Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → LITERATUR

PROFIL/082: Charles Dickens zum 200. Geburtstag (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

Karneval der Freiheit und Menschlichkeit
Charles Dickens zum 200. Geburtstag

Von Hanjo Kesting


Am Ende des 19. Jahrhunderts, 30 Jahre nach seinem Tod, schien Charles Dickens' Stern, der zu Lebzeiten so hell gestrahlt hatte, bereits wieder im Sinken begriffen. Selbst in England begann das gebildete und anspruchsvolle Publikum über den Autor von Oliver Twist und David Copperfield die Nase zu rümpfen. In intellektuellen Kreisen fand man ihn, den Liebling der breiten Lesermassen, vulgär und plebejisch, und es war die herrschende Meinung, dass sein Gefühlsüberschwang abscheulich und sein Stil trivial seien. "Er versagt auf groteske Weise", schrieb Virginia Woolf, "wenn es nötig wäre, in die Tiefen dessen zu dringen, was uns gemeinhin Höhe und Gipfel des menschlichen Lebens heißt".

Fast gleichzeitig publizierte G. K. Chesterton, der Verteidiger der "Orthodoxie", ein Buch über Dickens, das gegen dessen Verächter gerichtet war, eine leidenschaftliche Apologie des Autors, den er den "englischsten aller Schriftsteller" nannte. Er rühmte ihn als größten Romancier, den England hervorgebracht habe, und erklärte, "dass Dickens - wenn noch eine Reihe von Jahrzehnten vergangen und noch mehr Unkraut angejätet ist - das ganze England des neunzehnten Jahrhunderts überragen und allein auf seinem Platz stehen wird".

Man hat das 19. Jahrhundert als Jahrhundert des Pessimismus und der gescheiterten Utopien bezeichnet. Bei Dickens kann man erfahren, dass es auch das Jahrhundert der Lebenskraft und Expansion war, des Glaubens an die Menschheit und die Möglichkeit universaler Verbrüderung. Diesem Glauben liegt die Vorstellung einer verborgenen Verwandtschaft zugrunde, die alle Menschen miteinander verbindet. Dickens hat sie in einigen seiner Romane zum Ausgangspunkt melodramatischer Verwicklungen und Vehikel glücklicher Lösungen gemacht, wenn sich am Ende alle Beteiligten, wie in Lessings Nathan, als verwandt und verschwistert erweisen. Dabei sind es nicht die Bande des Blutes, die die ganze Menschheit zur großen Familie vereinen, es ist das Bewusstsein der Gleichheit der Individuen und des Reichtums jedes Einzelnen.

Man kann den naiven Überschwang, die grenzenlose Vertrauensseligkeit und die Rührseligkeit belächeln, mit der Dickens seinem Glauben Ausdruck verlieh, doch ist seine philanthropische Utopie frei von theoretischen und spekulativen Zügen, dazu war er zu sehr Künstler. Seine Kunst folgt keinem Konzept, keiner bloßen Rationalität, sondern allein dem Gesetz der Schöpferkraft, des Überflusses. Dabei ist sie zutiefst demokratisch und huldigt dem obersten Prinzip aller demokratischen Grundsätze: dass alle Menschen unser Interesse verdienen und jeder eine Welt für sich darstellt.

Dickens hat 16 erstrangige Romane geschrieben neben einem Dutzend Erzählungen, er war produktiv wie neben ihm nur Balzac. Verblüffend ist aber weniger die Quantität seiner Hervorbringung, vielmehr die Erfindungskraft, der Einfallsreichtum, die Originalität der Situationen und die Vielzahl von Figuren, die seine Bücher bevölkern. Nicht eine ist mit der Schablone entworfen, sie alle sind originelle Schöpfungen, unverwechselbar, umflossen von dem spezifischen Fluidum des Dickens'schen Humors.


Der Sozialkritiker als Moralist

Er war 25, als er Oliver Twist schrieb, den ersten Roman mit einem kindlichen Helden, der lange und grausame Leiden zu erdulden hat, bis er endlich seinen verdienten Platz in der guten Gesellschaft einnimmt. Dickens war fast 50 und auf der Höhe seines Ruhmes, als er Große Erwartungen verfasste, wieder mit einem Knaben, dem kleinen Pip, als Hauptfigur. In beiden Büchern erkennt man die außerordentliche Fähigkeit, mit der Dickens sich in die Psyche des Kindes einzufühlen vermochte. "Niemand", meinte George Orwell, "hat besser über die Kindheit geschrieben als er. Trotz allen Wissens, das seither angesammelt worden ist, und trotz der Tatsache, dass Kinder heute einigermaßen vernünftig behandelt werden, hat kein Romanautor die gleiche Fähigkeit gezeigt, die Perspektive des Kindes zu teilen."

Dickens gehörte zu den ersten Schriftstellern, die die soziale Thematik in die Literatur einführten: die weitverbreitete Kriminalität in der Geschichte von Oliver Twist, die Missstände des Schulwesens in Nicholas Nickleby, das Elend der Kinderarbeit in David Copperfield. Er beschrieb ohne Beschönigung Gewalt und Verbrechen, Schmutz und Korruption, für die er eine ungerechte Sozialordnung verantwortlich machte. Der Roman Harte Zeiten ist das Musterbeispiel dieser Tendenz. Dickens brachte darin den rigiden Kapitalismus mit seinen sozialen Auswirkungen (Analphabetismus, Kinderarbeit, mangelhafte Erziehung, unzulängliche Wohn- und Arbeitsverhältnisse) vor das Tribunal seiner Erzählkunst, der Roman trug dazu bei, die schlimmsten Auswüchse des sogenannten "Manchester-Kapitalismus" zu lindern.

Ohne Zweifel war Dickens ein gesellschaftskritischer Autor, doch machte seine Kritik ihn nicht unbeliebt, er wurde vielmehr Englands populärster Schriftsteller, eine nationale Institution. Das ist ein einzigartiges Phänomen in der Geschichte der Literatur, erklärbar nur dadurch, dass die Gesellschaftskritik bei Dickens nicht absichtsvoll im Vordergrund steht, sie erscheint wie ein Nebenprodukt seiner verschwenderischen Schöpferkraft und ist ausschließlich moralisch. Orwell fasste diese Moral in dem Grundsatz zusammen: "Wenn die Menschen sich anständig benähmen, wäre die Welt anständig."

Daran mag es liegen, dass Dickens' Kritiker ihm nach seinem Tod vorgeworfen haben, er habe bei aller Sympathie für die unteren Schichten nie einen Arbeiter als geistig hochstehende Erscheinung dargestellt. Das ist eine richtige Beobachtung, aber ein absurder Vorwurf. Es stimmt, dass Dickens selten oder nie aus einem Armen einen sogenannten Intellektuellen gemacht hat, aber er schilderte überhaupt nur selten einen Charakter als intellektuell. Intellektualität war seiner Schöpferfantasie überhaupt nicht gegenwärtig, er erblickte nur Charakter und erkannte darin etwas nicht nur weit Wichtigeres, sondern auch viel Unterhaltsameres als Intellekt.

"Die erste Bedingung für die Popularität eines Schriftstellers", notierte Leo Tolstoi 1903, "ist die Liebe, mit der er seine Charaktere behandelt. Deshalb sind die Figuren bei Dickens Freunde der gesamten Menschheit." Wer kann sie aufzählen, diese krausen, gutmütigen, leicht lächerlichen und immer amüsanten Figuren? Sie sind aufgefangen mit all ihren Schrullen und individuellen Eigentümlichkeiten, Verwickelt in ergötzliche und komplizierte Abenteuer. In England sind viele populär, ja sprichwörtlich geworden: Pickwick, Micawber, Bumble, Pecksniff und Swiveller, Crummles und Boffin, der alte Weller und Ebenezer Scrooge aus dem berühmten Christmas Carol, man steht mit ihnen auf dem Duzfuß, die Namen bezeichnen Typen der englischen Gesellschaft. Doch so zahlreich sie sind, keiner gleicht dem anderen, jeder ist minuziös bis ins kleinste Detail persönlich herausgearbeitet. Sie alle sind nicht bloß erfunden, sondern gesehen.


Herzensgüte und Humor

"Der typische Dickens-Roman", hat Orwell gesagt, "ist immer um ein melodramatisches Gerüst herum angelegt". Er ist ein "Kreuzworträtsel" von zufälligen Zusammentreffen, Intrigen, Morden, Verkleidungen, vergrabenen Testamenten, lang verschollenen Brüdern, von gusseisernen "Plots", Abschnitten in Blankversen, vom "Pathos" bestimmten und melodramatischen Seiten. In Oliver Twist heißt es einmal, als der Autor das Steuerruder allzu rasch herumreist: "In jedem guten Melodram wechseln auf der Bühne komische und tragische Dinge so regelmäßig miteinander wie die roten und weißen Schichten eines speckdurchwachsenen Schinkens." Es hat eine Dickens-Kritik gegeben, die sich über diese "Fehler" und "Mängel" niemals hinwegsetzen konnte und dazu neigte, den raffinierten Thackeray gegen ihn auszuspielen. Sie vermochte nicht zu erkennen, dass Dickens' Vorzüge von seinen sogenannten Fehlern nicht zu trennen sind, gleichsam die Kehrseite der Medaille darstellen. Dabei hat er die Welt nicht einfach vergoldet, denn es gibt in seinen Büchern Schurken von abgründiger Bösartigkeit, und überhaupt ist das Böse in seinem lebensfrohen und optimistischen Kosmos von Anfang an präsent und stark genug, diese Welt zunehmend zu verdüstern.

Ein Beispiel dafür ist die Figur des Juden Fagin aus Oliver Twist. Er verkörpert moralische Indifferenz, seelische Grausamkeit und schurkische Gesinnung gleichsam in reiner Form. Was seinen Fall besonders quälend macht, ist der Umstand, dass er vom Autor mit allen körperlichen und sozialen Merkmalen ausgestattet wird, die zur Tradition des Antisemitismus gehören. War Dickens Antisemit? Davon kann keine Rede sein, er trat sogar für die Juden ein, und der laut Orwell auch in der englischen Literatur "endemisch auftretende 'Judenwitz'" kommt in seinen Büchern nicht vor. Dickens machte Fagin zum Hehler und zum Juden, weil viele Hehler im England seiner Zeit Juden waren, denn sie genossen das zweifelhafte Privileg, gegen Zinsen Geld verleihen zu dürfen. Was Fagin für Dickens so abstoßend macht, ist nicht sein Judentum, sondern seine moralische Skrupellosigkeit.

Auch in dem letzten Roman, den Dickens vollenden konnte, Unser gemeinsamer Freund von 1865, spielen Juden eine Rolle: Mr. Riah Aaron zum Beispiel betreibt Geldgeschäfte in London - eine ehrwürdige Erscheinung im kaftanähnlichen Rock. Er wird beschrieben als gütiger und schweigsamer Wohltäter, der von den englischen Snobs und adligen Taugenichtsen ähnlich behandelt wird wie in Shakespeares Stück Shylock auf dem Rialto von den venezianischen Playboys. Aaron ist die Gegenfigur zu Fagin und repräsentiert das moralisch Gute, so wie Fagin das moralisch Verwerfliche verkörpert. Beide werden nicht als jüdische Außenseiter gezeigt, sondern als moralische Wesen, und zwar von extrem gegensätzlichem Charakter. Was nur ein weiteres Mal Dickens' primär moralische Betrachtungsweise der Gesellschaft und der Charaktere belegt: Ausschlaggebend sind nicht das Blut, das Geld, das Eigentum oder die Wirtschaftsform, ausschlaggebend sind vor allem der Charakter und der menschliche Anstand.

Als Dickens Große Erwartungen abschloss, stand er an der Schwelle zum 50. Lebensjahr. Seine äußere Erscheinung in dieser Zeit hat sein Freund und erster Biograf John Förster beschrieben. Er nannte ihn eine "sehr lebendige und etwas bizarre Gestalt". "Sein Gesicht", heißt es weiter, "war ein merkwürdiges Gegenstück zu seinem Charakter, der geschmeidig und zugleich hart und scharf war wie eine blanke Degenklinge. Der Mund im braunen Bart war groß und ausdrucksvoll wie ein Schauspielermund, und Dickens war in der Tat ein Schauspieler, oft nur zu sehr. In seinen Vorträgen konnte er sein eigenartiges Gesicht in jede der zahlreichen tollen Masken verwandeln, die die Gesichter seiner grotesken Gestalten waren." Tatsächlich hat Dickens große Vortrags- und Lesereisen unternommen, und mit besonderer und fast befremdlicher Faszination las er immer wieder die alptraumartige Szene aus Oliver Twist, in der Bill Sikes die arme Nancy ermordet. Für ihn war das Publikum wie starker Wein, und diesen Rausch wollte er bis zur Neige auskosten. Um noch einmal Chesterton zu zitieren: "Er sehnte sich weniger nach Erfolg als nach Ruhm, der alten Menschenglorie, dem Beifall und der Bewunderung des Volkes."

Diese Bewunderung ist Dickens in hohem Maß zuteil geworden. Tatsächlich hat er sein Publikum so tief beeinflußt, dass die Weltanschauung, die hinter seinen Romanen steckt, ein Bestandteil englischer Tradition geworden ist. Als er starb, verschwand mit ihm etwas Unersetzliches aus dem englischen Leben, ein Licht, das über der Geschäftstüchtigkeit und Profitbesessenheit des Jahrhunderts gestrahlt und die Menschen ermahnt hatte, das Lachen nicht zu vergessen und die wichtigste aller menschlichen Eigenschaften, die Herzensgüte.


Hanjo Kesting (* 1943) Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945.


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 97-100
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de

Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2012