Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → FILM/VIDEO

FILMKRITIK/016: "Lucy" von Luc Besson (SB)


Lucy - wenn das Geschöpf zum Schöpfer wird





Was fängt ein Mensch damit an, wenn er plötzlich übernatürliche Fähigkeiten erlangt? Was hat er in seinem weiteren Leben vor, wenn sich seine Wahrnehmung bis in den elektromagnetischen Bereich ausdehnt, er sich an alles erinnert, was ihm von Geburt an widerfahren ist, und er sogar Materie manipulieren kann? Mehr noch, wenn er die Entstehung des Kosmos und des Lebens mitvollzieht und dem ersten Menschen begegnet? Jener ist der Anthropologie zufolge das unvollständig erhaltene Skelett eines vermutlich weiblichen Hominiden vom Typ Australopithecus afarensis, das 1974 von zwei Wissenschaftlern in Äthiopien entdeckt und Lucy genannt wurde.

"Lucy" lautet nicht zufällig auch der Titel eines actionreichen Science-fiction-Thrillers, der im August 2014 in den Kinos anlief und in dem der französische Regisseur und Drehbuchautor Luc Besson die eingangs beschriebene menschliche Transformation in Szene gesetzt hat.

Die junge Amerikanerin Lucy wird in Taipeh von einem koreanischen Gangsterboß als Drogenkurier nach Europa zwangsrekrutiert. Der operativ in ihren Unterleib implantierte Beutel mit der neuartigen Droge CPH4 platzt auf. Ein großer Teil der Substanz gelangt in den Blutkreislauf, woraufhin Lucy mehr als eine bloße Drogenerfahrung macht - ihr "Trip" ist real. Sie fühlt sämtliche physiologischen Vorgänge in ihrem Körper, kann mit irrsinniger Geschwindigkeit Informationen über zwei Laptops gleichzeitig rezipieren und gewinnt nach und nach weitere Fähigkeiten dazu.

Zur Veranschaulichung dessen bedient sich der Film der in der Populärwissenschaft angesiedelten Vorstellung, daß das menschliche Gehirn nur zehn Prozent seiner Verschaltungskapazität benutzt und ein Mensch zu höheren Leistungen fähig ist, wenn er sich weitere Hirnareale erschließt.

In einem zweiten Erzählstrang wird jene "10-Prozent-Hirnleistungsthese" von US-Professor Samuel Norman (Morgan Freeman) vor einem großem Publikum vorgetragen. Mit dieser Kapazität auf dem Gebiet der Hirnforschung nimmt die unfreiwillig neuronal "aufgewertete" Lucy Kontakt auf und erbittet seine Hilfe. Sie habe all seine Bücher gelesen, sähe seine Thesen in wesentlichen Zügen bestätigt und bewege sich auf eine Gehirnleistung von 100 Prozent zu. Sie habe nur noch einen Tag zu leben und wisse nicht, was sie mit all dem Wissen, das ihr zuteil wird, anfangen soll. Das weiß er auch nicht - was nicht wirklich überraschen kann bei einer Gehirnleistung von schlappen zehn Prozent -, aber er rät ihr, das Wissen weiterzugeben.

Lucy und der Professor verabreden sich. Sie fliegt zu ihm nach Paris. Nach einer (gefühlt endlos langen) Autohetzjagd sowohl gegen die Zeit, weil die Schurken mal wieder schneller und sprichwörtlich am Drücker sind, als auch den dichten Pariser Straßenverkehr, wobei vorzugsweise Einbahnstraßen gegen die Fahrtrichtung genommen werden, was zu gefühlten 14 bis 34 Crashs führt, und nach (ebenfalls nicht gezählten, nur gefühlten) 14 bis 34 toten Gangstern, Polizisten, Krankenhausangestellten und Zivilisten sowie einem Kuß von ihr und dem kantigen französischen Polizeiinspektor Pierre del Rio (Amr Waked) - hier spielt Besson auf seinen eigenen Film "Das fünfte Element" an -, läßt sich Lucy die zuvor von der Polizei in Berlin, Rom und Paris von anderen Drogenkurieren eingesammelten CPH4-Päckchen von Prof. Norman und einigen Forscherkollegen intravenös verabreichen.

Während die schwerbewaffneten koreanischen Gangster heranrücken und von der Polizei nur mühsam aufgehalten werden können, mutiert Lucy endgültig zum Übermenschen, macht evolutionäre und kosmische Erfahrungen und verbindet sich schließlich als schwarze, krebsartig metastasierende Masse (die man schon von zahlreichen anderen Filmen her kennt) mit einem Computer ... welche Höhe der Existenzform ein Mensch auch immer zu erklimmen vermag, er bleibt offenbar ein verschaltetes Wesen. Noch bevor sich der Schwarzschleim zu scheinbar nichts auflöst, formt sich aus ihm ein USB-Stick, den Prof. Norman an sich nimmt. Der Gangsterboß Mr. Jang (Choi Min-sik) schießt von hinten auf Lucy, doch sie ist weg. Dafür erschießt nun der Polizeiinspektor Mr. Jang, und auf dem Mobiltelefon del Rios erscheint die Antwort auf seine Frage, wo Lucy ist, die Schrift "I AM EVERYWHERE" ("Ich bin überall"). Der Film endet mit der Kameraeinstellung von oben auf den zur Strecke gebrachten Schurken und der Stimme Lucys aus dem Off: "Vor einer Milliarde Jahren wurde uns das Leben geschenkt. Macht etwas daraus!"

... und nicht so eine gequirlte Sch...., wie sie hier soeben abgegangen ist, möchte man ergänzen. Besson greift mit dieser Geschichte bewährte Versatzstücke des Science-fiction-Genres auf, das sich schon immer auf leichtfüßige Weise philosophisch komplexeren Fragen gewidmet und spielerisch in Antworten versucht hat.

Hier treibt der Eklektizismus wilde Blüten. Der Autor und Regisseur nimmt Anleihen an evolutionsgeschichtlichen, molekularbiologischen, informationstheoretischen und esoterischen Theorien, vermischt diese mit transhumanistischen Phantasien des Enhancements und erzeugt damit ein zumindest kurzweiliges, unterhaltsam anzusehendes Filmerlebnis. Witzig auch, wenn die psychopharmakologisch aufgewertete Lucy auf einem Stuhl sitzend auf den Australopithecus afarensis Lucy trifft und leicht von oben herab mit ausgestrecktem Finger den Zeigefinger jenes ersten Menschen fast berührt - eine Anspielung auf die Ikonographie Michelangelos im zentralen Bildfeld der Decke der Sixtinischen Kapelle, wo Gottvater mit ausgestrecktem Zeigefinger Adam zum Leben erweckt. Allerdings: Für was diese Lucy-zu-Lucy-Symbolik eigentlich stehen soll, läßt Besson offen. Der Poststrukturalismus läßt grüßen.

Eine zentrale Frage, auf die der rund 40 Mio. Dollar teure Film eine Antwort zu geben versucht, lautet: Ist die Menge an neuronalen Verknüpfungen im Gehirn Ausdruck einer höheren Leistungsfähigkeit und, mehr noch, schlägt Quantität irgendwann in Qualität um? Eindeutig ja, sagt dazu der Film. Wenn Lucy ihre Haarfarbe verändern, ihre Hand verdoppeln oder Bilder im Raum erscheinen lassen kann, dann wird damit gesagt, daß die Materie sich über sich selbst erhebt. Das Geschöpf wird zum Schöpfer. Mit dieser Deutung dessen, was bei einer gesteigerten Hirnaktivität passieren könnte, geht "Lucy" weiter als viele andere Filme, in denen sich höhere Hirnleistungen auf die Steigerung der rezeptiven Fähigkeiten eines Menschen, allenfalls auf die Entwicklung der Fähigkeit zur Telepathie beschränken.

So kommen wir auf unsere Eingangsfrage zurück: Was fängt ein Mensch damit an, wenn er plötzlich übernatürliche Fähigkeiten erlangt? Hier: Er gibt sein Wissen weiter. Das ist der Sinn. Die Antwort auf alle Fragen lautet nicht "42", sondern steht offenbar auf einem USB-Stick - gewiß ein nicht weniger skurriler Einfall als Douglas Adams' Antwort auf die Frage "nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest" in seinem als Fernsehserie verfilmten Science-fiction-Roman "Per Anhalter durch die Galaxis".

Handlungsimmanent inkonsequent ist die Behauptung, daß es für ein Gehirn, das schon bei etwa 40 Prozent die materiellen Voraussetzungen seiner eigenen Existenz beeinflussen, sich umstrukturieren und neu formieren kann, eine materiell an den Grad der Verknüpfung gebundene Grenze von 100 Prozent geben soll. Inkonsequent ist auch die Wissensvermittlung per USB-Stick und die zuvor aufgeworfene Frage, ob die Menschheit schon reif genug für das Wissen sei - wo doch Lucy die Transformation überstanden hat und, sozusagen von Hirn zu Hirn, mit Prof. Norman hätte eine Verbindung eingehen können, anstatt ihm einen Datenträger zu übergeben. Und warum dann nicht, wenn man schon so weit ist, das Leben, das Universum und den ganzen Rest auch noch einbeziehen, anstatt sich als vergeistigtes Wesen zurückzuziehen und, so darf vermutet werden, fortan zu beobachten, ob die Menschen schon genügend Reife entwickelt haben, um mit dem Wissen auf dem USB-Stick verantwortungsbewußt umzugehen?

Die Aufwertung zu einer Existenzform, in der das Gehirn zu 100 Prozent genutzt wird und dadurch über sich hinauswächst, erweckt den Eindruck, als handele es sich alles in allem um keinen Akt der Befreiung, sondern der fortgesetzten Entfremdung. Bereits als sie sich noch nicht zum schwarzen Krebsschleim gewandelt hat, vermochte Lucy zwar dank ihrer neuen Fähigkeiten in die Gefühls- und Erinnerungswelt anderer Menschen einzudringen, aber blieb dabei distanziert und sezierend - im besten Fall, wie bei ihrer Mitbewohnerin, dozierend, indem sie ihr im Vorübergehen medizinische Tips gibt, während sie sich schon nach einem Blitzbesuch von ihr verabschiedet.

Mit Lucys Transformation zu einem Übermenschen und der anschließenden Transzendenz zu einer geistigen Existenz wird der Versuch eines optimalen Arrangements mit den vorherrschenden Verhältnissen beschrieben. Die unterstellte Gültigkeit der Natur wird über das herkömmliche Verständnis hinaus befestigt, indem Besson das Übernatürliche den gleichen Regeln folgen läßt, wie sie der Mensch schon für das Natürliche postuliert hat. Alles ist Information, und die bleibt, in welcher Spielart auch immer, im vorgegebenen Rahmen. Eine Befreiung des Menschen von allem und jedem und dem ganzen Rest, der dann noch übrigbleibt, müßte anders aussehen, aber ließe sich vielleicht auch nicht so erfolgreich am Unterhaltungsmarkt plazieren.

Lucy (original: Lucy)
Erscheinungsjahr: 2014
Länge: 90 Minuten
Regie: Luc Besson
Drehbuch: Luc Besson
Produktion: Virginie Silla

Besetzung:
Scarlett Johansson: Lucy
Morgan Freeman: Prof. Samuel Norman
Choi Min-sik: Mr. Jang
Analeigh Tipton: Caroline
Amr Waked: Pierre del Rio
Pilou Asbæk: Richard
Claire Tran: Stewardess
Mason Lee: Hotelangestellter


1. Dezember 2014


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang