Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → REPORT

BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)



Transplantionsmedizin - tödliche Spitze gesellschaftlicher Verwertung

Andreas Zieger - ein Mediziner sucht die kritische Öffentlichkeit - Foto: © 2011 by Schattenblick

Andreas Zieger - ein Mediziner sucht die kritische Öffentlichkeit
Foto: © 2011 by Schattenblick

Zwei arme Schneidergesellen bieten dem Kaiser Kleider aus Stoffen an, die nur der sehen könne, so sagen sie, der für das hohe Amt geschaffen sei. Dieser Verlockung konnte der Herrscher nicht widerstehen und bestellte die Kleider, obwohl er die ihm vorgeführten Stoffe selbst gar nicht sehen konnte. Bei der ersten Anprobe der ihm durch die Gesellen vollmundig angepriesenen Kleider konnte er ebenfalls nichts erkennen. Sein Hofstaat stimmt in den Lobgesang über "des Kaisers neue Kleider" ein, bis schließlich ein kleines Kind fragt: Aber der Kaiser hat doch gar nichts an?

Dieses sattsam bekannte Märchen des dänischen Schriftstellers Hans-Christian Andersen stellt aufs Anschaulichste klar, wie es kommen kann, daß in einem gesellschaftlichen System nahezu alle Beteiligten wider besseren Wissens einer bestimmten Auffassung oder Position den Vorzug geben. Die Interessen des Kaisers, der Schneidergesellen, des Hofstaats und aller übrigen Bewohner des Kaiserreichs, die sich durch diese Beteiligung ihre Vorteile zu sichern suchen oder schlicht aus Angst vor Strafe oder dem ihnen womöglich drohenden Ausgeschlossenwerden den Schwindel mitmachen, sind nicht schwer zu analysieren.

Wenn also das eigentlich für jeden Offensichtliche ignoriert, in sein Gegenteil verkehrt oder auf andere Weise schöngeredet wird, rückt die Frage nach dem Beteiligungsinteresse in den Vordergrund. In Hinsicht auf die moderne Medizin und namentlich ihren in den Bereich der Teildisziplin "Transplantationsmedizin" verorteten größten räuberischen Zugriff auf den menschlichen Körper und damit auch das Leben des Menschen soll diese scheinbar weit hergeholte Einleitung den Fingerzeig in dieselbe Frage nach den Beteiligungsinteressen aller in ihr Tätigen wie auch der politischen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen legen. Transplantationsmedizin scheint zum gesellschaftlichen Alltag in der Bundesrepublik Deutschland wie fast allen medizintechnologisch dementsprechend weitentwickelten Industriestaaten zu gehören. Sie wird im allgemeinen hingenommen, als existent vorausgesetzt und akzeptiert; eine gesellschaftlich kontrovers anmutende Debatte entzündet sich bestenfalls noch an der Frage, ob und mit welchen Mitteln die mangelnde Bereitschaft vieler Bundesbürger, sich als "Organspender" zur Verfügung zu stellen, beackert werden sollte.

Der Mediziner Andreas Zieger [1] hat sich mit seinem Vortrag über "Die Todespolitik der modernen Medizin" um Aufklärung bemüht und den Schleier jahrzehntelanger Desinformationspolitik, um nicht zu sagen gezielter Propaganda, zu lüften versucht. Auf der Basis seiner auch von Kritikern seiner Stellungnahme schwerlich in Abrede zu stellenden Sachkompetenz hat Zieger die ihm auf Kampnagel gebotene Gelegenheit genutzt, um über die von ihm bislang beschrittenen publizistischen Wege hinaus die Öffentlichkeit zu suchen bzw. dazu beizutragen, eine kritische Öffentlichkeit herzustellen in Hinsicht auf eine Frage, die seiner Meinung nach nicht von Medizinern, sondern der Gesellschaft geklärt und beantwortet werden muß: Wie wollen wir zusammenleben? Unter welchen Bedingungen können menschliche Organe entnommen werden? Eine Denkmöglichkeit, die er keineswegs befürworte, sei die Idee "mehrerer Tode".

Texttafel aus dem Vortrag - Eine Medizinethikerin propagiert mehrere Tode - Foto: © 2011 by Schattenblick

Eine Medizinethikerin postuliert den Tod vor dem Tod
Foto: © 2011 by Schattenblick

Selbstverständlich kann es "verschiedene Tode" nicht geben. Der Referent bezieht sich mit diesem Ausdruck auf die von ihm mit folgenden Worten zitierte Medizinethikerin Claudia Wiesemann von der Universität Göttingen: "Der Tod, der mich ins Jenseits führt, ist ein anderer als der Tod, der es erlaubt, meine Organe zu entnehmen." Eine solche Definition ist jedoch nicht Teil der Klarstellung, sondern nach wie vor der Verschleierung des Problems. Wenn diese beiden Todeszeitpunkte nicht identisch sind, ist einer von ihnen, da ein Mensch nicht zweimal sterben kann, gelogen. Da einerseits nach der zur Zeit in der Bundesrepublik Deutschland gültigen Rechtslage nur einem toten Menschen Organe entnommen werden dürfen (tote-Spender-Regel), andererseits die Begehrlichkeiten des transplantationsmedizinischen Verwertungszugriffs auf die unmittelbarste Substanz des Menschen "lebendfrischen Organen" gelten, liegt auf der Hand, warum der Mensch zum Zeitpunkt der Organentnahme für tot erklärt werden muß.

Zieger führte in das äußerst brisante Thema seines Vortrags ein, indem er zunächst erklärte, der einzelne Mensch sei "ein Subjekt von Sterben und Tod" und würde - hier machte der Referent einen disziplinübergreifenden Rückgriff auf Axiome der Psychologie - seine erlebte Todesfurcht verdrängen und somit den Tod nicht als Chance begreifen, "auf unser Leben zu schauen und unser Leben von der Todesfurcht her zu leben". Im Laufe der Menschheitsgeschichte hätten sich das Überleben und die Fähigkeiten, den Tod psychologisch abzuwehren durch den Schutz von Gemeinschaft, Staat, Hygiene und Medizin entwickelt, woran die moderne Medizin, so Zieger, einen großen Anteil habe.

In seinem medizinhistorischen Rückblick datierte der Referent die Entstehung der modernen Medizin auf die Mitte des 19. Jahrhunderts. Da weder Seele noch Geist, die man sich als Substanz vorgestellt hätte, bei den zum Teil öffentlich durchgeführten Sezierungen hingerichteter Menschen gefunden worden waren, konnten sich die sogenannten "Physikalisten", die die Medizin auf eine ausschließlich naturwissenschaftliche Basis stellten und nur gelten ließen, was sie messen, beobachten und beurteilen zu können glaubten, um die vorletzte Jahrhundertwende durchsetzen. Damit wurde, so Ziegers These, die Medizin zunehmend "ihrer geistigen Grundlagen entledigt" mit Folgekonsequenzen, die bis auf den heutigen Tag andauern:

Und die Krankheitskunde hat sich dann nicht mehr mit dem Kranksein, mit der Lebenssituation von Menschen, beschäftigt, sondern mit der Krankheit und deren Klassifikation. Und man hat versucht Therapieansätze zu finden, dadurch daß man Experimente gemacht hat und auch Menschen-, Tier- und andere -versuche und -studien. Die Sicherung des Überlebens und das Nutzbarmachen von Leben, Körper und Tod ist dann eine ganz logische Folge dieser Grundfigur im medizinischen Denken und Handeln.

In dem von Zieger so treffend bezeichneten "Nutzbarmachen" auch lebender Körper durch die Medizin als einer der grundlegendsten Herrschaftswissenschaften moderner Gesellschaften bricht sich ein Utilitarismus Bahn, der sich mit dem behaupteten Ethos demokratischer Rechtsstaatlichkeit ebensowenig vereinbaren läßt wie mit dem Hippokratischen Eid. Doch soweit geht Zieger nicht. Er beschreibt den nach den beiden Weltkriegen zu verzeichnenden medizin-technologischen Fortschritt und benennt die technisch bzw. industriell geschaffenen Voraussetzungen, um mit Intensivmedizin, Reanimationstechnik, Anästhesie und Narkose, aber auch dem Rettungssystem ein neues Kapitel in dem durch die Medizin geführten Kampf ums Überleben aufschlagen zu können. Den Widerspruch zwischen der lebensrettenden Funktion der modernen Medizin und Chirurgie und der in diesem Prozeß gleichermaßen vollzogenen Verfügbarmachung, Manipulation und "Verbesserung" des menschlichen Körpers benannte der Referent nicht.

Einer der Schwerpunkte seiner Argumentation lag auf den Todeskonzepten der modernen Medizin. In den zurückliegenden zwanzig Jahren habe sich in dieser Hinsicht ein starker Wandel vollzogen. Bis 1997 galt, wie schon in zweitausend Jahren abendländischer Kultur, auch in Deutschland das Herztod-Konzept. Dies besagte, daß ein Mensch tot ist, wenn sein Herz stillsteht, der Körper nicht mehr durchblutet wird und die Organe absterben. Wenn in diesem Sterbeprozeß auch die Gehirnteile nicht mehr durchblutet werden, die die Atmung steuern, komme es zum Atemstillstand, dem buchstäblichen "letzten Atemzug". Diese Kriterien mögen sich mit den Wahrnehmungen vieler Menschen, die das Sterben anderer begleitet haben, decken; gleichwohl sind auch sie nicht frei von Zweifeln. Zieger erwähnte in diesem Zusammenhang das Scheintodproblem, das in früheren Zeiten eine große Rolle gespielt und dazu geführt habe, daß man "Toten" ermöglichte, durch eine Klingel im Sarg mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Um dem Problem lebendig begrabener Menschen zu begegnen, sei die Frage nach sicheren Zeichen des Todes aufgekommen, und den Medizinern wurde die alleinige Kompetenz übertragen, den Tod eines Menschen festzustellen.

In den 1950er und 1960er Jahren konnten Menschen reanimiert werden. Nach mehreren Minuten des Herzstillstandes hatten diese Patienten jedoch häufig schwerste Hirnschädigungen erlitten, so daß sie nicht wieder erwachten. Nach einer Definition von 1959 wurde ihr Zustand als "überschrittenes Koma" oder "Ultra-Koma" bezeichnet, die weiterlebenden, nun beatmeten Menschen wurden "Falschlebende" genannt. Die vermuteten schweren Hirnschädigungen wurden als "Ganzhirntod" oder auch nur als "Teilhirntod" bezeichnet je nachdem, wieviel Gehirn für abgestorben gehalten wurde. Diese Begriffsgebungen lassen bereits darauf schließen, daß der medizinische Fortschritt Menschen am Leben belassen hat, an deren Fortexistenz - sieht man einmal von medizinischen Forschungsabsichten ab - kein gesellschaftliches Verwertungsinteresse bestand.

Was nun folgte, haben neben Andreas Zieger auch viele andere Referenten auf dem Kongreß, so ihre Themenbereiche den Zusammenhang zwischen der Hirntoddefinition und den Begehrlichkeiten der Transplantationsmedizin auch nur berührten, nicht unerwähnt gelassen. 1968 führte an der Harvard University eine aus Theologen, Juristen und Medizinern gebildete Ad hoc-Kommission das sogenannte "Hirntod"-Konzept ein. Damit wurde ein völlig neues Todeskriterium geschaffen für Menschen, deren Sterbeprozeß unumkehrbar geworden sei, die sich also in einem "irreversiblen Koma" befänden und nur weiterleben können unter den Bedingungen künstlicher Beatmung und intensivmedizinischer Pflege. Der Referent nahm hier klar Stellung und konfrontierte seine Zuhörer mit einem Zitat des Vorsitzenden der Harvard-Kommission Henry K. Beecher, der seinerzeit erklärt hatte, eine schwere Last läge auf den Patienten, ihren Familien, den Krankenhäusern und "auf solchen Patienten, die auf von diesen komatösen Patienten belegte Krankenhausbetten angewiesen sind".

Zieger stellte klar, daß selbstverständlich der Bettenmangel nicht der (ausschließliche) Grund für die neue Hirntoddefinition gewesen sei. Als "Ultrakomatöse" bezeichnete Menschen konnten und wurden auf dieser Basis der Transplantionsmedizin zugeführt, was ungeschminkt formuliert bedeutet, daß sie ausgeweidet wurden. Den durch die große zeitliche Nähe zu der im Dezember 1967 von Christiaan Barnard in Kapstadt durchgeführten ersten Herztransplantion auf der Hand liegenden Zusammenhang zwischen dem erwachenden Bedarf der Transplanteure an "lebendfrischen" menschlichen Organen und der Hirntod-Definition stellte der Referent mit klaren Worten heraus. Der Zweck, Organe zu beschaffen, habe zu der neuen Todesdefinition geführt, so Zieger. Was unter einem "Hirntod" verstanden wurde, beschrieb der Referent folgendermaßen:

Man ist davon ausgegangen, daß das Gehirn alle Lebensfunktionen steuert. Und wenn das Gehirn nicht mehr funktioniert, daß dann sozusagen keine Lebensfunktionen mehr im Körper ablaufen können. Und man hat gesagt, dann kommt es zum Zusammenbruch aller Lebensvorgänge. Das ist also an das Hirntodkonzept geknüpft. Und man hat auch gesagt, "Hirntod ist der Zeitpunkt der Unumkehrbarkeit". Man weiß gleichzeitig, Transplantationen sind nur mit lebendfrischen Organen erfolgreich. Also eine gewisse Zeit können die Organe etwas länger überleben als das Gehirn. Dann müssen sie aber auch schon tiefgefroren zubereitet sein, um dann explantiert zu werden.

Zu Beginn seines Vortrags hatte Andreas Zieger ausgeführt, daß bei der Todesdefinition nach dem Herztodkonzept nach klassischen, als sicher geltenden Todeszeichen gesucht worden sei, die kurz nach einem Atem- und Herzstillstand aufträten (allgemeine Blässe, Kreislauf zirkuliert nicht mehr, kein warmes Blut fließt mehr durch die Adern, die Haut wird blaß, Leichenflecken und Leichenstarre). Diese Todeszeichen, die niemals zusammen mit Lebenszeichen auftreten, zeigten nach damaliger Vorstellung den Tod eines Menschen an. In der heutigen Hirntoddiagnostik allerdings, so stellte der Referent klar, wiesen als "hirntot" bezeichnete Menschen zahlreiche Lebenszeichen auf. Ihre Haut wird durchblutet, sie können sich bewegen und haben einen Herzschlag. Hormonausschüttungen finden statt, künstliche Atembewegungs- und Ausscheidungsfunktionen werden aufrechterhalten.

Anatomietheater mit Babypuppe auf Seziertisch - Auf der Suche nach Lebenszeichen? - Foto: © 2011 by Schattenblick

Auf der Suche nach Lebenszeichen? Anatomietheater auf dem Kongress
Foto: © 2011 by Schattenblick

Es hat Schwangerschaften und Geburten bei für hirntot erklärten Frauen gegeben und Erektionen bei "hirntoten" Männern. Für hirntot erklärte Menschen können sich, wie der Referent anhand eines Fotos belegte, sogar aufrichten und gurgelnde Laute ausstoßen. Es ist kaum zu erklären und für alle Beteiligten schwer zu verkraften, daß "tote" Menschen zu solchen, als "spontan" bezeichneten Bewegungen in der Lage sein sollen. Zieger spricht in diesem Zusammenhang von dem "gleichzeitigen Vorhandensein von Lebens- und Todeszeichen", was allerdings in sich nicht ganz schlüssig ist, weil es die Deutung nahelegt, ein Mensch könne gleichermaßen tot wie lebendig sein. Wenngleich der Referent an dieser Stelle nicht die Frage aufwarf, ob die auf der Basis der Hirntoddefinition festgestellten vermeintlichen Todeszeichen keineswegs Merkmale des Todes, sondern beispielsweise einer schweren Hirnschädigung sein könnten, merkte er kritisch an:

Wenn man in Richtung Hirntoddiagnostik gehen möchte, dann suchen wir in den Kliniken nach Todeszeichen und vernachlässigen die noch vorhandenen Lebenszeichen.

Allerdings, und dies ist eine der Kernaussagen des gesamten Vortrags, sind die wissenschaftlichen Grundlagen für die Hirntod-Definition inzwischen widerlegt. Seit bereits zehn Jahren gäbe es medizinische Befunde, die belegten, daß das Gehirn keineswegs das Steuerungsorgan des Gesamtorganismus sei, sondern daß dieser gewisse autonome Lebensfunktionen habe. Dabei handele es sich um das Nerven- und Hormonsystem regulierende Funktionen, das Wachstum von Nägeln und Haaren, Restfunktionen von Hirnstammzellen mit einer Erholungsfähigkeit unter Therapie. Auch sei erwiesen, daß sehr wohl Schmerzreaktionen erhalten blieben, was beileibe keine überraschende Erkenntnis sein kann, zumal, wie Zieger anmerkte, in fünfzig Prozent aller Kliniken bei der Organentnahme an für hirntot erklärten Menschen Narkosemittel gegeben werden. In der heutigen wissenschaftlichen Gemeinde würden die Begründungen für die Hirntoddefinition als widerlegt gelten, doch in der Öffentlichkeit sei diese bahnbrechende und den Begründungsnexus der gesamten Transplantationsmedizin nicht nur in Frage stellende, sondern auflösende wissenschaftliche Erkenntnis nicht angekommen.

Texttafel aus dem Vortrag - Hirntod widerlegt, eine unerwünschte wissenschaftliche Erkenntnis - Foto: © 2011 by Schattenblick

Hirntod widerlegt - eine unerwünschte wissenschaftliche Erkenntnis
Foto: © 2011 by Schattenblick

Da das in Deutschland geltende Transplantationsgesetz nach wie vor vom Hirntodkonzept ausgehe, dieses jedoch wissenschaftlich widerlegt sei, müsse eine gesetzliche Neuregelung geschaffen werden, was selbstverständlich nicht Sache der Ärzte, sondern der Gesellschaft sei. Im anschließenden Gespräch wies Martina Keller [2] darauf hin, daß in Fachkreisen der Medizinethiker längst darüber diskutiert werde, wie man sich angesichts dieser Problematik von der "Tote-Spender- Regel" verabschieden könne, also von dem Verbot, Menschen Organe zu entnehmen, die noch nicht tot sind. Auf ihre Frage, was das für die Gesellschaft und deren "moralische Konstante, daß man Menschen nicht töten darf", bedeute, erklärte Zieger, daß dies der neue Grundkonflikt sei, der entschieden werden müsse.

Für einen Kritiker ist dies eine bedenkenswerte Antwort, beinhaltet sie doch die Bereitschaft, eine dementsprechende gesetzliche Neuregelung für einen "neuen" Tod zu akzeptieren. Offenbar ist das Nein eines Kritikers an der Transplantationsmedizin oder der momentanen Beschaffenheit dieser Disziplin eher ein Jein. Zieger erinnerte in diesem Zusammenhang an die Situation im Gesetzgebungsprozeß der heutigen Regelung. Schon bei der Anhörung in Bonn 1996 hätten die Kritiker, zu denen auch er gehörte, kritisch angeführt, daß mit dem Absterben des Gehirns keineswegs das Leben des gesamten Organismus zusammengebrochen sei. Dies sei damals vom Nestor der deutschen Lebertransplantation, Rudolf Pichelmayr, noch heftig bestritten worden, sei inzwischen jedoch wissenschaftlich unumstritten. Die naheliegende Schlußfolgerung, anstelle der widerlegten Hirntod-Definition zur Herztod-Definition zurückzukehren, stellt keineswegs eine Lösung dar. Die Begehrlichkeiten der Transplantationsmedizin, so erklärt Zieger, hören nicht mit einer neuen wissenschaftlichen Erkenntnis auf.

Ein aktuelles Beispiel aus Spanien zeige, wie die Praxis der Organentnahme, also des direkten Raubzugriffs auf die Physis und das Leben wehrloser Menschen, auch unter einer (neuen) Herztoddefinition fortgesetzt werden kann. Zieger beschrieb, was auch Martina Keller in ihrem Buch [2] geschildert hatte: Nach einem Herzinfarkt oder einem Unfall komme ein reanimationspflichtiger Mensch in eine Klinik und werde für kurze Zeit wie ein Schwerstkranker auf der Intensivstation behandelt. Dann erscheine eine Person und erkläre, daß eine Reanimationspause gemacht werden müsse. Das Herz des Betroffenen schlägt nicht weiter. Keine fünf Minuten später erscheine abermals eine Person und sage, daß dieser Mensch jetzt gestorben sei und explantiert werden könne. Daraufhin werde die "Reanimation" wieder angestellt, der für tot erklärte Mensch im OP-Raum an eine Herzlungen-Maschine angeschlossen. In kürzester Zeit, so Zieger, werde auf diese Weise aus einem (lebenden) Unfallopfer ein Explantierter.

Aus diesem Grunde sprach der Referent von einer "Todespolitik der modernen Medizin" und stellte die Frage, wer nach welchen Kriterien darüber entscheide und ob es darüber einen gesellschaftlichen Konsens gäbe. Andreas Zieger wollte seine Argumentation sowie die aufgeworfenen Fragen danach, ob nicht unter Zugrundelegung des Hirntodkonzepts Sterbende getötet werden und auch bei einem "kontrollierten" Herzstillstand zu befürchten sei, daß die Betroffenen explantiert werden, als Votum für einen gesellschaftlichen Diskurs sowie darauf gegründete Gesetzesänderungen verstanden wissen. Ein solcher Diskurs könne, so seine Prognose, in einen Entscheidungsfindungs- oder Differenzierungsprozeß münden, der dann vielleicht mehrere Tode vorsähe. Dies sei eine Denkmöglichkeit, so Zieger, die er "nicht favorisiere".

Martina Keller zitierte in diesem Zusammenhang den Potsdamer Philosophen Ralf Stoecker, der dafür plädiert habe, daß andere Kriterien und nicht mehr der Tod als Grenze für die Organentnahme festgelegt werden. Den Vorschlag des US-amerikanischen Ethikprofessors Julian Savulescu, Menschen mit einer "schlechten Prognose", vielleicht dauerhaft Bewußtlosen, "Euthanasie zu gewähren", fand sie schockierend. Solchen Vorstellungen erteilte Zieger eine klare Absage. Gleichwohl sprach er in diesem Zusammenhang von der "logischen Konsequenz einer rational logisch sich entwickelnden Medizin", weshalb wir alle uns in lauter Dilemmata und Zwickmühlen gebracht hätten. Mit dem "alten Herztod" wären die Möglichkeiten der Transplantationsmedizin erledigt, resümierte der Referent. Dies werde seiner Einschätzung nach nicht geschehen, weil Politik auch in unserem Lande durch Lobbygruppen bestimmt werde. Das Medizinsystem, das hinter den Transplantationen stehe, werde nicht aufhören zu existieren, nur weil die Hirntoddefinition inzwischen als wissenschaftlich widerlegt gelte.

Auch wenn sich Zieger mit Verweis auf die angeblichen Segnungen der Transplantationsmedizin, durch die Menschen geholfen werden könne, nicht zu einem kompromißlosen Nein durchringen konnte und stattdessen von einem Dilemma sprach, ist sein Bemühen, dieses hochbrisante und prekäre Thema überhaupt öffentlich zu machen und einer kritischen gesellschaftlichen Diskussion anheimzustellen, schon geeignet, eine Entwicklung begreifbar zu machen und aus dem Elfenbeinturm vermeintlicher Expertenfragen zu holen, die als absolute Steigerung von Euthanasie zur finalen Verwertung und von Selektion zu Produktselektion angemessen bezeichnet werden könnte.


Fußnoten

[1] Andreas Zieger ist seit 1997 Ärztlicher Leiter der Station für Schwerst-Schädel-Hirngeschädigte am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg und ist an der Universität Oldenburg am Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik tätig.

[2] Martina Keller beschäftigt sich als Wissenschaftsjournalistin seit vielen Jahren mit der Transplantationsmedizin und hat zu diesem Thema 2008 ein Buch verfaßt ("Ausgeschlachtet. Die menschliche Leiche als Rohstoff").

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)



24. Mai 2011