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MEDIEN/169: Im Land der Cinephoben (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2013

Ein Land der Cinephoben

von David Leuenberger



Die Synchronisation fremdsprachiger Filme ist in Deutschland eine Selbstverständlichkeit, während in vielen anderen Ländern zumeist Originalfassungen mit Untertiteln laufen (OmU). Diese deutsche Eigenheit ist auch ein Symptom für ein allgemein gestörtes Verhältnis der Deutschen zur Kunstform Film. Das nachträgliche Schneiden von Filmen ist ein weiteres.


Is that really your idea of how to run a "newspaper?" - "I don't know how to run a newspaper, Mr. Thatcher. I just try everything I can think of." Diese Dialogzeile in Citizen Kane ist die treffendste allegorische Zusammenfassung dessen, worum es eigentlich in Orson Welles' damals umstrittenem und heute gefeiertem Debütfilm von 1941 geht: um das Medium Film und um dessen unbegrenzte Ausdrucksmöglichkeiten als Kunstform.

Als westdeutsche Zuschauer Citizen Kane 1962 erstmals im Kino sehen durften, sahen sie aufgrund der Synchronisation freilich einen anderen Film: Die komplette Original-Tonspur war entfernt und durch eine neue ersetzt worden. Damit verloren nicht nur die Schauspieler ihre stimmlichen Eigentümlichkeiten. Vielmehr büßte das Werk auch gleich noch seine ausgetüftelte Musikdramaturgie und sein komplexes Sounddesign ein.

50 Jahre später erscheint dies irrelevant. Nicht nur die DVD mit ihren Sprach-Optionen, sondern ebenso' die Möglichkeiten des Internets erlauben auch deutschen Cinephilen, Welles' Meisterwerk in der integralen Fassung zu sehen. Und doch zeigte im Spätsommer 2012 ein TV-Sender Citizen Kane in der Synchronfassung von 1962. Wenige Monate zuvor hatte ein Programmkino in Thüringen eine 35-Millimeter-Kopie derselben gezeigt - ironischerweise als Auftakt zu einer Reihe namens "35 mm-Kino", deren erklärtes cinephiles Ziel darin bestand, die Tradition der analogen Filmprojektion lebendig zu halten.

"Citizen Kane" ist nun über 70 Jahre alt, doch seine Rezeptionsgeschichte in Deutschland zeigt nur die "Spitze des Eisbergs" einer ganzen Reihe von Problemen, die das "Land der Dichter und Denker" mit dem Medium Film an sich hat. Die Synchronisation fremdsprachiger Filme gilt hierzulande für viele als ein selbstverständlicher oder gar vorbildlicher cinematografischer Rezeptionsvorgang, sorgt jedoch bei den britischen, niederländischen, und dänischen Zuschauern für amüsiertes oder wahlweise entsetztes Kopfschütteln. Die zahllosen Schwierigkeiten, die eine solche Form der Übersetzung verursacht, liegen auf der Hand.


Interkulturelle Verdummung durch Synchronisation

Nicht nur verlieren alle Schauspieler ihre Originalstimme. Subtilitäten wie dialektale Einfärbungen gehen ersatzlos verloren. Mehrsprachige Filme, die implizit Sprachbarrieren thematisieren, werden vollkommen in ihrem Sinn entstellt, während bei älteren Filmen aufgrund technischer Schwierigkeiten oft der ganze Ton ausgewechselt wird. Zu allem Überfluss gesellt sich noch der Eigensinn der Filmverleihe und Synchronstudios hinzu: Die Grenzen zwischen bewusster Synchron-Zensur des Dialogs, willkürlichen Sinnveränderungen und groben Übersetzungsfehlern sind hierbei fließend.

Die Folge ist nicht zuletzt eine interkulturelle Verdummung vieler Zuschauer. Die Sichtung originaler Sprachfassungen von Filmen hat nämlich nicht den Zweck, dass man viele Sprachen lernt, sondern dass man viele Sprachen hört. Das ist ein Teufelskreis: Wer im Fernsehen, im Kino und auf Video-Medien immer Menschen aus der ganzen Welt perfektes Hochdeutsch sprechen hört, ist oft nicht bereit, andere Sprachen zu hören. Und wer für originalsprachige Filme kein Interesse aufbringen kann, wird sich kaum daran stören, wie stark die Interventionen von Filmverleih und Synchronstudio ein Werk in seiner künstlerischen Integrität beschädigt haben. Das Erschreckende ist nicht, dass es vielen Zuschauern nicht bewusst wäre: Vielen ist es schlicht und ergreifend egal.

Dass es mittlerweile potenziell eine Horizonterweiterung durch DVD und Internet geben könnte und ein gewisser Grundmarkt für Originalfassungen auch in Deutschland existiert, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwa Kinogänger in Städten mit weniger als 500.000 Einwohnern eine Situation wie in den 60er Jahren vorfinden und dass so mancher Film nur mit einer Synchronfassung seine DVD-Veröffentlichung erlebt.

Wer regelmäßig in Deutschland Fernsehen schaut, blickt zugleich immer auch in ein kulturhistorisches Archiv der Film-Verachtung. Das betrifft nicht zuletzt das bis heute verbreitete Schneiden von Filmen unter dem Deckmantel des Jugendschutzes: Ein Problem, das sich gerade im Fernsehen selbst reproduziert und über das man sich erst im Zeitalter des Internets mittels solcher Websites wie die "Schnittberichte" informieren kann.

Die Kürzungen treffen dabei nicht nur klassische Reiz-Bereiche wie die Darstellung von Gewalt und Sexualität, sondern auch Anspielungen auf die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands. Noch im 21. Jahrhundert finden sich Filmverleihe, die in ihren aktuellen Werken Spuren des Nationalsozialismus kürzen (oder durch Synchronisation verfälschen).

Gerade auch jene Schnitte müssen empören, die noch nicht einmal dem moralischen Zensur-Aktivismus geschuldet sind: Wenn etwa einfache Handlungsstränge und Dialoge geschnitten werden. Das sind Kürzungen, deren scheinbar völlige Irrationalität sich wohl nur in Anlehnung an Jan Philipp Reemtsmas Konzept der autotelischen Gewalt (die sich hier nicht gegen menschliche Körper, sondern gegen belichtetes Zelluloid richtet) erklären lässt: Filmverleihe und Fernsehen in Deutschland schneiden Filme, weil sie die Macht dazu haben!

Der Einwand, dass es sich "nur" um Horrorfilme handele, ist hanebüchen. Denn viele Schnitte werden von den Filmverleihen getätigt, um bei den FSK-Einstufungen die Grenzbereiche auszuloten. Damit wollen sie ihre Filme zielgruppenoptimierter vermarkten. Außerdem erscheint es paradox, dass ausgerechnet das Horrorfilm-Pionierland ein so anspruchsvolles Genre so gering schätzt. Von US-amerikanischen Zombiefilmen und italienischen "Gialli" (einem italienischen Subgenre des Thrillers) der 70er Jahre bis zu den aktuelleren Werken der "New French Extremity" landen in Deutschland unzählige Filme auf dem Index, im Giftschrank der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) oder auf dem Schneidetisch der Filmverleihe - Filme, die in der restlichen Welt als künstlerisch hochanspruchsvoll und diskussionswürdig gelten und gar in Cinematheken vorgeführt werden.

Sicherlich kann man einwenden, dass nicht alle Filme der Welt hochwertige Kunst sind. Als Argument für das Schneiden wäre dies freilich lächerlich. Schließlich sollten in einer demokratischen Gesellschaft Filmkritiker, Filmhistoriker und Zuschauer selbst über die Qualität von Filmen debattieren, und zwar ohne, dass ein Werk zuvor zu Tode synchronisiert und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden ist. Dass eine solche Diskussion in Deutschland nicht gerade leicht gemacht wird, sagt viel über die hiesige Film-(Un)Kultur aus.


Instrumentalisierung des Films

Auffallend ist, dass hierzulande Filmen mehrheitlich ein instrumenteller Charakter zugeschrieben wird: Sie sollen uns was "lehren", sie sollen eine "Moral haben", sie sollen "unterhalten". Filme sollen allen Zuschauerwünschen gefällig sein, vom Zuschauer am besten jedoch nichts verlangen ... außer natürlich dem Eintrittsgeld an der Kinokasse.

Gerade die Debatte um die TV-Ausstrahlung von Steven Spielbergs Schindlers Liste von 1993 zeigt, wie Filme in Deutschland instrumentell, aber nicht als Kunstwerke wahrgenommen werden. An und für sich ist es löblich, dass dieser Film stets ohne Werbeunterbrechungen gezeigt wird. Doch weder wurde diskutiert, ob er in der englischen Originalsprache gezeigt werden sollte - die gerade aus deutscher Perspektive zu einem hochinteressanten Verfremdungseffekt führt - noch, ob generell Werbeunterbrechungen Filmen gegenüber respektlos seien. Spielbergs Werk wurde damit in den ehrenvollen Rang eines symbolischen, geschichtspolitischen Statements erhoben. Als cinematografisches Kunstwerk wurde es nicht im Geringsten ernst genommen.

Damit ist er keineswegs allein. Hierzulande wird Film als eigenständige Kunstform nicht wertgeschätzt. So vermessen es nach fast 70 Jahren klingen mag: Gerade im Bereich der Filmkultur sollte man das nationalsozialistische "Erbe" nicht unterschätzen. 1933 und 1934 wurden schließlich zahllose der fähigsten deutschen Regisseure, Produzenten, Schauspieler, Drehbuchautoren, Kameramänner und Setdesigner vertrieben. Filmkritik als intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Medium wurde verboten und das nationalsozialistische Regime setzte ganz auf "Unterhaltungsfilme" - in ungleich größerem Maße als auf offene Propagandafilme. Diese "Unterhaltungsfilme" waren politisch in dem Sinne, als dass sie im bewussten Gegensatz zu den "Kunstfilmen" der 20er Jahre die Ideologie des "Films als reine Unterhaltung" propagierten und die Vorstellung von "Film als Kunst" (Rudolf Arnheim) auslöschten.

Die französischen Nachbarn haben hier ein anderes Erbe: eine Tradition sozialkritischen Kunstkinos in den 30er Jahren - auch unter Beteiligung deutscher Emigranten - und seit den 40er und 50er Jahren eine Tradition der intellektuellen Filmkritik, die das Medium Film als Kunstform wahrgenommen und gewürdigt hat. Hier ist zwar die Tendenz, Filme durchzusynchronisieren, fast so stark wie in Deutschland. Doch es ist kein Zufall, dass im Abendprogramm des staatlichen Fernsehens Filme, die man hierzulande kaum ohne Schnitte je zu Gesicht bekommt, ungekürzt gezeigt werden.

Weder DVD noch Internet konnten in Deutschland einen bedeutenden Mentalitätswandel einleiten. Warum sonst wundem oder beschweren sich so viele Zuschauer auf Online-Kommentarseiten darüber, dass der deutsche Ton der DVD eines ehemals gekürzten und nun integralen Films zwischendurch kurz in den Originalton wechselt? Weil ihnen die geschnittene und durchsynchronisierte Fassung des Films vielleicht doch besser gefallen hat? Wer wird daran je etwas ändern können?


David Leuenberger (*1986) hat Osteuropäische Geschichte, Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in Jena studiert. Er schreibt beim interkulturellen Magazin unique und beim Filmmagazin Das Manifest und ist Mitherausgeber der Zeitschrift Ostblicke.
david.leuenberger@web.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2013, S. 77 - 79
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2013