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STANDPUNKT/008: Warum wir die Intelligenz zu wichtig nehmen (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7+8/2011

Das Maß aller Dinge?
Warum wir die Intelligenz zu wichtig nehmen

Von Martin Tschechne


Den Begriff Intelligenz umgibt noch immer ein Mythos. Sie ist ein Konglomerat wichtiger Fähigkeiten, aber sie umfasst nur einen Ausschnitt aus dem, was einer braucht, um sich erfolgreich mit seiner Umgebung auseinander zu setzen. Und sie stößt an ihre Grenzen da, wo etwa Anpassung und Routine wichtiger sind als rationales Denken, wo Kultur oder Tradition eine Entfaltung individueller Fähigkeiten blockiert oder wo ganz einfach der Zufall die Regie übernimmt.


Wahrscheinlich wäre einfach gar nichts geschehen.Wahrscheinlich hätte die empirische Wissenschaft weiterhin ihre Fragebögen ausgeteilt und Punktwerte berechnet, und niemand hätte sich etwas dabei gedacht - hätte nicht im vergangenen Jahr der Gesellschaftskritiker und Zukunfts-Skeptiker Thilo Sarrazin mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab diese Steilvorlage gegeben. Auf einen Schlag war das Land voller Fachleute. Fast wie beim Fußball. Jeder wusste eine Meinung beizusteuern, jeder kannte sich aus; Talkshows und Expertenrunden hatten ihr Thema, die politischen Feuilletons in den Zeitungen freuten sich über die saftige Kontroverse. Sie zog sich bis ins Frühjahr, bis zur Debatte, ob der Mann für seine Partei, die SPD, noch tragbar sei. Wieder gab es Sondersendungen, wieder erhitzten sich die Experten. Und auch Sarrazin bekam seinen Anteil: Kein Buch des Jahres 2010 wurde so eifrig diskutiert wie seines. Und keines hat sich auch nur annähernd so gut verkauft. Vielleicht hat auch diese Seite der Geschichte schon etwas mit Intelligenz zu tun.

Der Gegenstand der Auseinandersetzung selbst, das Konzept der Intelligenz, wurde gewendet und beklopft, von Kritikern zum Abschuss freigegeben, von Kapazitäten verteidigt. Der Marburger Psychologe Detlef Rost reiste von Vortrag zu Vortrag und genoss es: Endlich einmal erfahre seine Disziplin die ihr gebührende Aufmerksamkeit, sagte der Intelligenzforscher und nahm Sarrazin publikumswirksam in Schutz. Und zwar in der FAZ: Der Artikel war so lang und ging so ins Detail, dass er auf die nächste Seite überlief: Fachlich sei an den Prämissen des psychologischen Laien nichts Wesentliches auszusetzen. Und gleich gingen die Debatten in die nächsten Runden. Warum nur erregt das Thema so sehr die Gemüter?


Eine gewisse Ekligkeit

Das synthetische Konstrukt Intelligenz hat in den gut 100 Jahren seiner Existenz eine erstaunliche Karriere gemacht: vom wissenschaftlichen Hilfsmittel zur Kardinaltugend unserer Kultur. Nur eine gut strukturierte Formation von Fakten und Fertigkeiten, sprich: nur Intelligenz garantiert das Überleben in einer Leistungsgesellschaft, deren Ordnungsprinzip die Rationalität ist. Zumindest wollen wir das so glauben - denn längst ist erwiesen, dass es a) mit der aufgeklärten Vernunft als Grundprinzip des Gemeinwesens so weit nicht her ist, und dass b) zum Erfolg im Leben ganz andere Dinge oft ebenso wichtig sind wie diese eher kühle Fähigkeit zur Orientierung: ein gutes Gespür für Menschen etwa. Die Bereitschaft, sich anzustrengen. Sich in ein soziales Gefüge zu integrieren. Manchmal braucht es zum Erfolg den Mut, sich zu unterscheiden, Konventionen in Frage zu stellen, kreativ zu sein. Und manchmal auch diese gewisse "Ekligkeit", wie sie der Trainer des FC St. Pauli nach einer Heimniederlage von seinen Spielern forderte.

Für die so genannte "Sarrazin-Debatte" um die Förderbarkeit von kulturellen, ethnischen oder religiösen Minderheiten ließe sich daraus herleiten: den Ball flach halten! Wenn Intelligenz wirklich eine hinreichende Voraussetzung für Erfolg im Leben wäre, dann wären die großen Dichter und Denker, die Erfinder und die politischen Gestalter versammelt im Mensa-Club der Super-Hirne. Sind sie aber nicht. Stattdessen sitzen dort ein paar Leute mit eindrucksvollen Intelligenz-Werten - die ansonsten aber ganz erstaunlich nah beim Durchschnitt liegen: Sie treffen sich zu Stammtischen und Mitgliederversammlungen und vertreiben sich die Zeit mit Rätselspielen.

Personalchefs und Bildungsplaner wissen das. Keiner unter ihnen, der bei Sinnen ist, würde sich allein auf einen Intelligenzquotienten verlassen, wenn es darum geht, den richtigen Kandidaten für ein Amt oder einen Ausbildungsplatz zu ermitteln. Intelligenz ist die Bezeichnung für eine keineswegs verbindlich festgelegte Menge von Fähigkeiten, und IQ-Punkte sollte man sich nicht als kleine weiße Kügelchen vorstellen, die irgendwo im Gehirn herumkullern.


Wie misst man Intelligenz?

Intelligenz ist ein pragmatisch definiertes Konstrukt. Es bezeichnet ein Abstraktionsniveau in der Diskussion unter Wissenschaftlern, nicht aber einen real existierenden Kontinent, der nur noch darauf wartet, dass ein Entdecker seinen Fuß auf ihn setzt. Der Begriff "Intelligenz" ist hilfreich, wo die Forschung etwa den generellen Erfolg von Förderprogrammen diskutiert, von Sprachkursen, Integrationsklassen oder Musikunterricht in der Vorschule - doch Vorsicht ist geboten, wo er zum Maß aller Dinge verallgemeinert wird: Wer den Intelligenzquotienten als Schicksalszahl verwendet, an der allein sich Wohl und Wehe einer ganzen Biografie entscheidet, der handelt verantwortungslos.

Ausgangspunkt ist immer die Beobachtung von konkretem Verhalten. So begann es schon bei Alfred Binet, einem Psychologen von der Sorbonne in Paris, der in den 1880er Jahren an seinen Töchtern Madeleine und Alice beobachtete, wie sie sich ihre Welt Schritt für Schritt eroberten: vom Grabschen zum Begreifen, vom konkreten Apfel zum abstrakten Obst. Vom erlebten Augenblick zu Aussagen und Regeln, die über Ort und Zeit hinaus Geltung haben. "Intelligenz" kommt vom lateinischen "intellegere" - einsehen, verstehen, etwas kapieren. Genau darum ging es Binet: um das Lernen selbst. Darum, wie sich Gesehenes, Gehörtes, Gelesenes ansammelt, wie es strukturiert und organisiert wird. Aber dann erlebte der begeisterte Vater in einem Pariser Waisenhaus, wie solche Fähigkeiten dort eben nicht wachsen und aufblühen, wo ihnen der Nährboden fehlt.

Sie müssen ihn sehr bedrückt haben, diese Beobachtungen an Kindern, denen jede Chance vorenthalten wurde, so etwas wie Neugier zu entwickeln, Sprache zu hören, Reaktion auf ihr Verhalten zu erfahren und selber zu reagieren. Binet wollte diesen Kindern helfen. Aber dazu musste er wissen, wo diese Hilfe ansetzen könnte. Auf welchem Abstraktionsniveau bei ihrem Annäherungsprozess an die Welt die Waisenkinder verlassen worden waren. So entstand der erste Intelligenztest: Binet fragte nach der Bedeutung von Wörtern, ließ Gegenstände einander zuordnen oder Zahlen aus dem Gedächtnis wiedergeben.

Heute, gut 100 Jahre später, sind die Tests raffiniert ausgearbeitet, sie umfassen komplexe Aufgaben, an die der Pionier in seinem Pariser Waisenhaus niemals gedacht hätte. Sie sind normiert und geben genaue Auskunft darüber, wo einer im Vergleich zu allen anderen steht. Und sie können unterscheiden zwischen einer Vielzahl von Fähigkeiten - der eine mag Regeln erkennen und lange Zahlenketten fortsetzen, der andere hat ein Gespür für sprachliche Nuancen, ein Dritter kann genau sagen, wie ein Würfel von rechts aussehen muss, dessen linke Seite er zu sehen bekommt. Alles gehört zur Intelligenz. Aber nur deshalb, weil Generationen von Intelligenzforschern in ihren Debatten es so beschlossen haben. In anderen Kulturkreisen und sogar in anderen Lebenslagen kann sich effektives Denkvermögen in ganz anderen Leistungen äußern. Der Professor zeigt Intelligenz, wenn er aus dem großen Fundus seines Wissens die richtigen Schlüsse zieht. Das Straßenkind in einem Slum, wenn es sich im rechten Moment aus dem Staub macht.


Das beste Programm ist die Schule

Haarspaltereien? Sie sind unumgänglich da, wo fröhlich argumentiert wird, Intelligenz sei ein konkretes Material und als solches zu 60 oder 80% genetisch bedingt. Und wo daraus politische Forderungen hergeleitet werden: 80%? Wozu also für einen Rest von gerade mal 20% Aufwand treiben? Wozu Schulen ausbauen, die Ausbildung von Lehrern verbessern, kleinere Klassen bilden oder spezielle Förderprogramme entwickeln?

Vorsicht, sagt da die Wissenschaft: Die Sache verhält sich wesentlich komplizierter. Viel zu kompliziert für Stammtische. Es geht um Varianzanteile des Merkmals Intelligenz in Populationen. Statistik für Fortgeschrittene. Solche Anteile müssen zusammen genommen 100% ergeben. Wo aber die Umweltbedingungen für alle sehr ähnlich sind, lassen sich mit ihnen keine Unterschiede in der Intelligenz erklären; ihr Wert geht gegen Null - also muss der Faktor Anlage eine vergleichsweise größere Rolle spielen. Statistisch gesehen. Eine Aussage über die Biologie des Erbguts ist damit noch lange nicht getroffen. Weil das so kompliziert ist und so emotional aufgeladen, macht etwa der Psychologe Detlef Rost die Feinheiten gern in einem Vergleich deutlich: Viel stärker noch als Intelligenz (und obendrein ganz unwidersprochen) beruhe die Körpergröße auf genetischen Einflussfaktoren. Trotzdem könne jeder sehen, dass nachwachsende Generationen immer größer werden. Weil nämlich die scheinbar so unbedeutenden Umwelteinflüsse - Ernährung, Schulsport, gesundheitsbewusstes Leben - eine eminent wichtige Rolle für das Wachstum spielen.

Und wer von hier den kleinen Schritt hinüber zum Konstrukt der Intelligenz schafft, der kommt auch nicht mehr auf die Idee, etwa an Bildung und Förderung sparen zu wollen. Ganz im Gegenteil: Eine gute und leistungsfähige Schule, das bestätigt jeder Forscher, ist das beste Programm zur Förderung der Intelligenz.


Martin Tschechne (* 1954) ist Journalist und lebt in Hamburg. 2010 erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern (bei Ellert & Richter), der den Intelligenzquotienten IQ erfunden hat.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7+8/2011, S. 92-95
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2011