Schattenblick → INFOPOOL → BILDUNG UND KULTUR → LITERATUR


PROFIL/108: Zeitgenosse der Zukunft - Fjodor M. Dostojewski nach 200 Jahren (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2021

Zeitgenosse der Zukunft
Fjodor M. Dostojewski nach 200 Jahren

von Hanjo Kesting


Am 11. November 1821 wurde Fjodor M. Dostojewksi geboren. Seine Werke zählen zur Weltliteratur: die von hoher künstlerischer Begabung zeugen, von denen aber auch beunruhigende Wirkungen ausgehen, insofern er darin die (Ab-)gründe der menschlichen Seele auslotet.

Fjodor M. Dostojewski, geboren am 11. November 1821 in St. Petersburg, gehört zu den großen, aber auch widerspruchsvollen Erscheinungen der Literatur im 19. Jahrhundert. Maxim Gorki hat seine künstlerische Begabung mit der von Shakespeare verglichen, doch gehen von seiner tiefdringenden Seelenkunst und fanatischen, religiös fundierten Wahrheitssuche auch beunruhigende Wirkungen aus.

Dostojewski war der Sohn eines Hospitalarztes aus Moskau, das zweite von sieben Kindern. Seine enge Verbindung mit dem älteren Bruder Michail suchte der Vater zu unterdrücken, indem er beide Söhne finanziell kurzhielt und getrennt erziehen ließ. Dann gab der Vater seine Arbeit im Krankenhaus auf und zog sich auf sein Landgut zurück, wo er seine Leibeigenen derartig schikanierte, dass man ihn im Sommer 1839 ermordet auffand. Es heißt, Dostojewski habe auf diese Nachricht hin seinen ersten epileptischen Anfall erlitten. Ein Trauma bleibt zurück, und zwar bis in seine späte Zeit, bis zum letzten großen Roman Die Brüder Karamasow, in dem Fjodor Karamasow den verhassten Vater repräsentiert, der einem Mordanschlag zum Opfer fällt.

Nach dem Tod des Vaters bricht Dostojewski das Ingenieurstudium ab, um sich nur noch der literarischen Tätigkeit zu widmen. 1845 beendet er seinen ersten kurzen Roman Arme Leute. Er gibt ihn einem Freund zu lesen, der das Manuskript zu dem berühmten Dichter Nikolai Nekrassow bringt. Der spricht ihn mit den Worten an: "Wissen Sie überhaupt, was Sie da geschrieben haben?" Wissarion Belinski, der führende Kritiker, begrüßt das Buch als den ersten "Sozialroman" der russischen Literatur.

Dostojewski, berauscht vom eigenen Erfolg, gibt von den 1.000 Rubeln, die er für den Verzicht auf sein väterliches Erbe erhalten hat, an einem einzigen Tag 900 aus, die restlichen 100 verspielt er beim Billard. In rascher Folge bringt er nun Werk um Werk hervor: Der Doppelgänger, Weiße Nächte, Die Wirtin oder Netotschka Neswanowna, um nur die wichtigsten Titel zu nennen - Bücher, in denen sein soziales Mitleid zunehmend jener erhitzten Betrachtungsweise Platz zu machen beginnt, die für sein Spätwerk typisch ist, dann freilich gesteigert zu fieberhafter metaphysischer Dialektik.

1847 schließt Dostojewski sich dem sogenannten Petraschewski-Kreis an. Dessen Mitglieder begeistern sich für Fourier, Proudhon und andere Sozialutopisten, treten für die Abschaffung der in Russland immer noch bestehenden Leibeigenschaft ein und ergehen sich in endlosen Diskussionen über die Notwendigkeit einer Revolution im Zarenreich. Dann kommt die Revolution 1848, wenigstens in Westeuropa, aber die Reaktion darauf wird den Anhängern Petraschewskis zum Verhängnis. Im April 1849 werden alle verhaftet und vor ein Militärgericht gestellt. Dostojewski wird der Teilnahme an "verbrecherischen Umsturzplänen" für schuldig befunden und zu acht Jahren Zuchthaus in Sibirien verurteilt. Statt den Gefangenen das Urteil einfach mitzuteilen, inszeniert die Obrigkeit auf dem Semjonowschen Platz, wo gewöhnlich die Hinrichtungen stattfinden, die finstere Komödie einer Scheinexekution. Im letzten Augenblick erfolgt die Begnadigung, danach das Anlegen der Sträflingsketten - vier Jahre wird Dostojewski sie tragen. Sie wiegen zehn Pfund und erinnern klirrend in jedem Augenblick an die Ewigkeit des Zuchthauslebens.


Abschied von der sozialen Utopie

Doch es geschieht in Sibirien unendlich viel mehr. Dostojewskij, gerade 28 Jahre alt, kommt aus dem Debattierclub der Petersburger Intellektuellen in ein Straflager für gewöhnliche Schwerverbrecher: Raubmörder, Brandstifter, Lustmörder, der sogenannte Abschaum. Er hört ihre haarsträubenden Beichten, ihre merkwürdigen Lebensgeschichten. Er sieht ihre Rohheit, aber auch die Bereitschaft zum Leiden, zur Buße, zum Wiedergutmachen einer Schuld, die keiner von ihnen leugnet. Hier nimmt sein Glaube an die Vereinbarkeit von Bestialität und sittlicher Reinheit in der menschlichen Seele ihren Anfang; hier findet er das Gottesvolk, das er später in seinen Werken verherrlichen wird; hier liegt der Grund für seine Absage an die Lehre von Rousseau und soziale Utopien jeder Art.

Zehn Jahre dauert die sibirische Isolation. Erst 1859 kehrt Dostojewski nach Petersburg zurück. Dass er ein anderer geworden ist, ist ihm selber noch nicht bewusst. Aber auch in Petersburg hat sich viel verändert. Zar Nikolaus I., dessen Hand schwer auf Russland gelastet hatte, ist 1855 gestorben. Sein Nachfolger Alexander II. setzt Reformen in Gang, die auch der Literatur zugutekommen. Zeitschriften schießen wie Pilze aus dem Boden, und auch Dostojewski gründet zusammen mit seinem Bruder Michail eine eigene Monatsschrift: Vremja (Die Zeit). Darin publiziert er die Aufzeichnungen aus einem Totenhaus als Resümee seiner sibirischen Erfahrungen. 1864 publiziert er die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, die er in qualvollen Wintermonaten abgeschlossen hat.

Ein neuer Dostojewskij wird darin sichtbar, ein Schriftsteller, der aus dem Zustand seiner geistigen Verpuppung mit einem Mal heraustritt. Der frühere soziale Humanist, der so herzzerreißend das Dasein armer Menschen schilderte, gibt in diesem Buch zu erkennen, dass er von seinen früheren Idealen nichts mehr wissen will. Dabei sind gerade diese Ideale das Brot im Russland der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts: Die Leibeigenschaft ist gerade aufgehoben worden, noch glüht das Morgenrot der Hoffnung auf freiheitliche Erneuerung. Dostojewski aber verkündet, dass er diese Freiheit nicht gemeint habe; sie ist ihm nur ein Gegenstand des Hohnes.

Sein Held aus dem Kellerloch, der sich mit den Worten vorstellt: "Ich bin ein kranker Mensch, ein schlechter Mensch, ein abstoßender Mensch", wendet sich an die ganze Menschheit und schraubt sich immer höher bis zur Negation all dessen, was den Zeitgenossen lieb und teuer ist: der Glaube an die Vernunft, den Fortschritt, die soziale Gerechtigkeit, die Zivilisation, die Aufklärung usw. Nichts, rein gar nichts bleibt von seinem Hohn verschont. Freiheit bedeutet für den Kellerloch-Menschen nicht mehr soziale Emanzipation, sie erscheint jetzt als etwas Irrationales, als eine Dimension der Versuchung, nämlich als die Möglichkeit, das Gute wie das Böse hervorbringen zu können.

Die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch sind der Schlüssel zu den großen metaphysischen Romanen Dostojewskis, die noch folgen werden. Als dieses geistige Pamphlet im März 1864 in seiner neuen Zeitschrift Epocha, der Nachfolgerin der verbotenen Vremja, erscheint, wird es vom geistigen Russland mit einem Entsetzensschrei begrüßt. Die schroffe Absage an den Liberalismus kostet Dostojewski viele Abonnenten, und so muss er seine Zeitschrift nach einem Jahr wieder einstellen. In fieberhafter Eile macht er sich an einen weiteren Roman, den er im Voraus verkauft hat: Schuld und Sühne erscheint 1866 in Fortsetzungen im Russischen Boten des konservativen Verlegers Katkow; er bringt Dostojewski zum ersten Mal auch außerhalb Russlands den Ruf eines großen Schriftstellers ein.

Im Februar 1867 heiratet er die über 20 Jahre jüngere Anna Grigorjewna. Mit ihr tritt eine Frau in sein Leben, die ihn nicht nur aus seinen finanziellen Katastrophen rettet und von seiner Spielsucht heilt, sondern auch vor dem drohenden Verlust seiner Kreativität. Die Ehe wird von Dostojewski ohne Leidenschaft, aber mit Zuneigung und grenzenloser Dankbarkeit geführt. Mitte 1867 verlassen die beiden Russland und begeben sich auf eine Odyssee durch Europa, die vier Jahre dauert, immer in Hetze, von drückenden Schulden und einzulösenden Pfandscheinen in Angst und Schrecken versetzt, immer auf der Flucht vor zänkischen Vermietern und auf der Suche nach einer billigen Bleibe. Auf dieser ruhelosen Reise schreibt Dostojewskij den Roman Der Idiot und den größten Teil der Dämonen (auch unter dem Titel Böse Geister übersetzt). Als er im Juli 1871 nach Russland zurückkehrt, steht er im Zenit seines Schaffens.


Ein Weltgebäude aus Romanen

Man hat die großen Romane Dostojewskis, die mit Schuld und Sühne beginnen und bis zu den Brüdern Karamasow führen, als "Ideenromane" oder "Romantragödien" oder auch als "apokalyptische Mysterien" bezeichnet. Ihr Ziel ist jedes Mal die Katastrophe. Sie mag gleich zu Anfang oder erst am Ende stattfinden, wie ein Naturereignis hereinbrechen oder sorgfältig vorbereitet sein, stets entwickelt sie sich mit unabänderlicher Gesetzmäßigkeit und in einer Atmosphäre voll vibrierender Spannung, wie in einem gutgebauten Theaterstück.

Dass Dostojewskis Romane von dramatischem Charakter sind, ist oft bemerkt worden. Vergleicht man sie mit den Büchern etwa von Turgenjew, die in ihrer Zeit so aktuell und modern erschienen, begreift man schnell, dass Dostojewskis Atheisten, Anarchisten und Terroristen einer anderen Größenordnung, aber auch einer kommenden Zeit angehören - Schatow, Kirillow, Werchowenski, Stawrogin sind bereits Figuren des 20. Jahrhunderts. Als Emanationen spekulativen Denkens haben sie einen Anspruch auf literarische Ewigkeit.

Die Arbeit am "Weltgebäude" der großen Romane ist für Dostojewski in diesen 70er Jahren nur möglich, weil er endlich familiären Frieden gefunden hat. Auch finanziell geht es aufwärts, wenngleich langsam. Anna Grigorjewna gelingt es, sich mit den Gläubigern zu arrangieren. Als sich nach dem Vorabdruck der Dämonen im Russischen Boten kein Verleger für die Buchausgabe findet, gibt sie diese im Selbstverlag heraus. Und sie wiederholt das Experiment noch erfolgreicher mit Dostojewskis Tagebuch eines Schriftstellers. Fast zwei Jahre lang erscheint die Monatsschrift, für die Dostojewski sämtliche Beiträge selber verfasst: Visionäres und Polemisches, aber auch Fragwürdiges und Reaktionäres, nicht zuletzt einige sublime Erzählungen seiner späten Zeit wie der Traum eines lächerlichen Menschen. Die Zahl der Abonnenten steigt stetig. Die Zeitschrift wird nur deshalb eingestellt, weil Dostojewski sich Ende 1877 an die Niederschrift der Brüder Karamasow macht, die drei Jahre in Anspruch nimmt.


Weltruhm an der Schwelle zum Tod

Der große Roman reißt bei seinem Erscheinen 1880 das gesamte geistige Russland zur Bewunderung hin. Am Ende von Dostojewskis Leben kommt der Ruhm, auch schon der Anfang des Weltruhms. Im Juni 1880, ein halbes Jahr vor seinem Tod, hält er in Moskau die große Puschkin-Rede, aus Anlass der Enthüllung eines Puschkin-Denkmals. Man bringt ihm Ovationen dar, wie sie bis dahin noch keinem russischen Schriftsteller zuteil geworden sind. In einem Brief an Anna Grigorjewna, die an den Feierlichkeiten nicht teilnehmen kann, heißt es: "Ich kann Dir die Begeisterung nicht wiedergeben, als ich geendet hatte: einander unbekannte Menschen aus der Zuhörerschaft weinten, schluchzten, umarmten einander und gelobten, in Zukunft bessere Menschen zu werden, ihre Mitmenschen zu lieben, statt sie zu hassen."

Dostojewskij starb im Januar 1881, noch keine 60 Jahre alt. Er hatte noch viele literarische Pläne. Er wollte seine Erinnerungen schreiben, einen Christus-Roman und eine Fortsetzung der Brüder Karamasow, in der Aljoscha, der jüngste der Brüder, sein Kloster verlässt, um sich den Revolutionären anzuschließen - schließlich wird er als Terrorist zum Tode verurteilt. Zu seinen weiteren Plänen gehörte ein russisches Gegenstück zu Voltaires Candide, worin der Protagonist die Welt nicht mehr als die beste, sondern als die schlechteste aller Welten versteht. Wie Iwan Karamasow gibt Dostojewskis Candide "Gott ehrfürchtig seine Eintrittskarte zurück". An seinem Todestag las Dostojewski, nach dem Bericht von Anna Grigorjewna, die mit ihm die letzten Stunden verbrachte, im Matthäus-Evangelium - darin die Worte: "Haltet mich nicht zurück." Es war der 28. Januar 1881. Drei Tage später wurde er im Petersburger Alexander-Newski-Kloster beigesetzt, Zehntausende folgten seinem Sarg.


Hanjo Kesting
ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bei Wallstein sind 2019 seine dreibändige Studie Große Erzählungen der Weltliteratur sowie der Essay Theodor Fontane. Bürgerlichkeit und Lebensmusik erschienen.

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2021, S. 54 - 58
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-7151, -52, -53, Telefax: 030/269359238
E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 7. Dezember 2021

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang