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SPRACHE/454: Sprachen im Wandel (Portal Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 1-3/2007

Sprachen im Wandel
Regionale Varianz und neue Standards

Von Joachim Gessinger, Institut für Germanistik


Wer mit dem ICE durch Deutschland fährt, macht häufig zugleich eine Sprachreise. Die periodisch wechselnden Zugbegleiter bieten sich für alle möglichen Dienstleistungen ausgesprochen "gern" an - und liefern freiwillig oder unfreiwillig auch einen sprachlichen Ausweis ihrer regionalen Herkunft. Ihre Sprache bewegt sich irgendwo zwischen Dialekt und gesprochenem Standarddeutsch.


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Was uns hier entgegentönt, sind Merkmale, die es auch linguistisch ungeschulten Hörerinnen und Hörern erlaubt, Sprecher ohne Schwierigkeit als Hessen, Bayern, Schwaben, Sachsen, Rheinländer oder Berliner zu verorten. Diese phonetischen und lexikalischen Abweichungen vom gesprochenen Standard sind auffällige, saliente Kennzeichen von regionalen Varietäten der Sprechsprache. Als Regionalakzent gelten sie dann, wenn sie von den Sprechern schwer aufgegeben werden können. Dieser Regionalakzent markiert also regionale Umgangssprachen und damit ein für das deutsche Sprachgebiet relativ neues Phänomen, das sich im Verlauf des Abbaus von Dialekten, der Orientierung an der Schriftsprache und der zunehmenden medialen Verbreitung des sprechsprachlichen Standards gebildet hat.

Dieser Prozess lässt sich auch in Brandenburg gut beobachten. Bildete hier - mit Ausnahme des Südens - noch bis ins 20. Jahrhundert hinein Plattdeutsch die dialektale Basis alltagssprachlicher Kommunikation, so ist heute nur noch ein mehr oder weniger stark berlinisch geprägtes Hochdeutsch zu hören. Vor allem für die jüngeren Sprecher unter 30 Jahren gilt, so eines der Ergebnisse unserer Untersuchung Mitte der 90er Jahre, Berlinisch als "Dialekt" und hat zugleich die Funktion einer regionalen Umgangssprache. Mit der zunehmenden Marginalisierung des Plattdeutschen in Brandenburg sind also weder regionale Markiertheit noch ein Bewusstsein der Differenz zum gesprochenen Standard gleich mit verschwunden. Aber an die Stelle des "alten" Gegensatzes Plattdeutsch-Hochdeutsch ist ein viel komplexeres Varietätenspektrum getreten, das sich zwischen berlinisch geprägter Regionalsprache und standardnahem Sprechen aufspannt. Dabei ist die Auswahl und der Umfang von standardsprachlichen und Berlinisch- Markierungen, also die jeweilige Sprachlage, unter anderem auch situationsabhängig. Im vertrauten Gespräch verwenden wir eine andere Sprachlage als in formelleren Kontexten oder beim Vorlesen geschriebener Texte. Gerade mit Blick auf die situative Dimension zeigen sich Unterschiede zu süddeutschen Regionen. Wer dem ehemaligen Außenminister Kinkel oder dem Fussballtrainer Klinsmann zugehört hat, hat ein Schwäbisch vernommen, das nicht - wie die Eigenwerbung behauptet - nur aus dem vergeblichen Bemühen, hochdeutsch zu sprechen, resultiert, sondern zugleich an einer regionalen Zielnorm orientiert ist, einem mit Prestige ausgestatteten Regionalstandard. So hören wir in Fernsehinterviews Äußerungen wie "Dies ischt jetz au nicht mein Ding". Diese regionalen Varianten unterscheiden sich deutlich von allgemein verbreiteten umgangssprachlichen Merkmalen wie in "Kannste auch mal nich'n Fosten treffn".

Regionalakzente, situativ gebundene Sprachlagen und Regionalstandards sind mit der klassischen Dialektologie weder theoretisch noch methodisch zu fassen und nicht auf Sprachkarten durch Isoglossen darzustellen. Der seit einigen Jahren begonnene Paradigmenwechsel zur Neuen Dialektologie verbindet Fragestellungen und Theoreme der Dialektologie mit jenen der Sprachwandelforschung, Soziolinguistik und Gesprächsanalyse und bedient sich Verfahren von Ethnomethodologie, Sozial- und Kognitionspsychologie. Hinzu kommen vor allem methodisch relevante Aspekte, die mit der Gewinnung und Interpretation von Sprachdaten in diesem Feld verbunden sind: Perceptual dialectology und Ethnodialektologie befassen sich mit der Wahrnehmung, Konzeptualisierung und Darstellung sprachlicher Varianz durch linguistisch nicht geschulte Sprecherinnen und Sprecher, also zum Beispiel mit der mentalen Kartierung von Sprachräumen (mental maps). Damit ist die Untersuchung gegenwärtiger Sprachverhältnisse mehr denn je zu einem interdisziplinären Forschungsfeld geworden.


Joachim Gessinger ist Professor für Geschichte der deutschen Sprache an der Uni Potsdam.

(Mehr zur Mitte der 90er Jahre durchgeführten Untersuchung zur Umgangssprache in Brandenburg finden Interessierte unter
http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2005/144/.)


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 1-3/2007, Seite 15
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2007