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MEDIEN/172: Kosmopolitisches Kino (Spektrum - Uni Bayreuth)


Spektrum 1/2015 - Universität Bayreuth

Kosmopolitisches Kino
Film, Kunst und Politik im Zeitalter der Globalisierung

Von Matthias Christen und Kathrin Rothemund


Wie können moderne Gesellschaften den vielfältigen Herausforderungen begegnen, die die fortschreitende Modernisierung mit sich bringt? Wie können sie die Risiken in den Griff bekommen, die immer weniger einzelne Staaten und Weltgegenden betreffen? Wie können sie die Möglichkeiten der Begegnung und des Austausches meistern, die Migrationsbewegungen oftmals unfreiwillig schaffen, und wie die Chancen nutzen, die eine weltumspannende Zirkulation von Gütern, Ideen und Kapitalströmen begleiten, ohne den Gefahren zu erliegen, die die Globalisierung mit sich führt? Ist eine Kulturen und Nationen umspannende, "weltbürgerliche" Gemeinschaft die passende Antwort auf die Kollektivierung der Risiken und Herausforderungen? Ist eine kosmopolitische Weltgemeinschaft überhaupt denkbar, und wenn ja, was hält sie zusammen? Diese gesellschaftspolitisch hochbrisanten Fragen sind bislang vorrangig in der Philosophie, der Rechts- und Sozialwissenschaft verhandelt worden. Mit Kwame Anthony Appiahs Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers (2006), Ulrich Becks Schriften zur Risikogesellschaft und Globalisierung sowie Seyla Benhabibs Another Cosmopolitanism (2006) liegen Arbeiten vor, die sich mit der Frage der sozialen und juristischen (Re-)Organisation von Gesellschaften angesichts der Globalisierung beschäftigen.(1)

Das Bayreuther Forschungsprojekt "Cosmopolitan Cinema" unter der Leitung von Prof. Dr. Matthias Christen und Dr. Kathrin Rothemund nimmt diese Anregungen aus der Sozialphilosophie auf, um sie für die Medienwissenschaft fruchtbar zu machen. Es begreift die genannten Fragen als ästhetisch-politische und untersucht sie am Beispiel audiovisueller Medien. Zum einen ist das Kino als Kunst des 20. Jahrhunderts von Anfang an eine transnationale Größe, da es in der Phase des Stummfilms, die bis Ende der 1920er Jahre anhält, nicht an nationalsprachlich begrenzte Räume gebunden ist. Zum anderen greifen Filme - so die These - die Idee einer kosmopolitischen Weltgesellschaft auf und formen sie aus, indem sie im Rahmen von Erzählungen Welt- und Gesellschaftsmodelle entwerfen.


Globalisierte Kinokultur in der "Zweiten Moderne"

International erfolgreiche Produktionen wie Babel (F/USA/MEX 2006, R: Alejandro González Iñárritu), In this World (GB 2002, R: Michael Winterbottom) oder Le Havre (FIN/F/D, R: Aki Kaurismäki) sind zentrale Beispiele für eine globalisierte, kosmopolitische Kinokultur, in denen Fragen des In-der-Welt-Seins filmisch ausgehandelt werden. So spinnt Babel ein dichtes Netz an Figurenbeziehungen über mehrere Kontinente hinweg: Der Schuss aus einem Jagdgewehr, das ein japanischer Geschäftsmann seinem marokkanischen Helfer überlässt, hat Auswirkungen, die bis nach Nordamerika reichen. Während in Babel mit Cate Blanchett und Brad Pitt Weltstars die Hauptrolle spielen, folgt Michael Winterbottom zwei afghanischen Flüchtlingsjungen auf ihrer Odyssee von Pakistan bis nach Europa. Im Film In this World überschreiten dabei nicht nur die Protagonisten nationale und kulturelle Grenzen - ähnlich wie auch in Dorothee Wenners Film DramaConsult (D 2013), in dem nigerianische Kleinunternehmer begleitet von Business Consultants in Deutschland auf der Suche nach Investoren sind. Beide Filme pendeln zudem zwischen dokumentarischen und fiktionalen Formen des Erzählens.

Grenzen aller Art - regionale, kulturelle, staatliche, mediale -, Häfen, Flughäfen, Gebirge und Küsten sind für die Erzähllandschaft des kosmopolitischen Kinos Orte von gesteigerter Bedeutung: Hier kommen die Migrationsbewegungen von Figuren vorübergehend oder dauerhaft zum Stillstand, hier entscheidet sich, wer passieren darf und wer nicht. An den Grenzen entstehen aber auch vorübergehend neue, provisorische Formen von Gemeinschaft: In Le Havre erfährt ein afrikanischer Junge auf der Durchreise nach London die Solidarität einer Gruppe älterer Bewohner der Hafenstadt. In Welcome (F 2009, R: Philippe Lioret) hilft ein Schwimmlehrer einem kurdischen Jungen beim Versuch, von Calais nach Großbritannien zu schwimmen. Grenzen und Grenzbereiche sind daher bevorzugte Orte des kosmopolitischen Kinos, an denen Filme die Auseinandersetzung um Fragen der kulturellen Identität und sozio-ökonomischer Machtstrukturen führen und spielerisch neue, utopische Gesellschaftsformen erproben.

Für die Analyse des kosmopolitischen Kinos und seiner Welt- und Gesellschaftsentwürfe ist die "Zweite Moderne" ein Schlüsselkonzept. Der Begriff wird in den Sozial- und Geisteswissenschaften - bei Ulrich Beck, Arjun Appadurai und Oliver Fahle - gleichermaßen verwendet und erlaubt daher eine Brücke zwischen beiden zu schlagen. Ulrich Beck versteht darunter eine notwendige zweite Phase der gesellschaftlichen Modernisierung, die sich selbstreflexiv und kritisch mit den zunehmend bedrohlichen Folgelasten auseinandersetzt, die die "Erste Moderne" im Zuge der Industrialisierung, des Nationalismus und der wirtschaftlichen Globalisierung mit sich bringt (Naturkatastrophen, Finanzkrisen, Terrorismus). "Kosmopolitismus" im Sinne Becks meint in diesem Zusammenhang ein Handeln, das geprägt ist vom Gedanken einer globalen Verantwortung und der gegenseitigen Rücksichtnahme angesichts einer zunehmenden Verflechtung und wechselseitigen Abhängigkeit über nationale und kulturelle Grenzen hinweg. In der Film- und Medienwissenschaft bezieht sich der Begriff der "Zweiten Moderne" zwar nicht auf realweltliche Krisenerfahrungen, sondern auf bild- und erzähltheoretische Verschiebungen. Er bezeichnet aber auch hier selbstreflexive Rückwendung auf die Geschichte. Als Bindeglied erlaubt er so, kosmopolitische Tendenzen der Gegenwart auf ältere gesellschaftspolitische und künstlerische Bewegungen zurückzubeziehen und gleichzeitig ästhetische und politische Fragen zusammenzudenken. Mehr noch: Das Medium Film wird selbst zum kosmopolitischen Akteur einer "Zweiten Moderne", die sich in kritischer Absicht mit der "Ersten Moderne" auseinandersetzt.

Um diese Entwicklungen genauer zu verstehen und begrifflich zu fassen, veranstaltete die Professur für Medienwissenschaft im April 2014 eine internationale Tagung unter dem Titel "Cosmopolitan Cinema - Arts and Politics in the Second Modernity". Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen aus Großbritannien, der Schweiz, der Türkei und Deutschland. Unterschiedliche Disziplinen waren vertreten: Soziologie, Geschichts-, Literatur-, Theater-, Kunst-, Film- und Medienwissenschaft sowie - als neueste Entwicklung - die Game Studies. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Universitätsverein Bayreuth haben das interdisziplinäre Zusammentreffen gefördert.


Kosmopolitismus zwischen Tradition und Utopie

Die Idee eines cosmopolitan cinema erwies sich dabei als ebenso kontrovers wie produktiv: Der Begriff des Kosmopolitismus ruft zum einen eine lange Tradition auf, in der westliche Staaten im Namen angeblich universaler Werte rücksichtslos ihre kolonialen Partikularinteressen verfolgten. Die Vorstellung, dass er einige wenige auf Kosten der Vielen privilegiere, lebt in der Kritik des Kosmopolitismus als Bonusprogramm für betuchte Vielflieger fort und findet beispielsweise in David Cronenbergs Cosmopolis (CA/F/PT/I 2012) seine filmische Aktualisierung. Der Film zeigt den jungen Milliardär Eric Packer (gespielt von Robert Pattinson) in seiner gepanzerten Limousine auf dem Weg durch Manhattan zum Frisör. Auf dieser Fahrt wird der Finanzmanager mit einer Antikapitalismus-Demonstration und einer folgenreichen Fehlspekulation konfrontiert. Der Versuch Packers, sich in der Limousine von der Welt physisch abzugrenzen und mit ihr nur digital in Kontakt zu treten, erweist sich am Ende des Films bei der Begegnung mit seinem mutmaßlichen Mörder als nicht durchführbar.

Gleichzeitig ist jedoch der Kosmopolit, der sich in einer globalisierten Welt zwischen Nationen, Märkten und Identitäten wie selbstverständlich bewegt, in den letzten Jahren auch zu einer Schlüsselfigur zeitgenössischer Identitätsbildung und kritischer Selbstverständigung avanciert. Der Kosmopolitismus dient in diesem Zusammenhang als Inbegriff einer neuen Haltung zu transnationalen Verflechtungen sowie zu Geld- und Menschenströmen zwischen Kontinenten und Nationen. Gegenüber den Nationalstaaten rücken so einzelne Akteure, die moralisch und politisch der Idee einer Weltgesellschaft verpflichtet sind und im Bewusstsein der notwendigen Akzeptanz Anderer agieren, ins Zentrum der kulturpolitischen Debatte. In der Vorstellung einer Bewegung auf eine Weltgesellschaft hin, die aus gleichberechtigten und selbstbestimmten Bürgern unterschiedlichster Herkunft besteht, schwingt eine utopische Haltung mit, die historisch auf die Aufklärung zurückgeht und in Zeiten der Internationalisierung und Globalisierung ein Gegenangebot zu vorherrschenden hegemonialen Strukturen der Realpolitik macht. Dem Kosmopolitismus eignet insofern ein utopisches, zukunftsweisenden Element, auf das Filme zurückgreifen, um losgelöst von den realpolitischen Bindungen Gesellschaftsmodelle durchzuspielen. Das erlaubt, sie jenseits bloßer Widerspiegelungen als eine Form der philosophischen Auseinandersetzung mit der Welt ernst zu nehmen.


Transnationale Lebensformen - im Film und darüber hinaus

Aus den Debatten, die im Rahmen der Tagung geführt wurden, haben sich eine Reihe von Fragen ergeben, die seither im Zentrum der laufenden Forschungsarbeiten stehen. Insbesondere ist zu klären, wie sich das utopische Potential, das den Begriff des Kosmopolitismus für ein sich als sozialer Modellentwurf verstehendes Kino attraktiv macht, in Bezug zur historisch problematischen Tradition universalistischer Rechts- und Gesellschaftsentwürfe setzen lässt.

Auch hat sich als Folge der Tagung erwiesen, dass das Moment der Gesellschaftsbildung, das für das im Bayreuther Forschungsvorhaben vertretene Verständnis des Kosmopolitismus zentral ist, über die ästhetische Sphäre der Erzählung und der filmischen Form hinaus trägt und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Biographien von Filmschaffenden berührt. Denn Filme werden nicht nur in Form transnationaler Produktionsverbünde hergestellt; auch ihre Distribution und Rezeption führt über nationale Grenzen hinweg zur Bildung neuer, wenn auch nicht dauerhafter Gesellschaftsformen. Dies geschieht beispielsweise im Rahmen von internationalen Filmfestivals wie der Berlinale oder aber auch in legalen und illegalen Online-Tauschbörsen von Cinephilen, weshalb Roman Lobato von einem großen Schattenmarkt der Filmwirtschaft spricht. Zugleich bewegen sich Regisseure wie Alejandro González Iñárritu scheinbar grenzenlos zwischen Nationalkinematographien - z.B. mit seinem Film Amores Perros (MX 2000) - und Hollywood-Produktionen wie zuletzt Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance) (USA 2014). Und Stars wie Angelina Jolie avancieren zu weltpolitischen Akteuren, die ihre Bekanntheit nicht nur für humanitäre Hilfe als UN-Sondergesandte nutzen, sondern diese ebenso - wenn auch zum Teil auf umstrittene Art und Weise - für lokale Filmproduktionen wie den äthiopischen Spielfilm Difret (ET 2014) einsetzen, bei dem Jolie als Executive Producer mitwirkte.


Wissenschaftliche Impulse

Im laufenden Jahr werden erste Ergebnisse der Bayreuther Projektarbeit veröffentlicht. Ein umfangreicher Forschungsbericht erscheint im Mai 2015 in montage AV - einer Zeitschrift, die sich auf die Theorie und Geschichte audiovisueller Medien spezialisiert hat. Zudem ist ein Sammelband in Vorbereitung, der die Ergebnisse der internationalen Tagung vorstellt und um neue Beiträge erweitert. Darin wird das Thema "Kosmopolitisches Kino" erstmals in einer deutschsprachigen Publikation umfassend bearbeitet. Eine englischsprachige Monographie soll das Forschungsprojekt abschließen und zugleich der internationalen Diskussion neue Anstöße vermitteln.


(1) Kwame Anthony Appiah: Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers. New York, 2006 (deutsch: Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums. München 2007); Seyla Benhabib: Another Cosmopolitanism. New York 2007 (deutsch: Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte. Frankfurt am Main 2008); Ulrich Beck: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt am Main 2004 (mit Edgar Grande) und Ulrich Beck: Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt am Main 2004. u.a.


AUTOREN

Prof. Dr. Matthias Christen hat eine Professur für Medienwissenschaft an der Universität Bayreuth inne.

Dr. Kathrin Rothemund ist Habilitandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bayreuth.


Literaturhinweise

- Kwame Anthony Appiah:
Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums. München 2007.

- Ulrich Beck:
Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne. Frankfurt am Main 2004 (mit Edgar Grande).

- Ulrich Beck:
Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt am Main 2004.

- Oliver Fahle:
Bilder der Zweiten Moderne. Weimar 2005.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Bildunterschriften von im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation

Abb.  : Poster der internationalen Konferenz über "Kosmopolitisches Kino" auf dem Bayreuther Campus

Abb. 1: Standbild aus dem Film DramaConsult (D 2013) der deutschen Regisseurin Dorothee Wenner. Im Bild oben bespricht sich der nigerianische Autoteilehändler Sam Aniama mit seinem Berater Jude Fejokwu vor einem Treffen mit deutschen Investoren in Hamburg.

Abb. 2: Das Bild zeigt Dorothee Wenner und ihren Kameramann Bernd Meiners sowie einen der Protagonisten des Films, den Immobilien-Mann Dolapo Ajyayi, bei Dreharbeiten in Nigeria

Der Film Drama Consult ist über Video on demand zugänglich unter:
https://www.realeyz.tv/de/dramaconsult.html

Abb. 3: Arjun Appadurai, Professor für Anthropologie in New York, befasst sich mit grundlegenden Fragen der Globalisierung und der Modernität. 2015 ist er Gast an der Bayreuth Academy of Advanced African Studies der Universität Bayreuth

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 1 - Juni 2015, Seite 42-25
Herausgeber: Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Telefon: 0921/55-53 56, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de
 
Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2015

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