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SPRACHE/620: "Verantwortung darf keine leere Worthülse sein" (idw)


Technische Universität Dresden - 08.05.2009

"Verantwortung darf keine leere Worthülse sein"


Der kulturwissenschaftlich orientierte Linguist Prof. Holger Kuße analysiert die Sprache von Politikern und Bankern. Er kritisiert die allgemeine Tendenz, Begriffe wie "Verantwortung" zu bloßen Marketing-Erscheinungen zu degradieren

In seiner Rede zum Regierungsantritt forderte Barack Obama den Anbruch einer "new era of responsibility", einer 'neuen Ära der Verantwortung'. "Dieser Anspruch markiert den bisherigen Karrierehöhepunkt eines in letzter Zeit inflationär gebrauchten Begriffes", sagt Holger Kuße. Der Professor für Slawische Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft, der am Institut für Slawistik der TU Dresden lehrt, analysiert die Reden von Politikern nach linguistischen Gesichtspunkten. "Der Begriff der Verantwortung", meint er, "ist spätestens mit der aktuellen Wirtschaftskrise ein zwielichtiger geworden. Politiker sollten sich dessen bewusst sein. Und Manager müssen endlich die Verantwortung übernehmen, von der sie so selbstverständlich sprechen."

Bereits im letzten Oktober, listet der Dresdner Sprachforscher auf, habe Angela Merkel gesagt, die Politik müsse "in einer sehr schwierigen Situation Verantwortung übernehmen". Im Mai 2008 hatte Horst Köhler bereits vor dem Monster der internationalen Finanzmärkte gewarnt, deren Gefährlichkeit den "verantwortlich Denkenden" der Branche längst klar geworden sei. Und natürlich dränge sich auch die Erinnerung an die vor fast fünf Jahren von Franz Müntefering geprägte Metapher der "verantwortungslosen Heuschreckenschwärme" auf, die die Realwirtschaft kaputt fressen.

Warum wurde "Verantwortung" zu einem Topschlagwort der freien Wirtschaft, auf dass nun, im Tal der Krise, politisch mit dem Vorwurf der "Verantwortungslosigkeit" oder dem Ruf nach einer "neuen Verantwortung" reagiert wird? Das erste Indiz, das Holger Kuße bei der Materialsammlung auffiel: Besonders in Westeuropa und den USA (etwas weniger in Russland) gab und gibt es kaum ein Unternehmen, das auf seiner Webseite nicht die Rubrik "Verantwortung" (unter verschiedenen Titeln) aufweist. Kuße zählt auf: "Corporate responsibility reports", "Verantwortung gegenüber den Kunden", "den Mitarbeiten", "der Umwelt", "der Gesellschaft" und manchmal auch "der Aktionäre". "Bei so viel öffentlichen Verantwortungsbekenntnissen von Cola bis Bayer und von Deutscher Bank bis Ikea ist es eigentlich erstaunlich, dass es überhaupt zu einer weltweiten Krise kommen konnte", lacht der Professor.

Der Grund ist ein semantischer, ist sich Kuße sicher: eine Verschiebung von dem, was "Verantwortung" im Allgemeinen bedeutet, hin zu einem Marketingbegriff. Ganz gleich, ob Deutsch, Englisch, Französisch oder Russisch: in "Verantwortung" steckt immer die Wurzel "Antwort". "Verantwortung haben" heißt, auf die Frage nach den Gründen, Zielen und Folgen von Handlungen Antwort geben zu können, die Handlung begründen und rechtfertigen zu können und deshalb auch für die Folgen von Handlungen gerade zu stehen. "Verantwortung" im Unternehmensmarketing erweise sich bei genauem Hinsehen dagegen als etwas ganz anderes: dort sind mit dem Begriff Handlungsabsichten gemeint, die durchaus nicht negativ sind, aber das "Antwort geben können" auf mögliche Fehlentscheidungen gerade nicht mit einschließen: Unter "Verantwortung" läuft karitatives und umweltschützerisches, manchmal auch kulturförderndes Sponsoring.

Holger Kuße gibt zu bedenken: "Wenn Banken untergehen, wenn große Firmen wie Schiesser und Märklin schließen müssen oder die Deutsche Bahn ein Datenschutz-Skandal ereilt, dann bleibt die Suche nach einem 'Verantwortlichen' fast immer ergebnislos. In der Marketingversion des Begriffs 'Verantwortung' war in den letzten Jahren gewissermaßen die 'Verantwortungslosigkeit' einzelner Personen impliziert."

Der Professor sensibilisiert seine Studenten früh für solche linguistischen Fragestellungen; viele von ihnen werden später in Unternehmen oder der Politik beratend tätig werden, vielleicht sogar Politikerreden schreiben. "Die kulturwissenschaftliche Linguistik ist zuvörderst eine beschreibende Wissenschaft - sie kann nationale und internationale Kommunikationsstrategien verstehen helfen. Und natürlich trägt dieses Wissen auch praktisch dazu bei, die zukünftige Ausrichtung eines Unternehmens oder das öffentliche Bild eines Politikers zu prägen", sagt Holger Kuße.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution143


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Technische Universität Dresden, Kim-Astrid Magister, 08.05.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2009