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SPRACHE/735: Ruhrdeutsch - nicht nur ein Thema im Kulturhauptstadt-Jahr 2010 (DFG)


forschung 4/2010 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

"Hömma! Hasse dat schon gewusst?"

Ruhrdeutsch - nicht nur ein Thema im Kulturhauptstadt-Jahr 2010:
Linguisten spüren schon lange der Umgangssprache nach, die alle Umbrüche im Revier überlebt hat. Ihre Studien sind auch eine Hommage an einen noch immer verkannten Regiolekt.

Von Dr. Rembert Unterstell


Die Forschung beginnt am Gartenzaun. In den blühenden Schrebergärten zwischen Duisburg und Dortmund, Recklinghausen und Hattingen, in den gerne zitierten Oasen der Bergmannskultur zwischen Ruhr, Emscher und Lippe. In die geharkten Kleingartenanlagen kommen 1980/81 - immer im Duo - Sprachforscher der Ruhr-Universität Bochum, um mit den Menschen über den Gartenzaun hinweg ins Gespräch zu kommen und ihre Alltagssprache in Tonbandaufnahmen festzuhalten. 30 Jahre und zahlreiche Sprachstudien später, wollen Bochumer Linguisten nun wieder in die Kleingärten ausschwärmen, um ihre sprachliche Feldforschung zum "Ruhrdeutschen" zu wiederholen, dem Wandel der gesprochenen Sprache im postindustriellen Revier auf der Spur.

Zwischen damals und heute haben die Ruhrdeutsch-Studien ans Licht gebracht, dass die Umgangssprache der schätzungsweise 5,4 Millionen Menschen im einstmals größten industriellen Ballungsraum Europas weder das von Schulmeistern bekämpfte "vermaledeite sprachliche Kauderwelsch" noch ein schnödes "Wat und Dat-Pollacken-Platt" ist, wie das hartnäckigste Vorurteil unterstellt. Stattdessen ist es, wie der Bochumer Linguist und Ruhrdeutsch-Pionier Professor Heinz H. Menge bilanziert, "eine ausdrucksstarke regionale Umgangssprache auf niederdeutscher Grundlage, die die vitalen Funktionen eines Dialekts übernimmt". Forscher sprechen von einem "Regiolekt".

Doch der Reihe nach. Die als rau, aber herzlich geltende Ruhrgebietssprache, ist immer dann im Gespräch, wenn es um fehlerhaftes und primitives Deutsch geht. Sie ist nach Einschätzung der Fachleute unter allen deutschen Regionalsprachen "die am nachhaltigsten stigmatisierte Sprachvarietät". So steht zunächst die Frage im Raum: "Ist das überhaupt eine eigenständige Sprache?" Das scheint auf den ersten Blick nicht der Fall zu sein: "auf Schalke gehen", "Komm bei die Oma", "dem Westen seine Sprache" - solche Wendungen können keine Mundart sein, sondern nur der Jargon einer bildungsfernen, von polnischen und anderen Zuwanderern geprägten Unterschicht.

Das als "Malochersprache" verlachte Ruhrdeutsche scheint, einer verbreiteten Auffassung zufolge, nicht aus einer Wurzel, sondern durch Sprachmischung im Schmelztiegel Ruhrgebiet entstanden zu sein. Heinz Menge, Mitarbeiter im ersten DFG-geförderten "Schrebergarten-Projekt", erinnert sich, dass auch Sprachforscher fixe Zuschreibungen hinter sich lassen mussten. "Das Ruhrdeutsche unvoreingenommen als Regionalsprache Ruhr zu erforschen, war etwas Neues und bedeutete, sie wirklich ernst zu nehmen. Bis dahin genossen nur die alten Dialekte wissenschaftliche Dignität."

Sprachanalyse für Sprachanalyse gehen den Forschern die Augen und Ohren auf. Unerwartete Erkenntnis: Die im Ruhrgebiet gesprochene Sprache ist weit entfernt von dem, was als typische Ruhrgebietssprache gilt, letztlich aber das Medien-Idiom "Kumpeldeutsch" ist: Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier ("Bleibense Mensch"), Elke Heidenreich als Metzgersgattin Else Stratmann ("Darf's ein bisken mehr sein?") und Ludger Stratmanns Hausmeister Jupp schufen einprägsame Kunstfiguren. Ihr komödiantisches Auftreten ist imageprägend für den "Ruhri" geworden, der im Medium der Sprache häufig zum Tölpel verzwergt wird. Eine Kostprobe? Dialog in der Gelsenkirchener Fußgängerzone: "Hömma, wo geht et denn hier nach ALDI? - Der Angesprochene: "Zu ALDI!" - Verdutzte Antwort: "Wat, is denn schon halb sieben?"

Fern der Ruhrgebiets-Comedy, dafür nah an der Sprachrealität vollzieht sich die Studienarbeit des Duisburger Germanisten Professor Arend Mihm, Grandseigneur der Ruhrdeutsch-Forschung. Etwa 50 sprachliche Merkmale, in denen das Ruhrdeutsche vom Standarddeutschen abweicht, haben Mihm und seine Mitarbeiter in verschiedenen Projekten aufgespürt, beschrieben und systematisiert - auf der lautlichen Ebene, in der Formenlehre und im Satzbau.

Zur Klangfarbe, ja "Würzigkeit" des Ruhrdeutschen tragen demnach die nicht ins Hochdeutsche verschobenen Verschlusslaute p, t und k bei (hüppen, dat, bisken), der Wegfall auslautender Konsonanten (nich(t)) sowie charakteristische Verschleifungen (hast Du > hasse; kannst Du > kannse; hör mal > hömma). Hinzu kommt die Vokalsenkung vor r (ehrlich - > ährlich). Bei der Formenbildung ist die Mehrzahlbildung mit -s bemerkenswert (die Kumpels, die Doktors). Bei der Syntax wird häufig statt des Dativs der Akkusativ benutzt ("Ich will aus dat Bett gehen"). Darüber hinaus fehlen Artikel in Präpositional-Fügungen ("Ich geh auf Arbeit") und gibt es eigentümliche Possessiv-Konstruktionen ("die Chefin ihre Rechnung"). Intensiv genutzt werden auch Verlaufsformen ("Bisse wieder Milch am trinken?"), um nur einige Beispiele zu nennen.

Besonders erstaunlich: Die Abweichungen sind charakteristisch, aber nicht spezifisch. Was schon für die angeblich ruhrdeutschen Signalwörter "wat" und "dat" gilt, trifft für viele Sprachphänomene zu. Sie sind auch in Norddeutschland und im niederdeutschen ("plattdeutschen") Sprachraum verbreitet. Selbst die Dativ- und Akkusativ-Vertauschung geht auf das Niederdeutsch der Region zurück. Mihm: "Die großräumige Verbreitung der als ruhrgebietstypisch angesehenen Sprachmerkmale weist darauf hin, dass die Vorstellung einer Sprachmischung durch Arbeitsimmigranten im Laufe der Industrialisierung nicht stimmen kann." Dazu passt die Beobachtung, dass die Einflüsse aus dem Polnischen, die sogenannten Polonismen, im Wortschatz des Ruhrraumes denkbar klein und unbedeutend sind. So greift die These, auch sprachlich sei das Revier ein Schmelztiegel gewesen, ins Leere.

Doch wie haben sich dann die sprachlichen Eigenarten entwickelt und etabliert? Für Heinz Menge steht außer Frage: "Die grammatische Variation im Ruhrdeutschen geht auf frühe niederdeutsche Einflüsse zurück." Mit der "niederdeutschen Substratthese" verbindet sich die Vorstellung, dass um 1900 an der Ruhr ein niederdeutsch geprägtes Hochdeutsch von der bürgerlichen Bevölkerung gesprochen wurde, die als "prestigeträchtige Sprache", so Menge, zur Ziel- und Verkehrssprache einer rasant wachsenden Industriearbeiterschaft wurde. Erst durch die wachsende Ausbreitung und Geltung des Hochdeutschen, befeuert von der allgemeinen Schulpflicht, sei das Ruhrdeutsche dann zu einer herabgewürdigten Komplementärsprache geworden, in ihrer kommunikativen Funktion den bodenständigen Dialekten vergleichbar.

Ein niederdeutsches Unterfutter im Ruhrdeutsch-Gewand - diese Lesart teilen die Mitglieder der Projektgruppe "Korpus der gesprochenen Sprache im Ruhrgebiet", angesiedelt an der Universität Bochum. Die Linguistin und Projektleiterin Dr. Kerstin Kucharczik berichtet, dass die vormals im "Schrebergartenprojekt" erhobenen Sprachstichproben - etwa 120 Stunden, aufgenommen in 35 Kleingartenanlagen - digitalisiert wurden, die Kurzprotokolle von einst aufgearbeitet und die Tondokumente jetzt nach neuen sprachwissenschaftlichen Transkriptionsrichtlinien phonetisch dokumentiert werden (http://ruhruni-bochum.de/kgsr). Damit soll das Sprachmaterial "für aktuelle Forschungsprojekte und für den Einsatz in der Lehre verfügbar gemacht werden" - als ein sprachhistorisches Korpus, das Kerstin Kucharczik "nach Art und Umfang für das Ruhrgebiet einmalig" nennt.

Und dabei bleibt es nicht, wenn die Projektgruppe nun - mit erprobtem Forschungsdesign, aber moderner Aufnahmetechnik - das einstige Pionierprojekt in den Gartenlauben wiederholt, um so Sprachdynamik und -wandel auch vergleichend erforschen zu können.

Die Fragen, die an das Ruhrdeutsche gestellt werden, ändern sich. Das macht das Dissertationsvorhaben von Meike Glawe sichtbar, die mit empirischen Mitteln danach fragt, wie Sprachrealität (eine Person spricht ausgeprägtes Ruhrdeutsch) und individuelle Sprachwahrnehmung ("Ich spreche reines Hochdeutsch!") im Ruhrgebiet zusammengehen. Glawe, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bielefelder Standort des DFG-Verbundprojekts "Sprachvariation in Norddeutschland" (SiN), will so "Sprachbewusstsein und -wahrnehmung der Sprecher in den Vordergrund rücken".

Dafür hat die junge Linguistin seit 2009 an fünf Erhebungsorten im östlichen Ruhrgebiet - Bochum, Dortmund, Recklinghausen, Unna und Hagen - jeweils vier Gewährspersonen gesucht, mit denen sie ein strukturiertes Leitfaden-Interview führt, ein offen angelegtes Familiengespräch aufzeichnet und einen "sprachlichen Testblock" abfragt. Alle Daten werden mit EXMARaLDA, einer im Hamburger Sonderforschungsbereich "Mehrsprachigkeit" entwickelten Transkriptionsplattform für gesprochene Sprache, erfasst und analysiert. Am Ende sollen Sprecher- und Regionalprofile stehen, die über Alltagswissen und Einstellungen zum Ruhrdeutschen Auskunft geben.

Heute ist die Umgangssprache nicht mehr primär an eine soziale Schicht (und dürftige Schulbildung) gebunden; sie wird zunehmend situationsgebunden gebraucht, meist unbewusst. Sprachforscher wie Menge und Mihm haben beobachtet, dass ein versierter und sicherer Hochdeutsch-Sprecher "sogar innerhalb eines Gesprächs zwischen der Standardsprache und der ruhrdeutschen Umgangssprache wechseln kann" - und damit verschiedene Sprachlagen bedient. Dabei wird das Ruhrdeutsche, wie Mihm unterstreicht, "durchweg als Nähesprache gebraucht". So bringt die Sprache des Reviers Vertrautheit und persönliche Zugehörigkeit zum Ausdruck und bietet ein sprachliches Zuhause. Ruhrdeutsch gibt dem Revier ein Gesicht, und dem Gesicht eine unverwechselbare Stimme.


Dr. Rembert Unterstell ist Chef vom Dienst der "forschung".


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Quelle:
forschung 4/2010 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 10-13
mit freundlicher Genehmigung des Autors
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2011