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AKZENTE/147: Daniel Defoes Chronik des Pestjahres (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2020

Kultur und Kritik
Daniel Defoes Chronik des Pestjahres
Ein Buch für den Tag und die Stunde

von Hanjo Kesting


Der Einbruch todbringender Seuchen in die menschliche Gesellschaft hat zu allen Zeiten eine literarische Verarbeitung herausgefordert. Vor allem über die Pest mit ihren ganz Europa verheerenden Epidemien in Antike, Mittelalter und Neuzeit sind bedeutende schriftliche Zeugnisse überliefert. Thukydides schilderte die Athener Pestepidemie in seiner Chronik des Peloponnesischen Krieges, Giovanni Boccaccio beschrieb die Vorgänge während des Ausbruchs der Seuche in Florenz 1348, Alessandro Manzoni verarbeitete in seinem Roman Die Verlobten die Erfahrung der Pest im 17. Jahrhundert in Mailand. Daniel Defoe schließlich, der bei uns vor allem als Verfasser des Robinson Crusoe bekannt ist, war der großartige Chronist der Londoner Pest von 1665, die einen nicht geringen Teil der Bewohner der englischen Hauptstadt dahinraffte. Dagegen war Albert Camus' Roman Die Pest von 1947, der derzeit wieder auf den vorderen Rängen der Verkaufslisten rangiert, keine Darstellung einer realen Epidemie, sondern eine Allegorie über das Verhalten der Menschen unter der deutschen Okkupation während des Zweiten Weltkriegs. Immerhin hat Camus das Motto seines Buches bei Defoe entlehnt: "Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt."

Schon dieses Zitat weist darauf hin, dass Defoes klassischer Bericht einen doppelten Boden besitzt. Auf der einen Seite eine sachliche Chronik, ist er auf der anderen Seite eine tiefdringende Studie über menschliche Verhaltensweisen. Überall zeigen sich nämlich, mit wenigen Abweichungen, die gleichen Muster im Umgang der Betroffenen mit dem schrecklichen Feind: zunächst die Verdrängung und Verleugnung der Gefahr, die eine rechtzeitige Vorbeugung und die sorgfältige Vorbereitung sozialer Maßnahmen verzögert und erschwert, sodann die Aussonderung der vermeintlich Schuldigen und ihre Dämonisierung, die bis zu regelrechten Pogromen gegen unbeliebte Minderheiten reicht; endlich, wenn eine Verdrängung der Katastrophe nicht mehr möglich ist, die Flucht in Glauben oder Aberglauben, die individuelle Verschonung vom Übel bewirken soll, oder die Flucht in einen fatalistischen Genusstrieb, der die letzten Stunden vor dem Untergang verschönen soll. Auch Defoes Schilderung bestätigt, was Boccaccio schon 350 Jahre früher in seinem Dekameron geschrieben hatte: "Angesichts von so viel Bedrängnis und Not war die ehrwürdige Autorität der Gesetze, der göttlichen wie der menschlichen, fast gänzlich verfallen und aufgelöst."

Anlass für Defoes Schritt war der Ausbruch der Pest in Marseille 1720 und ihr bedrohliches Anwachsen im folgenden Jahr, durch das ganz Europa in Angst und Schrecken versetzt wurde. Im Auftrag der englischen Regierung versuchte Defoe das Publikum wachzurütteln und zu rechtzeitigen Gegenmaßnahmen zu veranlassen. Das Buch A Journal of the Plague Year ist in erster Linie ein Traktat, eine Aufklärungsschrift, und unterscheidet sich seiner Anlage nach von den anderen Erzählwerken des Autors. In diesen steht meist ein Ich-Erzähler im Zentrum des Geschehens, wie Robinson Crusoe auf seiner einsamen Insel oder Moll Flanders in ihrer im Rückblick erzählten Lebensgeschichte. Zwar gibt es auch im Tagebuch aus dem Pestjahr einen Chronisten, der in der Ich-Form berichtet, aber dieser Mann, ein unverheirateter Sattlermeister, ist nur ein Augenzeuge am Rande des Geschehens. Alle Aufmerksamkeit gilt der Pest und der Stadt London - die Seuche und die von ihr heimgesuchte Hauptstadt sind die eigentlichen Protagonisten des Buches. Es geht um Fragen der Hygiene, der Ansteckungsverhütung, der medizinischen Diagnose.

Als Traktat über die Pest geplant und zu aktuellem Anlaß veröffentlicht, wurde das Buch auch als eine Art Gebrauchsanleitung gelesen. Die Erstauflage belegt durch zahlreiche Druckfehler, wie rasch sie auf den Markt geworfen wurde. Durch das Nachlassen der Pest in Marseille und die Aufhebung der Quarantäne nahm das Interesse an dem Thema jedoch bald wieder ab. Zwar erschien 1754 eine Neuauflage, aber erst die von Walter Scott 1822 herausgegebene Werkausgabe Defoes begründete den dauerhaften Ruhm des Buches.

Doch wirft es einige Fragen auf. Sprach Defoe als Augenzeuge? Da er bei Ausbruch der Pest noch ein Kind war, ist das eher unwahrscheinlich. Hat er das Manuskript eines anderen Autors benutzt oder lediglich überarbeitet, so wie er sich für Robinson Crusoe von dem Bericht eines Matrosen anregen ließ, der einige Jahre auf einer einsamen Insel zugebracht hatte? Viel spricht aber dafür, dass Defoe, wenngleich gestützt auf fremde Quellen, die ebenso faszinierende wie bestürzende Wirklichkeitsnähe des Buches selbst hervorgebracht hat, eben darin besteht seine literarische Leistung. Die eindringlichen Szenen von Tod und Verzweiflung, wie sie das Buch bestimmen und noch heute zu einer fesselnden Lektüre machen, sind aber gerade in ihrer beklemmenden Gegenwärtigkeit das Resultat einer erstaunlichen literarischen Vorstellungskraft. Der englische Literaturwissenschaftler Ian Watt schrieb: "Sobald Defoes Einbildungskraft sich einer Situation bemächtigt hatte, konnte er sie mit einer umfassenden Treue darstellen, die über alle früheren Erzählwerke weit hinausging und die tatsächlich auch nach ihm nie übertroffen wurde. Zitiert man diese Episoden, dann wirken sie unwiderstehlich."


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Im Wallstein Verlag, Göttingen, sind soeben seine dreibändige Studie Große Erzählungen der Weltliteratur sowie der Essay Theodor Fontane. Bürgerlichkeit und Lebensmusik erschienen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2020, S. 50 - 60
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2020

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