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FILMKRITIK/017: "Snowpiercer" (SB)


"Snowpiercer" - über eine Revolution, die keine war





"Im Kreis der Wiederholung gefangen", hätte der Untertitel des actionreichen Science-fiction-Films "Snowpiercer" lauten können, den der südkoreanische Regisseur und Drehbuchautor Bong Joon-ho nach der französischen Graphic Novel "Schneekreuzer" (Le Transperceneige) gedreht hat und der im April 2014 in den deutschen Kinos anlief. Die ganze Welt ist in Folge eines völlig außer Kontrolle geratenen Geoengineering-Experiments, bei dem wegen der globalen Erwärmung die Chemikalie CW-7 in der Stratosphäre verteilt wurde, in Eis erstarrt. Seit 17 Jahren rast ein in vielerlei Hinsicht von der Umwelt autarker, überlanger Zug um die Erde, der pro Umlauf ein Jahr benötigt und beim Durchstoßen der zahlreichen Schneelawinen auf seinem Weg seine Wasservorräte ergänzt. An Bord befinden sich die letzten Überlebenden der Menschheit - vor dem Kältetod bewahrt, aber permanent unterwegs und gefangen in den Begrenzungen des Zugs. Eine ansprechende Parabel auf die menschliche Gesellschaft, die nur diese eine Erde zur Verfügung hat und auf eine ungewisse Zukunft zurast.

Am Zugende haust die Unterschicht auf engstem Raum, notdürftig versorgt mit aus ekligen, kakerlakenartigen Krabbeltieren gewonnenen Proteinblöcken und von den doch erheblich schmackhafteren Fleischtöpfen dieser rasenden Kleingesellschaft von bewaffneten Soldaten ferngehalten. Im Verlauf des Films stellt sich heraus, daß im vorderen Teil des Zugs wenige Menschen leben, die Zugriff auf allerlei Annehmlichkeiten (Sauna, Disco, Bibliothek, erlesene Speisen, etc.) haben und es sich gutgehen lassen - auch das eine treffliche Parabel auf die menschliche Gesellschaft.

Curtis, der 17 Jahre alt war, als die Zugfahrt begann, zettelt mit Hilfe des alten und an mehreren Gliedmaßen verstümmelten Gilliam einen Aufstand an. Es gelingt den Rebellen, die Wachhabenden zu überwältigen und sich unter extrem hohen Verlusten durch die verschiedenen Abteile nach vorne durchzuschlagen - der Einfluß der Videospielkultur, bei der immer höhere Level errungen werden, ist hier nicht zu übersehen. An der Zugspitze wird Curtis von Mr. Wilford empfangen, dem legendären Zugkonstrukteur und Visionär, der nach wie vor die Kontrolle über "die Maschine" innehat.

Es stellt sich heraus, daß die von Curtis initiierte, blutige Revolution von vorne bis hinten von Wilford geplant gewesen war - ausgerechnet im Zusammenspiel mit seinem vermeintlichen Widersacher Gilliam aus dem hinteren Trakt! Im Laufe der Jahre seien immer mal wieder solche drastischen Maßnahmen ergriffen worden, um die Zahl der Zugreisenden zu reduzieren und die Ordnung an sich aufrechtzuerhalten, erklärt Wilford freimütig und unterbreitet dem konsterniert wirkenden Curtis das Angebot, sein Nachfolger an der Spitze des Zugs zu werden, da er sich als starke Führungspersönlichkeit erwiesen und seine Sache sogar noch besser gemacht habe, als sie erwartet hätten.

Jeder habe seinen Platz in dieser Gesellschaft und müsse sich damit abfinden, nur dann sei das Überleben aller gesichert, kolportiert Wilford einen Satz, wie er regelmäßig in mehr oder weniger verklausulierter Form von Ideologieschmieden, ob westlicher oder östlicher Ausprägung, zu vernehmen ist. Die Entführung von Kindern und andere Repressionen werden von Wilford damit zu legitimieren versucht, daß dies unverzichtbar sei, nur so könne die Ordnung bewahrt werden, andernfalls die Menschen wie Tiere übereinander herfielen.

Kurz zuvor hatte Curtis seinem Mitstreiter Namgoong, dem drogenabhängigen Sicherheitskonstrukteur des Zugs, berichtet, daß er in der Anfangszeit Menschen umgebracht und deren Fleisch gegessen habe, bis sie irgendwann mit den Proteinblöcken versorgt worden seien. Mit dieser Beichte bestätigt Curtis letztlich Wilfords chauvinistische Einstellung, der zufolge eine Gesellschaftsordnung mit einer starken Führung an der Spitze zur Kontrolle des angeblich von niederen Instinkten getriebenen Volks unverzichtbar ist.

Am Ende des Films wird der Zug von einer riesigen Schneelawine, die durch eine Sprengung auf dem Zug ausgelöst worden war, zum Entgleisen gebracht. Nur Namgoongs Tochter Yona und der junge Timmy, den Wilford zuvor entführen ließ, weil er klein genug ist, um in den engen "Eingeweiden" der Maschine defekte Teile auswechseln zu können, verlassen den Zug und beobachten einen Eisbären, der zu ihnen herüberschaut.

"Snowpiercer" vereint die Leichtigkeit eines surrealen Comic-Plots mit einem actionreichen, mit Metzeleien nicht gerade geizenden Science-fiction-Thrillers. Zudem hat Bong Joon-ho eine Handvoll Konzepte und Vorstellungen aus wissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen und revolutionstheoretischen Diskursen verarbeitet, die teilweise bereits in der Graphic Novel von Jacques Lob, Benjamin Legrand und Jean-Marc Rochette aufgegriffen wurden.

Ein Film, der sich nahezu aller Verknüpfungsmöglichkeiten des Publikums entzieht, muß sicherlich noch gedreht werden. Immer kommt es zu Identifikationen und anderen Projektionen, mithin Interpretationen und damit Abgleichen des Gesehenen mit dem, was man schon kennt. Ob Avantgardefilm, B-Movie, Remake oder Independent-Film - was keineswegs einander ausschließende Kategorien sind -, kommerziell erfolgreich ist, wer die "richtigen" Register zu ziehen versteht.

Da bildet "Snowpiercer" keine Ausnahme. Die hier verarbeitete Idee, daß Menschen übereinander herfallen, wenn sie nicht von einer höheren Ordnungsmacht wie dem Staat daran gehindert werden, ist schon uralt und reicht letztlich bis an den Beginn der Vergesellschaftung des Menschen zurück. Ignoriert wird dabei jedoch, daß nicht alle Menschen, die in eine existentielle Zwangslage geraten, zu Kannibalen werden, auch wenn sich ihnen die Möglichkeit dazu auftut. Vor allem aber wird ignoriert, daß eben jene angeblich "höhere", regulatorische Ordnung Menschen oftmals überhaupt erst in jene Zwangslage bringt, in der sie zu Kannibalen werden. Ein einfaches Beispiel hierfür sind die beiden Weltkriege.

Vielleicht hätte die Nahrung im Zug nicht für alle gereicht - aber wer entscheidet, welche Menschen Privilegien in Form von guter Nahrung und Versorgung erhalten und welche nicht? Und auf welcher Grundlage, wenn nicht der der nackten Gewalt, wird hier zwischen den Menschen unterschieden? Fragen, die der Film nicht aufwirft, die sich aber stellen könnten angesichts des präsentierten Plots.

Sicherlich verdient eine Revolution ihren Namen nicht, wenn sie von oben gelenkt wird und ausgerechnet jenen gesellschaftlichen Interessen dient, gegen die sie sich eigentlich richtet. In der jüngeren Geschichte wird häufiger von Revolutionen gesprochen, zum Beispiel beim sogenannten Arabischen Frühling, der jedoch weder der besetzten Westsahara (weiterhin von Marokko unterdrückt) noch Libyen (Bürgerkrieg) noch Ägypten (Militärdiktatur) das gebracht hat, für das die Urheberinnen und Urheber der sogenannten Revolution anfangs gekämpft haben. Ob Tunesien, wo vor kurzem Wahlen stattfanden, die Erwartungen des Arabischen Frühlings erfüllt, muß sich erst noch erweisen. "Snowpiercer" hat sich für die Darstellung einer Revolution entschieden, die von vorne bis hinten von den Herrschenden gelenkt war und somit gar nicht stattfand.

Damit übergeht der Film die Möglichkeit, daß Revolutionen allein aus der Unterdrückung heraus eine antiherrschaftliche Wucht entfalten könnten. Mit der Filmaussage, daß der Anführer Curtis das getan hat, was von ihm erwartet wurde, wendet sich Bong Joon-ho gegen die Idee und gewissermaßen auch Legitimität einer nicht von fremden Interessen beherrschten revolutionären Bewegung: Der Sklave stürzt den Herrscher, weil dieser es im Sinne des höheren (Überlebens-)Interesses zuläßt und einen durchsetzungsfähigen Nachfolger sucht. Dieses Konzept verwässert den Revolutionsgedanken nicht nur, es eliminiert ihn.

Wie gesagt, am Ende der scheinrevolutionären Entwicklung verlassen Yona und Timmy, beide nicht sonderlich dick eingepackt in Anbetracht der klirrenden Kälte, den havarierten Zug und beobachten einen Eisbären, der seinerseits zu ihnen herüberschaut. Wie geht es weiter? Sich das auszumalen überläßt der Film dem Publikum. Variante A: Wenn Eisbären überleben, können auch Menschen überleben, da sich die Eisbären in den letzten 17 Jahren von irgend etwas ernährt haben müssen, beispielsweise Robben. Variante B: Eisbären werden weiterhin überleben, da sie nun einige Menschen als Nahrung haben ...

Ob die hoffnungsgetragene oder die dystopische Variante, in beiden Fällen unternimmt der Film keinen Versuch, Stellung zu beziehen. Den Zug entgleisen zu lassen, ist deshalb ein recht bequemes Ende, das womöglich deshalb so spektakulär in Szene gesetzt wird, um vergessen zu machen, daß da noch Fragen offen sind: Worauf sollte die Revolution hinauslaufen, wenn der Zug nicht entgleist wäre? Hätte Curtis nicht den Betrieb aufrechterhalten müssen, vielleicht sogar mit ähnlichen Konsequenzen, gegen die er zuvor angegangen ist? Oder hätte er eine Verteilung aller Lebensmittel, des für jeden verfügbaren Raumes und der vielen anderen Dinge, an denen im hinteren Teil des Zugs so bitterer Mangel herrschte, vorgenommen?

Nur wenn jeder seinen Platz kennt und ihn nicht verläßt, kann das Überleben der Menschheit gesichert werden, lautet die Kernbotschaft, mit der das Publikum die Kinosäle verläßt (oder wahlweise die DVD aus dem Player nimmt). Der fiktive Untertitel "im Kreis der Wiederholung gefangen" stünde somit nicht nur für die ständige Zugfahrt rund um den Erdball, sondern auch für das Scheitern des vergesellschafteten Menschen, das Gleisbett zu verlassen und beispielsweise andere Produktionsweisen zu entwickeln, die wiederum zu anderen Produktionsverhältnissen führen würden als die gegenwärtig vorherrschenden, bei denen "Arbeitgeber" wie Mr. Wilford über ein Heer von Lohnarbeitssklaven, das als willfährige Verfügungsmasse für jedweden Bedarf auf einem existentiell niedrigen Niveau gehalten wird, gebieten.

Snowpiercer
Länge: 126 Minuten
Regie: Bong Joon-ho
Drehbuch: Bong Joon-ho, Kelly Masterson

Besetzung
Chris Evans: Curtis
Song Kang-ho: Namgoong
Ko Ah-seong: Yona
Jamie Bell: Edgar
Ewen Bremner: Andrew
Tilda Swinton: Mason
John Hurt: Gilliam
Ed Harris: Wilford
Octavia Spencer: Tanya


30. Dezember 2014


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