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BERICHT/070: Die Unberührbaren Indiens schreiben ihre Geschichten (Frauensolidarität)


Frauensolidarität - Nr. 106, 4/08

Werden Dalit-Frauen gehört?
Die Unberührbaren Indiens schreiben ihre Geschichten

Von Sarita Jenamani


Seit den 1990er Jahren entwickelt sich in Indien ein Literaturgenre, das die Lebensgeschichten von Dalits, den Menschen aus den untersten Kasten, erzählt. In einfachen und oft verstörend vulgären Worten schreiben auch immer mehr Frauen gegen ihre doppelte Unterdrückung an. Die Übersetzung solcher Texte bringt jedoch einige Probleme mit sich.


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Die Dalit-Bewegung ist eine soziale Bewegung, die von Dalits oder Unberührbaren in Folge einiger Reformen in der Hindu-Gesellschaft in Indien entstand. Gandhi gab den Unberührbaren den Namen Harijan (Kinder Gottes). Durch diese Bezeichnung versuchte er ihnen eine Art sozial-religiöses Prestige zu verleihen. Dies war natürlich nur eine symbolische Geste, die das Los dieser gequälten Seelen nicht substanziell verändern konnte. Darum erheben sie nun ihre Stimmen lautstark und unisono: Hier kommt die Dalit-Literatur!


Was ist Dalit-Literatur?

Dalit-Literatur erzählt die fortwährende Geschichte von Unterdrückung, Knechtschaft und Ausbeutung im Namen der Religion, die durch die Kastenhierarchie festgeschrieben wurde. Die Dalit-Literatur erinnert an diese Stigmatisierung und deren Spuren in der Psyche von Generationen, eine Stigmatisierung, deren Erscheinungsform noch heute im Leben der Dalit präsent ist. Indem sie auf ihre demütigenden Erfahrungen zurückgreifen, schwingt in den Stimmen der Dalits eine intensive Atmosphäre von Schmerz, Wut und Protest. Getreu der konkreten Natur ihrer Probleme tendiert diese Literatur dazu, mit ungehobelter, roher und manchmal sogar vulgärer Sprache oder Schimpfwörtern zu arbeiten, denn die Dalit-SchriftstellerInnen glauben, dass ihre Geschichte die eines Alptraums ist, welche nicht in der keuschen Sprache der Aristokratie erzählt werden kann. Sie konnten sich den Luxus ästhetischer Ausdrücke nicht leisten.

Ausgehend von Marathi hat dieses Phänomen beinahe jede Sprache Indiens erfasst. In einem kurzen Zeitraum entstand eine große Fülle an Gedichten, Kurzgeschichten, Romanen, humoristischen und satirischen Schriften sowie auch eine Literaturkritik, die es auf sich genommen hat, das literarische Bewusstsein der Dalits zu theoretisieren und Richtlinien zu formulieren und bereitzustellen. Eine klare Argumentationslinie dieses theoretischen Diskurses ist, dass Erfahrungen der Dalits nur von denjenigen niedergeschrieben werden können, die diese Demütigungen seit Jahrhunderten als Teil ihrer Identität erlitten haben. Außenstehende oder jene, die aus den ausbeutenden Klassen stammen, können der Sache der Dalits nicht gerecht werden, vielmehr wären solche Schriften eine Verhöhnung des Dalitgeistes.


Literatur von Dalit-Frauen ist im Kommen

Inzwischen sind auch die Dalit-Frauen in der Literaturszene aufgetaucht, und das mit sogar noch mehr Leidenschaft und Kraft in ihren Stimmen. Trotzdem wird Dalit-Literatur zumeist von Männern verfasst und die Sprache, die von den meisten Dalit-Schriftstellern verwendet wird, ist männlich und manchmal sogar gegen Frauen gerichtet. Den prominenten Dalit-Schriftstellern wird vorgeworfen, dass sie Dalit-Frauen negativ darstellen und auch ein Bild von ihnen reproduzieren, bei dessen Beschreibung sie der dominanten, aus den oberen Kasten stammenden, männlichen Sprache erliegen. Obwohl beide Geschlechter gegen dieselbe Sache kämpfen, gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Dalit-Literatur. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf einen Essay zu verweisen, der von Malthi Maithri, einer bedeutenden tamilischen Poetin und Dalit-Schriftsstellerin, verfasst wurde. Ihr Essay "How to kill your father?" ist provokativ und bewegend, da ihre Argumentation die patriarchale Dominanz, die in Dalit-Familien vorherrscht, sowie die Tatsache, dass Dalit-Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft unterdrückt werden, angreift. Ihrer Meinung nach ist es in jeder Familie der Vater, der die Geschicke lenkt, während die Mutter als Vermittlerin zwischen den anderen Familienmitgliedern fungiert, aber von allen als Sklavin behandelt wird. Männer praktizieren Unberührbarkeit zu Hause, indem sie Frauen schlecht behandeln, und letztendlich werden Frauen als Werkzeuge zur Aufrechterhaltung des Patriarchats benutzt. Bama, eine telugusprachige Dalit-Schriftstellerin, stellt eine der Hauptakteurinnen in der Dalit-Literaturbewegung dar. Sie schreibt in ihren Romanen und Kurzgeschichten ausführlich über die doppelte Unterdrückung der Dalit-Frauen. Jede Erzählung beleuchtet die Unterdrückung der Dalits durch die Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen. Die berühmte Dichterin Sugirtharani beschreibt in einem ihrer Gedichte, wie ein Mädchen, dessen Familie sich mit dem Häuten von Kühen und Ochsen über Wasser hält und das seit seiner Schulzeit mit Diskriminierung konfrontiert war, ihrer Identität Geltung verleiht. Das Einweben feministischer Themen als gelebte Alltagserfahrungen regte eine lebendige Debatte in der aktuellen Dalit-Politik an. Schriftstellerinnen wie Urmila Pawar, Bama, Jyoti Lanjewar und viele andere haben sich zusammengeschlossen, um in der literarischen Dalit-Bewegung ein feministisches Bewusstsein zu erwecken.


Das Übersetzen von Dalit-Literatur

Es bleibt noch zu erwähnen, dass die Mehrheit der Übersetzungen von Dalit-Texten von der Hindu-Kaste zugehörigen ÜbersetzerInnen angefertigt wurde. Armstrong(1) beschreibt, wie FeministInnen männliche Subjektivität in Frage stellen, indem sie Texte von Schriftstellerinnen übersetzten, und argumentiert, dass Dalit-Literatur nicht von den Hindus angeeignet werden darf, sondern von den Dalits selbst übersetzt werden muss, da diese über natürliche Impulse, Sensibilität und emotionale Affinität dem Text gegenüber verfügen. Anushiya Sivanarayanan(2), die selbst eine aus der Hindu-Kaste stammende Übersetzerin ist, beschreibt ihre Erfahrungen folgendermaßen: "Einer meiner anfänglichen Gründe, warum ich mich schon beim Versuch, tamilische Dalit-Gedichte zu übersetzen, unwohl fühlte, war das unbequeme Bewusstsein, dass ich dabei war, zu versuchen, die Stimmen einer Kultur zu interpretieren und zu beleuchten, die seit Jahrhunderten von Angehörigen meiner Kaste zum Schweigen gebracht wurde." Außerdem sind die Vorstellungen über das Kastensystem, Unreinheit, Unberührbarkeit und Gräueltaten gegen Dalits in Indien beheimatet. Aber wie wirkungsvoll sind die Übersetzungen, wenn sie ins Englische übertragen werden? Dies sind die zentralen Probleme, die mit der Übersetzung der Texte einhergehen.


Herausforderungen

Als die Dalit-Literatur in den 1990ern entstand, gab es sehr viele Fragen zum neuen Genre. Die Verlage waren nicht sehr entgegenkommend, aber inzwischen hat sich die Situation drastisch gewandelt. Die Rolle des Marktes bei der Popularisierung eines bestimmten Literaturgenres kann nicht geleugnet werden. Deshalb beobachten wir ein spektakuläres Wachsen dieses Literaturtyps. Dalit-Schriftstellerinnen stehen dem in nichts nach und zögern nicht, ihren aufgestauten Emotionen Platz zu schaffen, aber ihre Arbeit ist schwierig.

Dalit-Frauen sind auf zweifache Weise unterdrückt: weil sie Dalits sind und weil sie Frauen sind. Können sie sich somit frei und wirksam ausdrücken? Können sie das Gewünschte liefern? Und können sie die doppelte Belastung durch überwältigende und allmächtige Hierarchien und patriarchale Strukturen überwinden? Dies wird sich zeigen. Aber eines ist sicher: Dalit-Literatur von Frauen wird trotz aller Kritik so schnell nicht wieder verschwinden.


Anmerkungen:

(1) Armstrong, S.: Translating Dalit Texts: A Note on tendering a Tamil Dalit Drama into English. Paper presented at the First National Seminar on Translation, Interpretation, culture: Issues and Trends, held at the Indian Institute of Technology Mumbai, 10-11 December 2004
(www.hss.iitb.ac.in/TCITI/Armstrong.doc).

(2) Sivanarayan, Anushiya: Translating Tamil Dalit Poetry. In: world Literature Today (Mai - August 2004) S. 56-59
(www.tamilnation.org/literature/ dalit.pdf).


Literatur:

vakindia.org/pdf/db-apr2007.pdf
www.dalits.nl/pdf/dalitwomenspeakout.pdf
www.hinduonnet.com/thehindu/mp/2003/03/06/stories/2003030600570300.htm


Zur Autorin:

Sarita Jenamani studierte Wirtschaft in Orissa (Indien) und Österreich. Sie publizierte einige mehrfach ausgezeichnete Gedichtbände in Deutsch, Hindi und ihrer Muttersprache Oriya, in die sie zudem zahlreiche Bücher übersetzte. Seit 2005 ist sie auch Radioredakteurin bei Women on Air.

Übersetzung: Bettina Moser


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 106, 4/2008, S. 10-11
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Berggasse 7, 1090 Wien,
Fon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Fax: 0043-(0)1/317 40 20-355,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2009