielte Bösewicht Joker informiert die Passagiere zweier Fährschiffe - das eine mit Zivilisten, das andere mit Strafgefangenen an Bord - getrennt voneinander davon, dass sich im Bauch beider Schiffe eine Bombe befindet. Der Zünder wird vom jeweils anderen Schiff gesteuert, und beide Schiffe explodieren um 0:00 Uhr, falls niemand vorher den roten Knopf gedrückt hat. Die Passagiere haben sich zu entscheiden: zwischen ihrem eigenen Leben und dem der anderen, zwischen "gut" und "böse". Und die Zuschauer sind dabei mitten im Geschehen und ringen, ebenso wie die fiktionalen Charaktere, um die richtige Wahl.


Entscheidungen als Handlungsmotor

Beim Erzählen einer Geschichte spielen Entscheidungen (wie z.B. die in The Dark Knight inszenierte) stets eine wichtige Rolle, und zwar nicht nur die des Autors für oder gegen ein bestimmtes Detail, einen Charakterzug des Protagonisten, ein bestimmtes Setting oder eine bestimmte Pointe, sondern ebenso die Entscheidungen auf der Ebene des Erzählten. Hier werden die Entscheidungen der Protagonisten zu handlungsgenerierenden und -strukturierenden Elementen, die die Geschichte beschleunigen, verlangsamen, Wendepunkte einleiten, die Handlung verstetigen, Erwartetes oder Unerwartetes passieren lassen und dafür sorgen, dass die Rezipient-Innen am Ball bleiben (sofern die Mischung stimmt). Spätestens seit Shakespeares Hamlet ist klar, dass auch das Hinauszögern oder das Nicht-Treffen einer Entscheidung Spannung und Dramatik erzeugen kann, denn hier wird die Handlungsunfähigkeit des Helden zum unentrinnbaren Verhängnis. Was für klassische Dramen- und Erzähltexte gilt, hat - dies machen die eingangs genannten Beispiele deutlich - auch im Bereich populärkultureller Ausdrucksformen, im Film, im Comic oder im Computerspiel etwa, seine Gültigkeit. Mit jeweils medienspezifischen Darstellungsverfahren - im Film etwa mit bestimmten Schnitttechniken oder im Comic beispielsweise mit stark kontrastiver Panelarchitektur und -kolorierung - werden hier auf verschiedenste Art und Weise Entscheidungsoptionen, -prozesse und nicht selten auch deren Konsequenzen in Szene gesetzt.


Fluchtpunkte ethischer Grundsatzfragen

Welche Funktionen - so so lässt sich nun aus kulturwissenschaftlicher Perspektive fragen - mögen diese Inszenierungen der richtigen oder falschen Wahl jenseits ihres handlungstreibenden Moments und des damit verbundenen Nervenkitzels beim Rezipienten erfüllen? Wenn man einerseits davon ausgeht, dass populärkulturelle Ausdrucksformen ein großes Publikum erreichen und daher in besonderem Maße massenwirksam sind, und man andererseits annimmt, dass sie ein hohes Identifikationspotenzial bereithalten, mit dem die Rezipienten auf unterschiedliche Weise umgehen, kann man diese Ausdrucksformen durchaus als Vermittlungsinstanzen bestimmter moralischer Standards, Wertvorstellungen und Weltsichtenverstehen, die - explizit oder implizit - Kategorien und Muster zur Deutung und Bewertung menschlichen Handelns bereitstellen und menschliches Handeln qualifizieren.

Wer, wie, wann, und unter welchen Umständen entscheidet, spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Denn im Film, im Comic oder im Computerspiel inszenierte Entscheidungen werden zu Fluchtpunkten ethischer Grundsatzfragen, deren Relevanz für die Lebenswelt der RezipientInnen zwar nicht immer unmittelbar einsichtig, aber meist deutlich spürbar ist. Mit anderen Worten: Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit kommt keiner der Rezipienten jemals auf einem Fährschiff in die Verlegenheit, per Knopfdruck über das Schicksal hunderter Personen entscheiden zu müssen. Die mit diesem filmisch inszenierten spieltheoretischen Szenario verbundenen Fragen wird allerdings jeder kennen und sich schon einmal gestellt haben. Dass ein solches Szenario tatsächlich zum Nachdenken über die Kategorien "richtig" oder "falsch" bzw. "gut" oder "böse" anzuregen vermag, davon zeugen z.B. lange Einträge und Debatten in Internetforen.

Die Kommunikation ethischer Fragestellungen mithilfe der Inszenierung von Entscheidungen kann über eine rezipierende Anteilnahme und Aneignung hinausgehen - dann nämlich, wenn populärkulturelle Praktiken beispielsweise durch die Interaktionen zwischen virtuellen Welten und menschlichen AkteurInnen gekennzeichnet sind. So lassen neue Computerspiele die SpielerInnen nicht nur über ein Kontingent zu beschreitender Wege, zu öffnender Türen und zu bedienender Waffen entscheiden, sondern sie bieten ihnen auch ein frei gestaltbares Terrain, eine "Open World", in der sie sich jenseits ihrer eigentlichen Mission "austoben" können. Das im letzten Jahr erschienene Spiel Red Dead Redemption beispielsweise konnte zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung nicht nur durch eine bestechend realistische Darstellung von Zeit und Raum, sondern auch durch eine auf Entscheidungen des Spielers dynamisch und flexibel reagierende virtuelle Spielwelt beeindrucken; außerdem kann man dieses Spiel sowohl als "guter" wie auch als "böser" Protagonist bestreiten. Durch die Wahl einer dieser Varianten ändert sich die Story zwar nicht, aber man genießt bestimmte Vor- und Nachteile, die unter Umständen den Spielverlauf bestimmen, und sammelt moralische Kreditpunkte. Diese Entscheidungen und ihre Auswirkungen spielen sich - ebenso wie im Film - natürlich auch nur auf virtueller bzw. fiktionaler Ebene ab. Dennoch wird den SpielerInnen vor Augen geführt, wie weitreichend Entscheidungen sein können. Eine Reihe von Internetforen, in denen darüber diskutiert wird, ob bzw. wie sich der Tod eines der Spielcharaktere wohl verhindern ließe, oder ob das für das Erfüllen einer Mission unnötige Töten virtueller Unschuldiger zu rechtfertigen sei, belegen jedenfalls, dass die im Spiel getroffenen Entscheidungen durchaus Anlass zum Nachdenken über ethische Fragen geben können.


Die "richtige" Wahl

Ein anderer "Ort" der populären Kultur, an dem Entscheidungen nicht bloß Thema sind, sondern zentraler Dreh- und Angelpunkt, fast möchte man sagen: die Legitimation und Grundlage des Formats bilden, sind die in zahlreichen Variationen existierenden Casting-Shows. In ihnen wird die Entscheidung einer Jury gegen die Entscheidung des Publikums aufgewogen. Wenn Deutschland also wieder den Superstar sucht, dann geschieht das in einer quasipartizipatorischen Form, die dem Publikum - so scheint es zumindest - die Macht der Entscheidung zurückgibt. Wenn man genau hinsieht, haben die Zuschauer oder Leser diese Macht allerdings nie wirklich verloren. Sie machen nämlich immer dann von ihr Gebrauch, wenn sie sich populärkulturelle Produkte aneignen, d.h. wenn sie sie - je nach soziokulturellem Hintergrund, Alter, Geschlecht und/oder politischer Einstellung auf höchst individuelle Art und Weise in ihre Lebenswirklichkeit integrieren. Soll heißen: So massenkompatibel populärkulturelle Ausdrucksformen auch sein mögen, "verwendet" werden sie doch immer in ganz individuellen Sinnzusammenhängen und Lebenssituationen: Jeder entscheidet schließlich für sich, was er wann und wo wie verstehen möchte. In diesen höchst individuellen Praktiken der Aneignung liegt das nicht zu unterschätzende kritisch-emanzipatorische Potenzial populärkultureller Inhalte und Formen, das sich vielfältig nutzen lässt - man muss eben sich nur dazu entscheiden.

Entscheidungen, so lässt sich festhalten, spielen in verschiedenen popkulturellen Ausdrucksformen also immer eine zentrale Rolle. Dies betrifft nicht nur die Erzählung und ihre Struktur. Entscheidungen sind ebenso konstitutiv für den Prozess des Zuschauens, Lesens oder Hörens populärkultureller Texte. Dabei liegt es an den Rezipienten, sich als kritische "Nutzer" zu positionieren und bei den kulturellen Aneignungsprozessen die "richtige" Wahl zu treffen.


Der Autor

Dr. Martin Butler ist seit 2010 Juniorprofessor für "Amerikanistik: Literatur und Kultur" an der Universität Oldenburg. Er studierte Englisch und Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen, wo er im Jahr 2007 promovierte und anschließend als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Unterstützung für sein Promotionsvorhaben erhielt er durch das "Internationale Promotionsprogramm Literatur- und Kulturwissenschaft" am Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften. Forschungs- und Gastaufenthalte führten ihn nach New York (USA), Joensuu (Finnland) und Nijmegen (Niederlande). Ausgezeichnet wurde Butler u.a. mit dem Lehrpreis der Universität Duisburg-Essen (2009). Gefördert wurde er auch durch ein Woody Guthrie Research Fellowship (2009). Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Populärkultur sowie die Literatur- und Kulturtheorie.


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Quelle:
Einblicke Nr. 53, 26. Jahrgang, Frühjahr 2011, Seite 7-11
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Presse & Kommunikation:
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Einblicke erscheint zweimal im Jahr und informiert
eine breite Öffentlichkeit über die Forschung der
Universität Oldenburg.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2011