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SF-JOURNAL/042: Autoren... P.K.Dick, Realität ist kein sicherer Boden (SB)


Philip K(indred) Dick, (1928-1982)


Es ist absurd, daß er tot ist. Seine finstere, beunruhigende Phantasie lebt in "Blade Runner" weiter, dem alptraumhaften Film Noir, den Ridley Scott aus seinem Roman "Do Androids Dream of Electric Sheep?" gemacht hat. Er lebt auch im Cyberpunk weiter, obwohl er zwei Jahre bevor William Gibson "Neuromancer" publizierte starb. Seine 45 Romane sind auch heute noch lebendig.
(John Clute: Science Fiction. Die illustrierte Enzyklopädie, Heyne Verlag, München 1996, S. 162)

Stanislaw Lem hält Philip K. Dick für den einzigen amerikanischen Science Fiction Autor, der es wert ist, gelesen zu werden!


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Persönliche Daten und Werke

Philip K(indred) Dick wurde 1928 in Chicago geboren. Er studierte Literatur und Literaturgeschichte an der Universität von Berkeley/Kalifornien. Dick war sehr belesen. Schriftsteller wie Kafka, Proust, Joyce, Flaubert, Baudelaire, Rilke, Thomas Mann und Hemingway waren seine bevorzugten Autoren, in der Science Fiction Sturgeon, van Vogt, Vonnegut, Asimov, Bradbury und Clark. In dieser Zeit schlug er sich mit vielen Gelegenheitsjobs durch, zum Beispiel als Verkäufer in einem Plattenladen.

1952 begann er seine Karriere als Science Fiction Schriftsteller. 100 Stories wurden in den ersten 12 Jahren seiner Schriftstellertätigkeit veröffentlicht. In der Zeit von 1952 bis 1956 schrieb er hauptsächlich Kurzgeschichten für verschiedenste SF-Magazine. Danach, in den 60er Jahren wendete er sich dem Schreiben von Romanen zu. Man kann sagen, daß er inhaltlich zu den vorantreibenden Kräften der Science Fiction in den 50er und 60er Jahren gehörte, wenn auch viele seiner frühen Werke erst nach seinem Tod erschienen. Er schrieb schnell und sprunghaft -mit dem Ergebnis, daß Meisterwerke und kommerzielle Texte einander jagten.

Beginn der 70er Jahre machte Dick eine schwere psychische Krise durch. Bei starkem wirtschaftlichem Druck hatte er unter Einfluß von Aufputschmitteln geschrieben, wurde auffällig, eventuell auch durch seine Popularität, und bekam wachsenden Ärger mit Kaliforniens Behörden, die ihn als Staatsfeind betrachteten.

In seinen letzten Jahren wendete er sich religionsphilosophischen Fragen zu, zum Beispiel in der "Valis-Trilogie", wo es um den Kampf zwischen Gott und Satan geht. Mit R. Zelanzny zusammen schrieb er "Deus Irae".

Den Film "Blade Runner", der nach seinem Roman "Androids Dream of Electric Sheep?" gedreht wurde, erlebte er nicht mehr.


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Das Werk Philip K. Dicks erscheint zur Zeit in lockerer Folge im Haffmanns Verlag. Einer der Gründe, warum sich Dicks Werk bis zum Jahr 2000 einer immer noch wachsenden Beliebtheit erfreut, liegt in dem Mythos, der den Autor umgibt. Seine Romane und Kurzgeschichten faszinieren durch bizarre Einfälle. Sie sind kompliziert aufgebaut und haben oft mehrere Realitätsebenen. Das führte zu Dicks Lebzeiten aber auch dazu, daß man je nach Belieben seine Beschäftigung mit Paralleluniversen seinem Interesse an bewußtseinserweiternden Drogen oder religiösen Neigungen bzw. Wahnvorstellungen zuschrieb. Zudem war er kein bequemer Mensch, seine publizistische Laufbahn war so unstet wie sein Leben. Er war mehrmals verheiratet und flüchtete sich jahrelang in Paranoia.

In den Paralleluniversen von Dick ist der Mensch ein Auslaufmodell, voller Mängel. In keiner der vielen Zukunftswelten wird dieser Mangel behoben. Für ihn gibt es nicht einmal eine linear-chronologische Zeit, die in eine bestimmte Richtung führt, was ihn von den Visionen anderer Science Fiction Autoren unterscheidet. Die Erzählmotive sind typisch für seine Zeit: Nach einem großen Krieg ist eine zerstörte Welt die leere, trostlose Heimat für die Überlebenden. Häufig sind es Roboter oder Aliens, die den Krieg ausgelöst haben, oder durch Radioaktivität entstandene Mutationen, gegen die auch in der neuen Zeit gekämpft werden muß. Der Leser sollte sich nicht auf festem Boden wähnen, denn nicht selten stellt sich am Ende der Erzählung das für wahr Gehaltene als reine Vorstellungswelt heraus, die sich in ihre Bestandteile auflöst. Realität ist bei Dick kein sicherer Boden und die Personen nehmen sie oft unterschiedlich wahr. Dicks literarische Welten werden oft aus verschiedenen, nicht in Übereinstimmung zu bringenden Perspektiven geschildert. Diese fortlaufende Verunsicherung von Romanhelden und Lesern, die Unterminierung einer streng chronologischen Zeit unterscheidet Dicks Vorstellungen von den Zukunftswelten, wie Heinlein und Asimov sie erfanden, in denen die Gegenwart in die Zukunft hinein verlängert wird und die kommende Zeit als eine Art zu erobernder Raum konzipiert ist.

Was Dicks Werke so besonders und gleichzeitig vertraut macht, ist der Verzicht auf heroische Romancharaktere. Er entwickelt keine strahlenden Helden, Welteneroberer oder geniale Wissenschaftler, wie sie sonst typisch für SF-Literatur sind, sondern bevorzugt unscheinbare Leute, Verkäufer oder Vertreter, gegen die sich die ganze Welt verschworen hat und die darum kämpfen, die wirkliche Struktur ihrer Umwelt zu erkennen. In einem Interview meinte Dick dazu:

Zwei Dinge in meinen Romanen interessieren mich. Einerseits die philosophische, soziologische, theologische oder politische Grundlage, zum anderen die Charaktere. Die Charaktere sehen sich der soziologischen Grundlage des Romans ausgesetzt; zumeist erkläre ich an ihnen das System. Einerseits gibt es Beherrscher des Systems, Leute, die Macht ausüben, und andererseits Opfer, die auf der Verliererseite stehen. [...] Für mich liegt das wichtigste Anliegen darin, die Art von Menschen zu beschreiben, die ich wirklich kenne, die mir schon begegnet sind, und sie in außergewöhnliche Welten und ebensolche Gesellschaften zu transportieren. Mir wird oft vorgeworfen, in meinen Romanen kämen nur Antihelden vor. Wenn aber irgend jemand behauptet, meine Protagonisten seinen Antihelden, verwechselt er den echten Menschen mit irgendwelchen Geistesriesen oder Nihilisten, deren Werte in der Hölle schmoren und die keinen Selbsterhaltungstrieb besitzen. Ich jedoch nehme nur Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, Freunde, Handwerker und verspüre eine enorme Befriedigung dabei.
(aus dem Nachwort von Hans J. Alpers, in P.K. Dick: Joe von der Milchstraße, Rastatt 1984, S.190)

Die Sehnsucht, ihre Welten zu verlassen und sich neue und bessere zu suchen, ist diesen Figuren gemeinsam. Sie leben meist unter kargsten Bedingungen wie die Marsbewohner in "Palmer Eldritch" oder die unter Wasserknappheit leidenden Kolonialisten in "Marsianischer Zeitsturz" (beide 1964) oder die ein stinklangweiliges Angestelltendasein führenden Telepathen aus "UBIK" (1969).

In "Palmer Eldritch" sind es zwei konkurrierende Drogen, die den Bewohnern heruntergekommener Marskolonien den Ausstieg aus "ihrer" Zeit in schmerzfreie Welten hinein erlauben. Ein zehnjähriger schizophrener Junge öffnet in den Kolonien aus "Marsianischer Zeitsturz" Fenster in die Zukunft. Hier ragt eine andere Zeit in die offizielle Gegenwart hinein. In "UBIK" ist es die Erfindung einer Box, in der Verstorbene in einer Art Dämmerzustand zwischen Leben und Tod gehalten werden können, die die Zeitläufe stört. Nach dem Tod ihres Chefs, von dem sie aus seiner Box heraus zunehmend kryptische Botschaften erhalten, werden die Telepathen Zeuge, wie sich ihre eigene Welt zusehends zurückentwickelt und in ihre Bestandteile auflöst. Sind vielleicht die Telepathen selbst gestorben?

Politisch ambitioniert ist Philip K. Dicks Werk nicht. Es läuft, seinen Inhalten entsprechend, allen Bestrebungen, es einzuordnen, zuwider: Das herkömmliche Verständnis der Welt erweist sich als unzureichend, gewisse Phänomene zu erklären. Zwischen Leben und Tod liegen viele Schattenreiche.


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Leseprobe

Wie sich in UBIK zwei verschiedene Zeiten begegnen, wird gleich zu Beginn des Romans geschildert. Im Moratorium "Unsere lieben Anverwandten" können sich Kunden mit sogenannten "Halblebenden" unterhalten, meist ihren Verwandten, die dort jahrelang tiefgefroren aufbewahrt werden. Als der Besitzer Herbert Schönheit von Vogelsang morgens öffnet, steht schon ein Kunde am Empfangstresen, eine Kontrollmarke in der Hand:

"Ja, mein Herr", wandte sich Herbert mit leutseligem Lächeln an ihn. "Ich nehme Ihren Abschnitt persönlich entgegen."

"Es handelt sich um eine ältere Dame", sagte der Kunde. "Etwa achtzig, sehr klein und vertrocknet. Meine Großmutter."

"Ich bin gleich wieder da." Herbert ging zu den
Kaltpackungsregalen hinüber, um die Nummer 3054039-B
herauszusuchen.

Als er das Fach ausfindig gemacht hatte, prüfte er die Begleitpapiere. Danach verblieben nur noch vierzehn Tage im Halbleben. Nicht sehr viel, dachte er. Automatisch drückte er den transportablen Protophasen-Verstärker in die durchsichtige Plastikumhüllung des Sarges, stellte ihn ein und lauschte, auf welcher Frequenz die Gehirntätigkeit sich anzeigte.

Eine schwache Stimme kam durch den Lautsprecher: "... und dann verstauchte Tillie sich den Knöchel, und wir dachten, das würde niemals heilen. Sie führte sich ganz verrückt auf, wollte trotzdem damit herumlaufen ..."

Zufrieden zog er den Verstärker wieder heraus und rief einen zuständigen Arbeiter herbei, damit er die Nummer 3054039-B in das Besuchszimmer beförderte, wo die Verbindung zwischen dem Gast und der alten Dame hergestellt werden würde.

"Sie haben sie überprüft, nicht wahr?" fragte der Kunde, als er die fälligen Poskreds bezahlte.

"Höchstpersönlich", antwortete Herbert, "funktioniert tadellos." Er drückte auf einige Schaltknöpfe und trat zurück.

"Einen frohen Auferstehungstag, mein Herr."

"Danke." Der Kunde nahm dem Sarg gegenüber Platz, dessen Kaltpackungshülle dampfte. Er steckte sich eine Hörkapsel ins Ohr und sprach mit fester Stimme in das Mikrophon. "Flora, Liebling, kannst du mich hören? Ich kann dich, glaube ich, bereits hören. Flora?"

Wenn ich einmal sterbe, dachte Herbert Schönheit von Vogelsang, werde ich meine Erben testamentarisch bitten, mich jedes Jahr einmal wieder ins Leben zurückzurufen. Auf diese Weise kann ich das Schicksal der Menschheit mitverfolgen. Allerdings würde das für die Erben ziemlich hohe Unterhaltskosten bedeuten - er wußte, wovon er sprach. Früher oder später würden sie dagegen rebellieren, seinen Körper aus der Kaltpackung nehmen und - Gott behüte - begraben.

"Begräbnisse sind etwas Barbarisches", murmelte Herbert, "Überreste der primitiven Anfänge unserer Kultur."

"Ja, mein Herr", pflichtete ihm die Sekretärin an der Schreibmaschine bei.
(aus Philip K. Dick: UBIK, 1969 by Dick, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1977, S. 9f)


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Autoren
- Persönliche Daten
- neue Akzente für die Science Fiction-Literatur
- Zur Schreibtechnik
- Stellungnahmen zur Science Fiction
in Interviews und Romanen
- Werke mit Auszeichnungen und Verfilmungen
- Leseproben

Erstveröffentlichung 2000

8. Januar 2007