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PROFIL/094: Der große Khan - Zum 100. Todestag von Henry James (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1/2016

Der große Khan
Zum 100. Todestag von Henry James

Von Hanjo Kesting


Kurz vor dem Ersten Weltkrieg führte H.G. Wells, der englische Schriftsteller, seinen jungen amerikanischen Kollegen Upton Sinclair in den New Reform Club in London ein. Dort saß an jenem Abend, in imperialer Einsamkeit, Henry James, der große Romancier amerikanischer Herkunft, der damals schon lange in England lebte. Upton Sinclair hat eine Erinnerung an die Begegnung festgehalten: "Als ich das Speisezimmer verließ, hielt mich mein Gastgeber an und flüsterte: 'Dort sitzt der Große Khan!' Er kann auch 'Großer Buddha' oder 'Großer Jupiter' gesagt haben; jedenfalls blickte ich auf und sah an einem Tisch einen großen ältlichen Herrn mit kahlem, weißlich schimmerndem Schädel und Kinnbacken, die er nachdenklich bewegte. Ich erkannte ihn sofort nach seinen Bildern, außerdem gab es um jene Zeit nur einen großen Khan in der Weltliteratur."

Henry James war damals 70 Jahre alt, ein Olympier, umgeben von magistraler Würde und einem schon zu Lebzeiten legendären (freilich nicht populären) Ruhm. Ihm galt die Anerkennung der klügsten Köpfe seiner Zeit, darunter viele bedeutende Schriftsteller. Seine gesellschaftlichen Kontakte erstreckten sich vom damaligen Premierminister Herbert Henry Asquith über Winston Churchill bis zu den besten Kreisen der britischen Aristokratie. Die jüngeren Künstler und Autoren, vorwiegend männlichen Geschlechts, die er in seinen späteren Jahren auf seinem Landsitz Rye in Sussex um sich sammelte, redeten ihn ehrerbietig mit "Master" oder "Maître" an. Nach außen führte James das konventionelle Leben eines viktorianischen Gentleman mit allen dazugehörigen Attributen: Dienerschaft, Kutsche, einem großen Garten, dem Golfspiel und einer eigenen Kirchenbank. Doch von Beruf war er Schriftsteller, und wenn er hinter der Glasfront seines Gartenzimmers saß, das er im Sommer als Arbeitszimmer benutzte, dann wirkte er, nach dem Zeugnis seiner Besucher, "wie eine große Spinne, die nach ihrer Beute ausspäht".

Sein literarisches Lebenswerk hatte der 70-Jährige im Wesentlichen abgeschlossen - er sammelte es in der New Yorker Werkausgabe. Sie umfasst zwei Dutzend dicke Bände, aber keineswegs das gesamte, erdrückend umfangreiche Werk: 20 Romane, 120 Erzählungen (einige davon in Romanlänge), Reisebücher, Theaterstücke, ein ausgedehntes essayistisches und kritisches CEuvre (eines der bedeutendsten, das ein Romanautor hinterlassen hat), schließlich rund 10.000 Briefe als Zeugnis einer lebenslang praktizierten Zeitgenossenschaft. Schon der Umfang dieser Produktion korrigiert das Bild von James als einem verspielten Esoteriker und etwas schwächlichen Chronisten der guten Gesellschaft im Fin de Siècle. Er war ein Herkules an Schöpferkraft, fruchtbar in ungebrochener Stetigkeit über fünf Jahrzehnte hinweg.

Doch beeinträchtigte diese Produktivität niemals seinen sorgfältigen Stil - jenen persönlichen, unverwechselbaren Stil, der nach James' Auffassung der einzige Schlüssel ist, der einem Schriftsteller die Tür zur Nachwelt öffnet. In den frühen Jahren war seine Prosa frisch und klar, von kraftvoller Bildlichkeit; später wurde sie herbstlich schwer und ausgereift, von wuchernder Bedeutungsfülle, überbordend von Anspielungen, verführerisch wie eine unendliche Melodie. James arbeitete an seinem Stil nicht weniger penibel als Gustave Flaubert, wenngleich müheloser. Ästhetische Vollkommenheit war ein Ziel, das er mit Leidenschaft anstrebte. Das Handwerk des Schriftstellers übte er mit priesterlichem Ernst und beinahe mönchischer Askese aus, gemäß dem Satz Flauberts: "Der Mensch ist nichts, das Werk alles." Jüngere Schriftsteller wie Wells und Sinclair sahen in der Literatur ein Mittel zur Veränderung der Welt. Für James war sie die höchste Bestimmung, der letzte Zweck, die einzige Passion seines Lebens. Darin war er ein Zeitgenosse der Kunstreligion.

Zwischen Amerika und Europa

Sein Lebensweg verlief in zwei Abschnitten und in zwei Hemisphären: in den Vereinigten Staaten, wo er geboren wurde und seine ersten Bücher herausbrachte, und in England, wo er die letzten vier Jahrzehnte seines Lebens verbrachte. Er war, wie kein anderer Schriftsteller vor ihm und nach ihm, ein Wanderer zwischen den Welten, den Erdteilen. Lebenslang litt er unter dem Zwiespalt, wählen zu müssen zwischen Europa und Amerika, zwischen den ehrwürdigen, aber schon mürben Traditionen des alten Kontinents und den damals noch verheißungsvollen Visionen des jungen. Diesen Konflikt vermochte er niemals wirklich zu lösen. Und so wie er zwischen den Kontinenten stand, stand er auch zwischen den Generationen. Keiner der großen Romanschriftsteller des 19. Jahrhunderts war sein Altersgenosse. Flaubert und Honoré de Balzac in Frankreich, Charles Dickens und William Makepeace Thackeray in England, Herman Melville und Nathaniel Hawthorne in Amerika waren eine oder zwei Generationen älter als er; Marcel Proust, James Joyce und Virginia Woolf eine Generation jünger. Lediglich der drei Jahre ältere Émile Zola, den James persönlich kannte und schätzte, ließe sich als sein ebenbürtiger Zeitgenosse nennen. Doch war der Anführer der naturalistischen Schule in weit höherem Maß sein Antipode.

Die Literarhistoriker haben für Henry James, seiner eigenen Einschätzung folgend, die Formel geprägt, er sei der erste psychologische Realist der Literatur gewesen, an der Schwelle zur Moderne, dann auch ein Erneuerer des Romans. In einer großen amerikanischen Literaturgeschichte wird er als Vollender und Überwinder des 19. Jahrhunderts bezeichnet.

Sein Lebenslauf umfasst sieben Jahrzehnte, von der Blütezeit Neuenglands über den amerikanischen Bürgerkrieg bis zum Ersten Weltkrieg, Amerikas Aufstieg zur Weltmacht, die Expansion der modernen Kräfte, der Technik, des Finanzwesens, der Ökonomie, aber auch die soziale Dynamik der Zeit, er umfasst ein Leben in zwei Weltteilen und ihren urbanen Zentren, viele Reisen, einen unerschöpflichen Reichtum an Beobachtungen, schließlich eine einzigartige Fülle literarischer Beziehungen, ein Netz, so dicht gewebt wie bei kaum einem anderen Schriftsteller der Epoche.

Im Hinblick auf Amerika, dessen Gesellschaft, seine Atmosphäre, empfand James eine fast groteske Unwissenheit, die er rückblickend in dem Satz zusammenfasste: "Ein durch häufige Anwendung abgedroschener Scherz besagte, dass ich mich in meinem Heimatland durchaus nicht zurechtfinden konnte." 1876 ließ er sich endgültig in London nieder. Die britische Hauptstadt, damals das Zentrum eines globalen Imperiums, bot ihm, nach eigenen Worten, "das kompletteste Kompendium der Welt". Hier fand der heimatlose Kosmopolit eine Wahlheimat für die letzten vier Jahrzehnte seines Lebens, an deren Ende der "Amerikaner wider Willen" feststellte, dass er zugleich der "am wenigsten eingebürgerte aller Engländer" war. Hier schrieb er den Roman Bildnis einer Dame, das abschließende Meisterwerk seiner frühen Zeit, das 1881 erschien und sein literarisches Ansehen festigte.

Die Romane der Folgezeit, etwa Die Damen aus Boston und Die Prinzessin Casamassima, sind durch ein gewisses Experimentieren gekennzeichnet, durch eine Verfeinerung im Stofflichen wie im gesamten Empfinden, durch eine immer komplexere Darstellungsweise. James' Tagebücher, die ungewöhnlich aufschlussreichen Notebooks, legen Zeugnis davon ab, wie sehr sein Schreiben das Produkt ständiger Reflexion der Grundlagen und Möglichkeiten seiner Kunst war. Immer stärker beschäftigten ihn die "Küchengeheimnisse" des Erzählens. Dadurch geriet James in den Ruf unnötiger Kompliziertheit, man sagte ihm nach, er liebe die Atmosphäre des Unbestimmten und verliere über den technischen Fragen die eigenen Themen aus dem Auge. H.G. Wells nannte ihn spöttisch einen "Leviathan, der Kieselsteine apportiert", und Thomas Hardy sprach von seiner Kunst, "in endlosen Sätzen nichts zu sagen". Andere Kritiker monierten, dass es in James' Welt nur wohlhabende Menschen gebe, deren komplizierte Gefühle nur denkbar seien in Verbindung mit großen Geldmitteln. Aber die Kulissen der vornehmen Welt hinderten James nicht, die Konventionen zu schmähen, Blicke in Abgründe zu werfen und das Phänomen des Bösen zu untersuchen, das sich unter der Maske der Schönheit und des Reichtums verbirgt. Seine späten Erzählungen, darunter die berühmte Geistergeschichte The Turn of the Screw kann man unter diesem Aspekt wie einen Gespensterreigen lesen.

Eine Bilanz des menschlichen Bewusstseins

Nach der Wende zum 20. Jahrhundert schrieb James die Romane Die Flügel der Taube, Die Gesandten und Die goldene Schale, die Trias seiner späten Meisterwerke, für die er nur drei Jahre benötigte. In ihnen gibt er, wie Ezra Pound gesagt hat, "eine allgemeine Bilanz des menschlichen Bewusstseins in den Jahrzehnten, die meinem eigenen unmittelbar vorausgehen". Man findet in diesen Büchern, unter der Larve des Gesellschaftsromans, ein seismografisches Gespür für die Bruchstellen der Zivilisation und für kommende Katastrophen, eine tödliche Durchsichtigkeit für die bedrohlichen Kräfte unter der dünnen Kruste der Konvention. Diese Bücher, schrieb Graham Greene, erhellen mit ihrer Glut den unmoralischen Hintergrund des Jahrzehnts, das dem Ersten Weltkrieg vorausging.

Den Ausbruch des Weltkriegs empfand James als "Nachtmahr, vor dem kein Aufwachen vom Schlaf Rettung bringt". Unter dem Eindruck dieses Krieges nahm er die englische Staatsbürgerschaft an, besuchte Verwundete in den Hospitälern, wie Walt Whitman 50 Jahre zuvor während des Bürgerkriegs. Dann kam ein Schlaganfall, kamen die peinvollen Tage vor seinem Tod, in denen er seiner Identität nicht mehr gewiss war. In seinen Fantasien hielt er sich für Napoleon, unterzeichnete sogar diktierte Briefe mit dem Namen des Kaisers. Sonderbare Identifikation eines Künstlers, der sein Reich in Worten abgesteckt hatte. Zu wenig ist darüber bekannt, wie sich Projektionen und Verdrängungen in Schöpferkraft verwandeln. James selbst schrieb: "Die kostbarsten Werke entspringen dem Halbdunkel des Unerforschlichen und Ungebahnten." Er starb vor 100 Jahren, am 28. Februar 1916, in London.

Neue Bücher zum Thema: Henry James: Daisy Miller. Roman (Aus dem Englischen von Britta Mümmler). dtv, München 2015, 126 S., 14,90 EUR. - Henry James: Die Europäer. Roman. (Aus dem Englischen von Andrea Ott). Manesse, München 2015, 245 S., 24,95 EUR. - Henry James: Die mittleren Jahre. Erzählung (Aus dem Englischen von Walter Kappacher). Jung und Jung, Salzburg 2015, 66 S., 12,00 EUR. - Hazel Hutchinson: Henry James. Biografie. Parthas. Berlin 2015, 224 S., 24,80 EUR.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Soeben erschien bei Wallstein, Göttingen, seine dreibändige Studie Große Romane der Weltliteratur.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1/2016, S. 85 - 87
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2016

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