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AKZENTE/136: Chinesische Wanderarbeiterinnen in Literatur, ... und kultureller Bewegung (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 122, 4/12

Chinesische Wanderarbeiterinnen in Literatur, Zeitschriften und kultureller Bewegung

Von Astrid Lipinsky



Mindestens ein Drittel, wahrscheinlich aber weit mehr von Chinas 221 Millionen WanderarbeiterInnen (16,5% der Gesamtbevölkerung) sind Frauen(1). In den Spielzeug-, Textil- und Turnschuhfabriken Südchinas stellen Frauen die absolute Mehrzahl der FließbandarbeiterInnen; Männer in Shenzhen oder Dongguan beklagen sich, dass Frauen ihnen vorgezogen werden. Ein weiterer Sektor ist weiblich: die Arbeit als Haushaltshilfe, als Nanny oder als Kinderfrau im städtischen Privathaushalt. Wie und ob sie sich selbst beschreiben, das analysiert die Autorin im folgenden Beitrag.


Junge Frauen können einfacher und weiter weg als junge Männer gehen. Letztere sollen den landwirtschaftlichen Betrieb der Eltern übernehmen, sind als jährliche Erntekraft fest eingeplant, aber auch diejenigen, die mit ihrer Ehefrau eine zusätzliche Arbeitskraft ins Elternhaus bringen. Das Heiraten ist in China patrilokal: Hauptaufgabe der Eltern ist es, ihrem Sohn im eigenen Dorf ein Haus zu bauen, in das er nach der Hochzeit mit seiner Braut einzieht und wo die Enkelkinder geboren werden.


Stand, Land. Tochter, Sohn

Mädchen stehen außen vor und gelten als vorübergehende Familienmitglieder, bis sie heiraten und zu ihrem Mann ziehen. Von ihren Töchtern erwarten die Eltern und sie selbst, dass sie vor der Hochzeit zu Ausbildung und Heirat ihrer Brüder finanziell beitragen.

Wie weit weg von zuhause sie das Geld verdienen und ob sie zum traditionellen chinesischen Neujahrsfest verlässlich heimkommen, das ist nicht so wichtig und entscheidet sich je nach dem Ziel der Nachbarin, ehemaligen Mitschülerin, Freundin oder Kusine, der sie sich anschließen, wenn sie das Dorf verlassen. Die hilft auch bei der Arbeitssuche, aber eine eingeschworene Gemeinschaft wie bei migrierenden Bautrupps der Männer eines Dorfes entsteht daraus nicht. Die Stadt ist fremd, laut und furchteinflößend, und viele junge Mädchen bleiben am Fließband und in ihrem ersten Schlafsaal kleben, den sie mit Frauen aus ihrer Heimatregion teilen. Diese sprechen nämlich den eigenen Dialekt. Wer vom Fließband weg will, muss das städtische Hochchinesisch oder das im Perlflussdelta übliche Kantonesisch lernen. Viele MigrantInnen tun das nie, in der Stadt bleiben sie Fremde und betrachten sich selbst als solche.

Frauen fällt die endgültige Loslösung vom Heimatdorf aber leichter als Männern. Welche Bindungen, von den Eltern abgesehen, sollen sie auch dort halten? An Schulbildung hat das Dorf ihnen gerade mal sechs Jahre Mittelschule geboten. Schulbücherei? Dorfbuchladen? Fehlanzeige, genauso wie ein Bücherregal im Wohnzimmer der häufig illiteraten Eltern. Ihr Anspruch auf ein Stück Land im Dorf bestimmt sich über ihre Familie oder ihren Mann. Ihr einziges Plus, wenn sie sich auf den Weg machen, ist ihr Alter: Die Mittelschulabsolventinnen sind 16 oder 17 Jahre alt. Die Berufstätigkeit von Minderjährigen unter 18 ist laut chinesischem Gesetz stark eingeschränkt, aber diese Klausel spielt in der Realität bei der Arbeitssuche kaum eine Rolle. Wenn überhaupt nach dem Alter gefragt wird, lässt frau sich mit Hilfe der ID-Karte einer Volljährigen einstellen, die an jeder Straßenecke angeboten werden.


Der Aufstieg der An Lijiao

An Lijiao kam 1984 mit 17 Jahren aus dem Dorf nach Shenzhen ans Fließband. Ihre Geschwindigkeit am Band nahm zu, ihr Lohn stieg, und im Smalltalk mit den Fließbandnachbarinnen verbesserte sich ihr Hochchinesisch. An Lijiao reichte das aber nicht; das ziellose Herumbummeln auf den fabriknahen Straßenmärkten in ihrer Freizeit interessierte sie nicht.

Es war schwierig, ihr Hobby, das Lernen, in den üblichen 14-Stunden-Arbeitstag zu pressen. Die Arbeitgeber sanktionieren solche "Zeitverschwendung", und An wurde mehrfach nach kurzer Zeit entlassen. Dieses Jobhopping, der Arbeitsplatzwechsel nach wenigen Monaten, ist jedoch in den Exportfabriken die Regel - für ein paar Groschen mehr Gehalt oder weil die Mensa im Betrieb des neuen Arbeitgebers besser ist. An dagegen holte ihren Mittelschulabschluss nach, ihr Lerneifer brachte sie 1988 an die Shenzhen-Universität, die sie 1991 mit einem Collegetitel abschloss.

Im selben Jahr wurde ihre Sammlung von Wanderarbeiterinnen-Geschichten als Buch veröffentlicht, die sie als Artikelserie für die lokale "Sonderzone Shenzhen-Zeitung" geschrieben hatte. Die Redaktion hatte nicht mit der Flut von LeserInnenbriefen, die Ans Artikel auslösten, gerechnet. Sie hat alle gesammelt, es sind Hunderttausende. Als Stellvertreterin der Arbeitsmigrantinnen wurde An berühmt und bekam lokale und nationale Preise für Reportageliteratur. Zeitungen, Radio- und Fernsehsender gaben ihr eine eigene Kolumne.

Begonnen hatte ihre Karriere als Schriftstellerin mit dem "Job-Tagebuch", das täglich zu schreiben sich An gegen alle Widerstände zwang: Gab es keinen Tisch, nutzte sie eine der auf den Baustellen herumliegenden Holzplatten, von den Dutzenden täglichen Mückenstichen, wenn sie abends bei Licht schrieb, ließ sie sich nicht ablenken. An hat eine Helden-Hagiographie wie der ideale kommunistische Soldat Lei Feng.

Ans Aufsatzsammlung war literarisch nichts Besonderes, aber es war die erste detaillierte Beschreibung des Lebens der Wanderarbeiterinnen zu einer Zeit, als die Regierung ihre Aufmerksamkeit auf deren explodierende Zahl richtete. Gleichzeitig entdeckten westliche Geldgeber die Wanderarbeiterinnen als Zielgruppe.


K/Eine eigene Zeitschrift?

Im August 2003 erschien die erste Ausgabe der Monatszeitschrift "Dagongmei". Dagongmei, wörtlich jobbende kleine Schwester, ist die - abwertende - chinesische Bezeichnung der Wanderarbeiterinnen. Die - aufwertende - Tatsache, eine eigene Zeitschrift zu haben, hielt nicht einmal drei Jahre lang an. 2007 wurde "Dagongmei" in "Glockenblume" umbenannt und bietet Tipps für Wanderarbeiter, Männer und Frauen, Fallgeschichten und auch eine Ecke für Literatur von Wanderarbeiterinnen. Selbstzeugnisse von Wanderarbeiterinnen spielen eine geringe Rolle, mehr als sie selbst schreibt die Redaktion über sie. Die dagongmei werden ermutigt, das städtische Ambiente für die Weiterbildung zu nutzen; einzelne Bildungserfolge werden in den Medien gefeiert und vom Frauenverband mit öffentlichen Zeremonien gewürdigt und ausgezeichnet, was möglich ist, weil es bei wenigen Einzelfällen bleibt.

Wieso gibt es keine Kulturbewegung der chinesischen Wanderarbeiterinnen? Ihre Streiks zeigen, worauf es ihnen tatsächlich ankommt: auf höhere Löhne, die regelmäßig ausbezahlt werden, und auf eine geringere Zahl von Überstunden. Langfristigeres haben sie nicht im Blick, der berufliche Aufstieg ist nicht geplant, und die Fabrik ist kein Aufenthaltsort auf Dauer, wo sich der Einsatz für eine Freizeitgestaltung mit kulturellen Angeboten lohnen würde. Die Arbeitgeber andererseits haben keinen Bedarf an besser ausgebildeten FließbandarbeiterInnen, denen sie gegebenenfalls aufgrund ihrer Qualifikation höhere Löhne zahlen müssten. Schon jetzt wird aber deutlich, dass ihr zunehmendes Bildungsniveau die Erwartungen der MigrantInnen an ihren Arbeitsplatz verändern und erhöhen.

Zurück zu An Lijiao. Sie hat inzwischen zehn Bücher geschrieben, aber nur das erste thematisiert das Leben der WanderarbeiterInnen. Ökonomisch erfolgreich ist An als Chefin von einer Handvoll Anbietern von Haushaltsdienstleistungen. Und sie sagt, dass sie ein Buch über die Dienstleisterinnen plant, alles Arbeitsmigrantinnen vom Lande...


ANMERKUNG:
(1) Das ist 27mal die österreichische Gesamtbevölkerung und fast die Hälfte der EU-Bevölkerung. Die Zahlen sind von 2010, für 2012 wird die Zahl der WanderarbeiterInnen auf 250 Millionen geschätzt. Für 2050 rechnet China mit 400 Millionen ArbeitsmigrantInnen.

ZUR AUTORIN:
Astrid Lipinsky ist Lehrbeauftragte an den Universitäten Göttingen und Wien mit den Schwerpunkten Gender und Recht. Sie lebt in Wien.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 122, 4/2012, S. 17-18
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2013