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SPRACHE/569: Sprachevolution - Mensch, du alte Plaudertasche (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 10/2008
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Mensch, du alte Plaudertasche

Von Jan Dönges


Sprache entstand nicht als Vehikel für den Wissensaustausch, sondern weil unsere Vorfahren damit am effektivsten soziale Beziehungen pflegen konnten. Das glauben immer mehr Forscher - und rütteln so an einem alten Dogma.



Auf einen Blick

Plaudereien der Vorzeit

1. Einer klassischen Theorie zufolge diente die Sprache schon dem Urmenschen zur Informationsweitergabe, zum Beispiel bei der Koordination der Jagd.

2. Dazu taugt allerdings nur eine voll ausgereifte Sprache; Zwischenstufen wären nutzlos und somit ohne evolutionären Vorteil.

3. Viele Forscher vermuten deshalb, dass die Sprache zunächst vor allem soziale Bindungen stärkte. Diese Funktion einer »Ammensprache« erfüllen noch heute Klatsch und Tratsch.


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Als unsere Vorfahren einst die Sprache erfanden, dürften sie eines gleich mit geschaffen haben: die peinliche Gesprächspause, jenen quälenden Moment unangebrachter Stille. Da sitzen sie ums Feuer, zwei Eiszeitjäger, unterwegs auf einem Beutezug, haben den mitgebrachten Proviant gerade verzehrt - und finden, es wäre dringend angebracht, etwas zu sagen. Doch keiner weiß so recht, was. Also wird geplappert.

Zigtausend Jahre später das gleiche Bild: Was bringt uns dazu, bei so vielen Gelegenheiten lieber Nichtigkeiten von uns zu geben, anstatt tatsächlich Relevantes zu besprechen - oder eben nichts zu sagen? Das großartige Werkzeug der Sprache, unsere Wunderwaffe zum Austausch von Gedanken und Informationen - missbraucht für leeres Palaver? Irrtum, glauben viele Sprachforscher, die in der sozialen Beziehungspflege den eigentlichen Sinn und Zweck unseres Sprachtalents erblicken.

Das fast körperliche Unbehagen, das uns Momente der Sprachlosigkeit bereiten, zeigt, wie tief in uns das Bedürfnis wurzelt, zu reden, zu plaudern, zu grüßen oder sich anderweitig mitzuteilen. Wer sich darauf einlässt, gibt einen vertrauensvollen Einblick in seine Gemütsverfassung; wer schweigt, verursacht dagegen Unsicherheit. Immer mehr Forscher sehen in diesem sozialen Austausch die eigentliche Funktion der Sprache - und damit den lange gesuchten Schlüssel zu ihrem Ursprung.

Denn sollte die Gabe der Rede tatsächlich zuallererst der Beziehungspflege dienen, dann war dies womöglich auch der Grund, warum die Vorfahren des heutigen Homo sapiens überhaupt zur Sprache fanden. Diese neue Theorie stellt die klassische Lehrmeinung schlicht auf den Kopf, wonach Sprache dem Urmenschen vornehmlich half, seine Werkzeugkultur weiterzugeben oder die Großwildjagd zu organisieren.

Die Anthropologin Dean Falk von der Florida State University rückte als eine der Ersten die soziale Funktion der Sprache in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses - und trieb damit manchen Kollegen die Zornesröte ins Gesicht. Die veränderte Lebensweise der Urmenschen, welche der aufrechte Gang mit sich brachte, gab Falk zufolge den Anstoß zur Sprachentwicklung. Als »Walkie-Talkie-Evolution« bezeichnen Wissenschaftler scherzhaft diese Theorie.

Falk nahm dabei auf einen rund zweieinhalb Millionen Jahre alten Nebeneffekt der Zweibeinigkeit Bezug: Die Kinder von Homo habilis, einem der ersten Vertreter der Gattung Homo, kamen früher und unreifer zur Welt, weil das schmaler werdenden Becken der Mütter immer weniger Platz ließ für den Kopf des Nachwuchses. Die spärlichere Körperbehaarung entzog den Kleinen zusätzlich die Möglichkeit, sich am Fell ihrer Mutter festzuhalten. Folge: Die Babys mussten getragen werden.

»Mit einem Säugling im Arm lässt sich aber weder gut klettern noch lassen sich besonders leicht Blätter abzupfen«, spekuliert Falk. Mütter, die ihre Hände frei bekommen wollten, mussten ihre Säuglinge folglich von Zeit zu Zeit ablegen - unter dem lautstarken Protest der Zurückgelassenen. Nur, wie mildert man den Stress der Kleinen oder gewinnt ihre Aufmerksamkeit, ohne unmittelbar physisch anwesend zu sein? Falks Antwort: durch gutes Zureden! Und so habe die Sprache ihren Anfang genommen.


Mamas mit Sprachtalent

Diese Ammensprache zur Besänftigung von Kindern besitzt tatsächlich überall auf der Welt ähnliche Eigenschaften: eine hohe Stimmlage, melodisches Intonieren und stark akzentuiertes Sprechen ebenso wie übertriebene Mimik und Gestik. Erst später, als die Mutter-Kind-Kommunikation bereits etabliert war, hätten auch ältere Kinder und Erwachsene von der Sprache Gebrauch gemacht. Statt der Übermittlung von Informationen sei dabei aber stets die ursprüngliche Funktion maßgebend geblieben: das Aufrechterhalten sozialer Bindungen.

Sollte also ausgerechnet das »Gutschi-Gutschi-Gu« - für viele der Inbegriff der Sprachverrohung - den Startschuss zur verbalen Kommunikation gegeben haben? Zur Verteidigung ihrer Theorie führt Falk besonders zwei Argumente an: Erstens seien Homo-habilis-Mütter, die ihre Kinder auch auf weite Entfernung beruhigen konnten, gegenüber ihren Artgenossen im Vorteil gewesen. Die Kommunikationsbedürfnisse der restlichen Horde hingegen unterschieden sich auch bei dieser Menschenart vermutlich nicht von denen der Affen. Es fehlte daher schlicht der nötige Selektionsdruck.

Zweitens handele es sich bei der Ammensprache mitnichten um einen kindgerechten Minimalkode - sie schaffe vielmehr erst die Voraussetzungen zum Spracherwerb, so Falk. Ohne sie würden Kinder ihr Leben lang sprachlos bleiben. Linguistische Studien haben gezeigt: Fehlt dem Nachwuchs ein entsprechend prononcierter, emotional aufgeladener Input, sind sie nicht in der Lage, aus dem Lautstrom ihrer Eltern die entscheidenden Einheiten herauszufiltern. Erst der charakteristische Singsang macht das Kind aufnahmebereit für verbale Reize.

Eine ganze Flut kritischer Kommentare löste Falks Veröffentlichung ihrer Theorie im Jahr 2004 aus. Einige Anthropologen trauten dem Homo habilis - der vor allem für grobe Geröllwerkzeuge bekannt ist - zum Beispiel durchaus zu, eine funktionierende Babytragevorrichtung ersonnen zu haben. Andere verwiesen auf die von Falk unbeantwortete Frage, wie die Sprachevolution weiter verlaufen sei: Wie sollte sich aus der frühmenschlichen Mutter-Kind-Kommunikation das differenzierte System lautlicher Symbole entwickelt haben?

Und überhaupt! »Wo bleibt bei alldem die Grammatik?«, fragten vor allem Linguisten. Falks Theorie, hieß es, werde der Komplexität der Sprache schlicht nicht gerecht. Ein tiefer ideologischer Graben zieht sich quer durch die Forschergemeinde. Was die einen, wie die Anthropologin Falk, eher hintanstellen, rückt die von Sprachwissenschaftlern dominierte Gegenfraktion in den Mittelpunkt: Satzbau, Wortbildung und die Fähigkeit, willkürlich gewählte Lautketten mit einer Bedeutung zu verknüpfen. Dies sei das eigentliche Rätsel der Sprache, bekräftigt auch Derek Bickerton, emeritierter Sprachforscher von der University of Hawaii.

Als Minimalkonsens gilt, dass vermutlich erst der moderne Homo sapiens in der Lage war, Sätze mit einer ausgereiften syntaktischen Struktur zu bilden. Irgendwann vor vielleicht 200 000 oder auch erst vor 50 000 Jahren könnte es zu diesem letzten entscheidenden Entwicklungsschritt gekommen sein - ablesbar an der explosionsartigen Zunahme kultureller und technologischer Erfindungen.

Erst eine differenzierte Grammatik habe es demnach erlaubt, immer neue Gedanken zu formulieren und diese mitzuteilen. Neandertaler oder Homo erectus behielten dagegen über Hunderttausende von Jahren die gleichen Werkzeugformen bei (siehe G&G 4/2007, S. 56). Sollten sie Sprache besessen haben, dürfte sie gleichermaßen starr und unkreativ gewesen sein.

Das eigentliche Problem ist damit allerdings nicht gelöst: Wie kam es nun dazu, dass Homo sapiens irgendwann mit seiner Zungenfertigkeit auftrumpfte? Forscher wie Derek Bickerton stehen in dieser Frage in der Tradition des einflussreichen Linguisten Noam Chomsky vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge (US-Bundesstaat Massachusetts).

Dieser vertritt seit den 1950er Jahren eine Theorie, die bis heute den sprachwissenschaftlichen Mainstream dominiert: Unser grammatisches Wissen bestehe letztlich aus einem angeborenen, komplexen Regelwerk, das es uns ermögliche, jede beliebige Muttersprache zu erlernen. Nur war es schon für Chomsky schwer vorstellbar, wie die Evolution diese so genannte Universalgrammatik in die Gehirne der Menschen gepflanzt haben sollte.


Wundersame Sprachmutation

»Chomskianer lehnen stillschweigend ab, dass es einen fließenden Übergang zwischen der Kommunikation des Menschen und der unserer tierischen Vorfahren gab«, sagt Dean Falk. Im Kern seien sie antievolutionär eingestellt, »oder es läuft auf die Forderung nach einer wundersamen genetischen Mutation hinaus« - eine, die alles erklären könne, inklusive Grammatik. Ein einzelnes Grammatikgen? Das dürfte es nach derzeitigem Kenntnisstand nicht geben; und wie sollte sein Erstbesitzer auch von der neuen Fähigkeit profitiert haben, wenn ihn niemand verstand?

Auch die Vorstellung von Sprache als Werkzeug der Informationsweitergabe stößt bei Evolutionsbiologen auf Skepsis. Denn sie führe in ein Dilemma: Es bringt beispielsweise keinen Vorteil, jemandem mit einfachsten Worten die Herstellung eines Faustkeils zu erklären, wenn er ebenso gut zuschauen könnte. Diese spezielle Funktion der Sprache erweist sich erst dann als nützlich, wenn sie voll ausgereift ist. Wer sie in den Vordergrund rückt, ist also einem »saltationistischen Modell« sprunghafter Änderungen geradezu verpflichtet.


Die »Protosprache«

Dean Falk ist hingegen davon überzeugt, dass sich unsere Sprachbeherrschung schrittweise aus primitiveren Kommunikationsformen entwickelt habe. Allerdings gehen die Befürworter der Kontinuitätshypothese das Problem, wie am Ende Grammatik in den Kopf kam, optimistischer an. So spekulierte die Linguistin Alison Wray von der walisischen University of Cardiff in den letzten Jahren über einen möglichen Sprachvorläufer, eine Protosprache, die den schleichenden Übergang plausibel machen soll. Wray stellt sich das so vor: Einzelne Ausdrücke standen ursprünglich für jeweils ganze Sachverhalte (»Lass uns jagen!«, »Gib mir ein Stück Fleisch!«). Als die Menschen begannen, ähnlich klingende Lautketten zu verallgemeinern, entstanden variable Satzbaumuster (»gib X ein Y«), die nur noch mit Wörtern gefüllt werden mussten.

Damit widerspricht Wray dem klassischen Konzept eines Lexikons (»ich«, »du«, »Baum«, »Feuer«, »Hirsch«), das irgendwann auf mysteriöse Weise um ein komplexes Regelwerk à la Chomsky ergänzt worden sei. Ihre Theorie der Protosprache passt zu neueren, kognitionswissenschaftlichen Konzepten in der Linguistik sowie zu Computersimulationen, denen zufolge eine solche Musteranalyse sogar vergleichsweise simpel ist.

Aber auch Wrays Ansatz bleibt graue Theorie: Weder Wortschatz noch Satzbau hinterlassen archäologisch fassbare Spuren. Einzig die Frage, ob unsere Ahnen wenigstens prinzipiell in der Lage waren, zu sprechen, ist anhand von Fossilien zu untersuchen. So offenbart beispielsweise ein Schädelausguss von Homo habilis, dass bereits dieser frühe Vertreter der Gattung Mensch andeutungsweise ein Brocazentrum besaß - jene Hirnregion, die bei uns heutigen Menschen für die Sprachproduktion verantwortlich ist.

Möglicherweise diente das Hirnareal aber auch lediglich dazu, die Gesten der Gruppenmitglieder zu deuten. Die These, das brocasche Sprachzentrum habe ursprünglich der Kommunikation per Handzeichen gedient, weshalb das Gestikulieren am Anfang der Sprachentwicklung stehe, hat in den letzten Jahren Aufwind bekommen.

Das nötige Werkzeug für eine verständliche Artikulation brachte offenbar erst der Neandertaler-Vorfahr Homo heidelbergensis mit. Darauf deutet der Fund eines rund 800 000 Jahre alten Zungenbeins im nordspanischen Atapuerca-Gebirge hin. Leider erhält sich das fragile Knöchelchen nur äußerst selten. Ob also auch sein Vorgänger, der vor rund 1,9 Millionen Jahren entstandene Homo erectus, ein solches besaß, bleibt offen.


Plaudern statt Fellpflege?

Das häufig als »Sprachgen« titulierte FOXP2 galt Forschern zwischenzeitlich als die lang ersehnte Schlüsselmutation, die dem Menschen sein Grammatikverständnis beschert haben könnte. Doch nach allem, was man weiß, führte es wohl nicht im Alleingang zur Redegewandtheit eines Homo sapiens.

Hätten wir bei all dem nicht prinzipiell so stumm bleiben können wie die Menschenaffen? Nein, sagt der Anthropologe Robin Dunbar von der University of Liverpool. Mitte der 1990er Jahre gab er eine provozierende Antwort: »Sprache war ursprünglich nicht mehr und nicht weniger als mündliches Lausen.« Plaudern statt Fellpflege. Ursprünglich hatte der Forscher nach einer Erklärung für das rapide Hirnwachstum früher Menschenarten gesucht. Weder neue Werkzeugtechniken noch die Ernährung schienen ihm als Auslöser plausibel. »Die eigentliche Herausforderung für das Gehirn eines Primaten liegt in seiner sozialen Intelligenz«, meint Dunbar.

Zu diesem Schluss kam er, weil das Gehirnvolumen einer Primatenart umso größer ist, je mehr Artgenossen in einer Gruppe durchschnittlich zusammenleben - vermutlich eine evolutionsgeschichtliche Reaktion auf den Zuwachs an sozialen Beziehungen, die es zu überblicken gilt. Als Australopithecus und Homo habilis begannen, mehr Zeit in der offenen Savanne zu verbringen, suchten sie vermutlich Schutz in zunehmend größeren Gruppen. Folgerichtig habe ihr Gehirn anwachsen müssen.

Doch der »Kitt«, der eine Gruppe zusammenhält - das gegenseitige Lausen -, wird umso zeitaufwändiger, je mehr Mitglieder der Sozialverband zählt. Rund 20 Prozent des Tages bringen Primaten normalerweise dafür auf.

Spätestens Homo erectus, der (wie Dunbar aus der Gehirngröße berechnete) in riesigen Gruppen von bis zu 100 Individuen gelebt haben dürfte, hätte weitaus mehr Zeit für die gegenseitige Fellpflege aufwenden müssen. Damit habe sich der erfolgreiche Jäger, der sich über die halbe Welt ausbreitete, eine effektivere Methode einfallen lassen: laut Dunbar eben das vocal grooming - »verbales Lausen«.

»So konnten mehrere Artgenossen auf einen Schlag umsorgt werden«, erklärt der Forscher. »Die Hände waren frei, um gleichzeitig andere Tätigkeiten auszuführen. Und schließlich war es sogar möglich, sich über Dinge auszutauschen, die nicht unmittelbar präsent waren.«

Etwa 150 Mitglieder umfasse der natürliche Sozialverband von Homo sapiens, so schätzt der Anthropologe. »Dunbar's number«, wie sie mittlerweile genannt wird, bezeichnet in etwa die Zahl an Mitmenschen, die man »um einen Gefallen bitten würde«. Wobei diese von Individuum zu Individuum durchaus stark schwanken kann.

Ebenso verhält es sich offenbar mit einer weiteren Faustformel: Wenn die menschliche Sprache tatsächlich nur eine elaborierte Form des Lausens ist, wie viel Zeit verbringen wir eigentlich unter dem Strich damit? Dunbar studierte ethnologische Berichte über sieben verschiedene Naturvölker und errechnete, welchen Anteil der täglichen Wachzeit diese dem Musikmachen oder der Konversation widmeten. Dunbars Fazit: »Es waren fast immer rund 20 Prozent.«


Jan Dönges ist Linguist und freier Wissenschaftsjournalist in Heidelberg.

Diesen Artikel als Audio-Datei finden Sie unter:
www.gehirn-und-geist.de/audio


Literaturtipps

Falk, D.: Prelinguistic Evolution in Early Hominins: Whence Motherese?
In: Behavioral and Brain Sciences 27(4), S. 491 - 503, 2004.

Mithen, S.: The Singing Neanderthals.
Harvard University Press, Cambridge 2006.

Weitere Literaturhinweise finden Sie unter:
www.gehirn-und-geist.de/artikel/963209


ZUSATZINFORMATIONEN:

Das erste Wort - ein Fingerzeig?

1996 machte der Hirnforscher Giacomo Rizzolatti von der Universitá degli Studi di Parma eine Entdeckung, die die Theorie der Sprachentwicklung revolutionieren könnte: Spezielle Nervenzellen in der Großhirnrinde eines Makaken rührten sich jedes Mal, wenn der Affe nach einer Erdnuss griff, überraschenderweise aber auch dann, wenn das Tier die Greifbewegung lediglich beobachtete. Mit Hilfe dieser »Spiegelneurone« könnte der Affe verstehen, was sein Gegenüber vorhat. Denn der Anblick löst bei ihm intern die gleichen Hirnreaktionen aus, als wäre er selbst gerade damit beschäftigt (siehe G&G 10/2006, S. 26).

Das Interesse der Sprachforscher war geweckt. Wenn jemand die Handbewegungen seines Gegenübers nicht nur wahrnimmt, sondern auch noch richtig interpretieren kann, ist der erste Schritt zur Kommunikation bereits getan. Stand das Gestikulieren also am Anfang der Sprachevolution?

Wissenschaftler wie Michael Arbib von der University of Southern California in Los Angeles und Michael Corballis von der neuseeländischen University of Auckland vermuten genau das: Erst mit der Zeit habe eine Lautsprache die ursprünglich dominanten Handzeichen verdrängt.

Eines der überzeugendsten Argumente hierfür fand sich in der Anatomie von Affen- und Menschengehirn. Die beim Affen F5 genannte Region, welche Spiegelneurone enthält, entspricht in unserem Gehirn einem Teil des Brocazentrums, das für die Sprachproduktion verantwortlich zeichnet.

»Das war ein echter Durchbruch«, erinnert sich Corballis. »Auch die gesprochene Sprache von heute ist demzufolge fundamental gestisch.«

Der US-amerikanische Phonetiker Alvin Liberman (1917 - 2000) wies bereits in den 1960er Jahren darauf hin, dass wir möglicherweise Laute nur deshalb als isolierte Einheiten wahrnehmen können, weil wir unbewusst die Zungen- und Lippenbewegungen unseres Gegenübers erahnen. Nach seiner »Motor-Theorie der Sprachwahrnehmung« spiegeln wir beim Reden fortwährend die so genannten artikulatorischen Gesten unseres Gesprächspartners. »So wie wir oder die Affen Handzeichen verstehen, verstehen wir heute noch Sprachlaute«, glaubt auch Corballis.

Wie eine bestimmte Geste durch Übereinkunft eine fixe Bedeutung oder grammatische Funktion erhalten kann, zeigen heutige Gebärdensprachen (siehe G&G 6/2004, S. 52). Die gleichen Prozesse könnten über einen Zeitraum von Jahrtausenden unsere modernen Sprachen geformt haben.


Am Anfang war das Hmmmmm

Der britische Anthropologe Steven Mithen von der University of Reading glaubt, es habe ein kontinuierlicher Wandel von tierischer zu menschlicher Kommunikation stattgefunden. Das »Missing Link« sieht er in der Musik: Singen und Tanzen habe schon die Vorfahren von Homo sapiens zusammengeschweißt und die Gemeinschaft auf die nächste Jagd eingestimmt, schreibt Mithen in seinem 2004 erschienenen Buch »The Singing Neanderthals «. An der Musik habe sich die Evolution wie an einem Gerüst entlanghangeln können - ein plötzlicher Entwicklungssprung wäre damit nicht nötig.

Laut Mithen begann alles mit »Hmmmmm«. Dahinter verbirgt sich das Akronym für »holistisch, manipulativ, multi-modal, musikalisch, mimetisch«. Mithen postuliert »Wörter« mit komplexer Bedeutung (holistisch), die dazu dienten, andere zu einer Handlung zu bewegen (manipulativ), anstatt über etwas zu reden. Zum gesprochenen Wort gesellten sich Gesten und Mimik (multi-modal), die ihr Thema durch Nachahmung (mimetisch) vermittelten. Das Ganze wurde wohl mit musikalischen Elementen kombiniert: mal rhythmisch, mal als Sprechgesang vorgetragen und bei Bedarf um Informationshäppchen ergänzt.

Wer die einende Kraft der Musik erleben möchte, brauche nur ins Fußballstadion zu gehen, meint Mithen. Auch bei Naturvölkern zeige sich die Bedeutung von Tanz und Gesang - die emotionale Bindung zu Rhythmus und Melodie dürfte uns ebenso angeboren sein wie das Sprachvermögen.


FOXP2: Entscheidendes Sprachgen - oder doch nicht?

Eine Veröffentlichung aus dem Jahr 2001 in der Fachzeitschrift »Nature« löste unter Sprachforschern eine Welle der Begeisterung aus: Hatte man das Schlüsselgen für menschliche Grammatikbeherrschung gefunden? Anthony Monaco und seine Kollegen vom Wellcome Trust Centre for Human Genetics in Oxford hatten im Gen FORKHEAD BOX P2 eine Mutation entdeckt: Wer sie besitzt, leidet unter Grammatik- und Ausspracheschwierigkeiten. Fündig wurde man bei der in Fachkreisen berühmten Familie KE, deren Angehörige seit Generationen Sprachentwicklungsstörungen zeigen (siehe G&G 12/2006, S. 52).

In den folgenden Jahren ebbte die Begeisterung allerdings immer mehr ab. Nicht nur, dass ähnliche Versionen des Gens im ganzen Tierreich auftauchten, in gerade einmal zwei der über 700 Basenpaare unterscheidet sich unser FOXP2 von dem der Menschenaffen; in nur vier von dem der Maus.

Über die genaue Wirkung des Gens rätseln die Forscher noch. Es gilt als Transkriptionsfaktor, greift also beim Ablesen anderer Gene ein. Ist es mutiert, geraten einige der nachgelagerten Prozesse aus dem Tritt. Im Ergebnis haben die Betroffenen beispielsweise Probleme mit der korrekten Bildung von Verbformen oder können keine unbekannten Fantasiewörter nachsprechen. Eine gemeinsame Ursache für diese Ausfälle ist allerdings unbekannt. Immerhin scheint sich die Störung tatsächlich selektiv auf die Mechanismen der Sprachverarbeitung auszuwirken - ein unspezifisches Intelligenzproblem schließen die meisten Wissenschaftler aus. Aber kaum einer glaubt noch daran, dass FOXP2 allein für die Sprachbegabung von Homo sapiens verantwortlich ist.

Auf einen Zeitpunkt vor 200 000 Jahren datierten Genetiker um Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig die Abspaltung der Menschen- von der Affenvariante des Gens - just als sich der anatomisch moderne Mensch in den afrikanischen Savannen entwickelte. Der Zusammenfall der beiden Daten galt als Indiz dafür, dass die Entstehung unserer FOXP2-Version den Beginn echter Sprache markiert. Im Oktober 2007 machte allerdings eine Entdeckung desselben Teams kurzen Prozess mit dieser Theorie: Auch in Spuren alter Neandertaler-DNA war FOXP2 nachweisbar - unsere Variante wohlgemerkt. Der letzte gemeinsame Vorfahr, der vor mindestens 300 000 Jahren lebte, muss also das vermeintliche Sprachgen schon besessen haben.


Wer spricht?

Nur der Mensch ist zur Sprache fähig. Von wegen! Zwar besitzt heute allein Homo sapiens die anatomischen Voraussetzungen dafür, sinnvolle Worte und Sätze zu artikulieren, doch Sprache muss ja nicht unbedingt gesprochen werden.

In den 1960er Jahren wurde die Schimpansendame Washoe (Foto) weltberühmt, weil sie von ihren »Pflegeeltern« Allen und Beatrix Gardner die Amerikanische Gebärdensprache erlernte.

Washoe setzte die gelernten Zeichen nicht nur im Alltag sinnvoll ein, sie kombinierte sie auch neu - manchmal sogar zu Drei- und Vier-Wort-Sätzen. Vielen Forschern gilt der am 30.9.2007 gestorbene Affe als erstes nichtmenschliches Wesen, das in einer hochentwickelten Sprache kommunizieren konnte.


»Homo« wer? Eine Gattung, viele Arten

Nicht nur das Sprachvermögen unserer Ahnen ist umstritten, sondern auch die Frage, unter welchen Namen sie firmieren. So schrieb der niederländische Anthropologe Eugène Dubois (1858 - 1940), der 1891 auf der Insel Java ein etwa eine Million Jahre altes Schädelfragment entdeckte, seinen Fund dem »Pithecanthropus erectus« (»aufrechter Affenmensch«) zu. Inzwischen bezweifelt niemand mehr, dass der Javamensch zur Gattung Homo zählt.

Da zahlreiche Funde auf der ganzen Welt Dubois' Fund ähnelten, dominierte lange die Ansicht, dass Homo erectus von Afrika kommend Asien und Europa eroberte. Heutige Anthropologen sehen das differenzierter und wollen den Namen Homo erectus nur für die Hominiden von Java gelten lassen. Daher kursieren weitere Artbezeichnungen wie Homo soloensins, Homo pekinensis und Homo georgicus. Die afrikanische Homo-erectus-Variante wird heute meist als Homo ergaster bezeichnet; andere Anthropologen deuten diese Art wiederum als weltweiten Wanderer.

Vermutlich existierten über längere Zeiträume mehrere Menschenarten nebeneinander - welche Namen diese Spezies jeweils tragen, bleibt Definitionssache.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

EISZEITLICHER SMALL TALK
Verbales Lausen statt Austausch harter Fakten? - Im sozialen Miteinander liegt womöglich der wahre Ursprung der Sprache.
HAND DRAUF
Affen teilen sich bevorzugt durch Mimik und Gestik mit. Die frühen Menschen könnten es ihnen gleich getan haben.
KAUM EIN MENSCHLICHES RITUAL kommt ohne Gesang und Tanz aus - auch nicht diese Hochzeit in Tansania

© 2008 Jan Dönges, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 10/2008, Seite 23 - 28
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2008