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BERICHT/021: "Die Untoten" - Menschliches Gemüse - Organspender philosophisch totgesagt (SB)


Philosophenmund gibt Lehre vom unwerten Leben kund

Hans Werner Ingensiep referiert zum Thema 'Menschliches Gemüse' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Hans Werner Ingensiep referiert zum Thema 'Menschliches Gemüse'
Foto: © 2011 by Schattenblick

Wie ist es um die heutige gesellschaftspolitische Relevanz von Philosophie, Moral und Ethik bestellt? Können Begriffe, Denk- und Bewertungssysteme dieser Art und die ihnen zugrundeliegenden Wissenschaftsdisziplinen zur Lösung gesellschaftlicher Problemstellungen oder gar zur Inangriffnahme von Menschheitsfragen etwas Konstruktives beisteuern? Mehr und mehr, davon zeugen die zu verschiedenen, oftmals höchstbrisanten politischen Themen von Regierungsseite eingerichteten "Ethikräte", wird im Prozeß politischer Entscheidungsfindungen oder vielmehr -durchsetzungen und ihrer medialen Übersetzung und kulturellen Begleitung zur Schaffung einer gesellschaftlichen Akzeptanz für was auch immer auf die Philosophie zurückgegriffen. Mehr und mehr kommen Repräsentanten dieser Grundlagenwissenschaft, durchaus gewohnt, ein wenig nachsichtig belächelt zu werden ob der vermeintlichen Abgehobenheit und Praxisferne ihres wissenschaftlichen Schaffens, aus den Elfenbeintürmen ihres Erkenntnisdrangs hervor und treten öffentlich in Erscheinung.

Sie stehen Gewehr bei Fuß, um Legitimationslücken und -brüche regierungsamtlichen Handelns sowie mangelnde oder gar gänzlich verlorengegangene Rechtfertigungskonstrukte für prekäre Entscheidungen, Richtlinien und Entwicklungslinien zu reparieren. Die Philosophie und insbesondere die Ethik haben in diesem Geschäft den klassischen Vertretern jener Instanzen, die der Obrigkeit Absolution erteilten, was auch immer diese anstellt, den Rang abgelaufen. Was einst "Gott" selbst als Schöpfer einer erklärtermaßen als von ihm geschaffen gedachten gesellschaftlichen Ordnung zu leisten imstande war und später an seine irdischen Vertreter in Gestalt der hiesigen Großkirchen bzw. der großen monotheistischen Religionen delegiert werden konnte, ist heutzutage kaum noch imstande, die diesbezüglichen Anforderungen zu bewältigen. Der Einfluß oberster Kirchenvertreter dürfte nicht mehr groß genug sein und tief genug das Denken und Empfinden vieler Menschen durchdringen, um dieses im Interesse nationaler wie auch globaler Herrschaftsausübung in Zweifelsfällen in das direkte Gegenteil umpolen zu können.

Einen solchen Zweifels- und Problemfall stellt die Transplantationsmedizin dar. Hinter diesem nüchtern anmutenden und vielfach sogar positiv besetzten Begriff infolge einer Akzeptanzstimulation, die glauben machen soll, hier werde aus edelsten, uneigennützigen Motiven durch den Übertrag menschlicher Organe schwerst- und sterbenskranken Menschen geholfen, verbirgt sich eine der erschreckensten und grauenhaftesten Entwicklungen der Neuzeit, sieht man einmal von der unmittelbaren Kriegführung und Wirtschaftspolitik ab, durch die sich die reichen Eliten der Metropolengesellschaften in die Lage versetzen, sich den privilegierten Zugriff auf die Ressourcen des Lebens zu Lasten eines stetig anwachsenden Armuts- und Hungerheeres zu sichern.

In der öffentlichen Diskussion, die in einem gewissen Rahmen anläßlich der Neufassung des Transplantationsgesetzes geführt wird, herrscht ein nahezu vollständiges Informationsdefizit über eine der prekärsten Tatsachen der Transplantationsmedizin vor. Wer jemals einen menschlichen Leichnam gesehen hat, wird sich nicht nur nicht vorstellen können, sondern auch nicht glauben wollen, daß die diesem womöglich entnommenen Organe noch in einem Zustand sein sollen, der es ermöglicht, im Körper eines anderen, noch lebenden Menschen dessen nicht mehr funktionale Organe zu ersetzen. Dieses Empfinden wird noch untermauert durch die Schilderungen vieler Menschen, die, sei es als Angehörige medizinischer Berufe oder aus sonstigen Gründen, bei einer Organentnahme anwesend waren und den sogenannten Organspender zuvor, als er für "hirntot" erklärt wurde, erlebt haben. "Erlebt haben" ist hierbei wörtlich zu verstehen, weil sogar, wie auch auf dem Untoten-Kongreß deutlich gemacht wurde, die Befürworter der Transplantationsmedizin dasselbe Empfinden beschrieben haben; auch sie haben "hirntote" Menschen als lebendig und nicht als tot wahrgenommen. Hinzu kommen die irritierenden Arm- und Beinbewegungen bei bis zu 75 Prozent der für hirntot erklärten Menschen [4].

All dies zusammengenommen läßt sich verdichten zu einer Frage, die sich wohl viele Menschen stellen würden, wenn sie einmal mit dieser Schattenseite der angeblich heilsbringenden Organspende konfrontiert werden würden: Kann das richtig sein? Es ist dies die an eine als übergeordnet akzeptierte und angesprochene gesellschaftliche Instanz gerichtete Frage, die eigentlich, nämlich wenn man den Mut hätte, dem eigenen Empfinden und Denken vollständig zu vertrauen, leicht zu beantworten wäre. Im Herbst vergangenen Jahres erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter dem Titel "Ist die Organspende noch zu retten?" ein Text, in dem das fundamentale Legitimationsdilemma der Transplantationsmedizin deutlich zum Ausdruck gebracht wurde [1]:

Der Hirntod war die Geburtsstunde der Transplantationsmedizin. Der wissenschaftliche Fortschritt hat aber nun an dem Ast gesägt, auf dem sie sitzt. Der Hirntod, so hieß es bisher, falle mit dem Tod des Menschen in eins, weil bei Ausfall des Gehirns der Organismus biologisch aufhöre, ein integriertes Ganzes zu sein: Er sei dann eben kein Organismus mehr. Auch wenn einzelne Organe überlebten, sei der Ausfall der komplexen Integrationsleistung, die für das Überleben des Organismus notwendig sei, mit dem Tod gleichzusetzen. Die Beschränkung auf biologische und neurologische Kriterien hatte den Vorteil, die Suche nach einer philosophischen oder theologischen Todesdefinition zu umgehen.

Der letzte, hier zitierte Satz deutet schon an, welche Schlußfolgerungen aus der zutreffenden Feststellung, daß der Transplantationsmedizin die wissenschaftliche Legitimationsgrundlage (längst) verlorengegangen ist, hier angestrebt wird. Stephan Sahm, der Autor, stellt am Ende unmißverständlich fest, daß der Versuch, den Hirntod "naturwissenschaftlich zu fundieren", gescheitert sei, worauf Prof. Dr. Gerhard Roth, der Leiter des Instituts für Hirnforschung der Universität Bremen als Sachverständiger in der Anhörung zum Transplantationsgesetz bereits hingewiesen habe. Roth hatte am 15. April 1997 öffentlich erklärt, daß der "künstlich beatmete Hirntote keine Leiche" [2] sei. Auch in der Bundestagsanhörung zum Hirntod am 28. Juni 1995 hatte er dieser Todesdefinition eine wissenschaftliche Absage erteilt [2]:

Solange ein hirntoter Mensch auf einer Intensivstation äußerlich nicht zu unterscheiden ist von bewusstlosen lebenden Patienten, solange er von seiner Umgebung, von den Pflegekräften, insbesondere aber von seinen Angehörigen als lebend erfahren und wahrgenommen wird, ist er Person in einem sozialen Kontext.

Gefragt ist nun, und das geht aus dem FAZ-Artikel wie auch aus vielen anderen Publikationen zum Thema "Organspende" bzw. "Hirntod" hervor, die Philosophie. Philosophen, die "naturphilosophische Argumente vortragen", so heißt es in dessen Schlußsatz, würden wie Theologen oft als Ewiggestrige verunglimpft: "Im Falle des Hirntods könnte sich das ändern. Vielleicht ist er anders tatsächlich nicht zu retten." [1] Zur Klarstellung wäre hinzuzufügen, daß nicht per se der Hirntod, genauer gesagt die Hirntod-Definition, "gerettet" werden soll, sondern die Transplantationsmedizin, die ohne eine gesellschaftlich anerkannte Legitimation sehr schnell zu juristischen Komplikationen für alle an ihr Beteiligten führen könnte, so wie sich ein ehemaliger Pfleger aus diesem Bereich bereits gefragt hat, ob er nicht an "aktiven Tötungen" beteiligt war [3]. Die Transplantationsmedizin stünde vor ihrem Aus, sollte sich entgegen der gegenwärtigen Mediendominanz "pro Organspende" und damit der Transplantationsbefürworter ein gegenläufiger Meinungs- und Informationstrend Bahn brechen.

Texttafel: 'Wir stehen vor Abgründen und suchen nach Gründen' - Die Suche nach dem Sinn in der Qual - Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Suche nach dem Sinn in der Qual
Foto: © 2011 by Schattenblick

Auf dem Kongreß "Die Untoten" ging Hans Werner Ingensiep, Professor für Philosophie und Medizinische Biologie an der Universität Duisburg-Essen, in seinem Vortrag zum Thema "Human Vegetables", was, wie er selbst eingangs sagte, mit "menschlichem Gemüse" übersetzt werden müßte, nicht unmittelbar auf diese Problematik ein. Gleichwohl scheinen seine Ausführungen in diesem Kontext zu stehen auch dann, wenn er die Frage, ob nicht aus ethischer Sicht ein klares und bedingungsloses Nein zur Organentnahme - von der sogenannten "Lebendspende" unter einander nahestehenden Menschen vielleicht einmal abgesehen - geboten wäre, nicht thematisiert. Ingensieps Vortragsthema war, wie es in der Programmankündigung hieß, das Vegetieren moderner Untoter "am Rande einer Seins- und Lebensordnung, von der abhängt, ob die Gesellschaft, die Medien und die Ethik ihnen ihre Existenz zugestehen".

Dieser eigentlich harmlos anmutende Satz hat es in sich. Zunächst einmal muß klargestellt werden, daß mit "modernen Untoten" an dieser Stelle Menschen gemeint sind, die sich in einem extrem reduzierten Zustand befinden, wofür die zuständigen Wissenschaften verschiedene Begrifflichkeiten entwickelt haben - Wachkoma, appallisches Syndrom oder persistent vegetative state (dauerhafter vegetativer Zustand) oder auch den sogenannten Hirntod. Es sind, wiewohl dies höchst umstritten ist, da insbesondere das Hirntodkonzept eigens eingeführt wurde, um die vorherigen Todesfeststellungskriterien erheblich auszuweiten und damit der Transplantationsmedizin mehr "Spender" zuführen zu können, lebende Menschen. Ihr Leben als ein Vegetieren zu bezeichnen, was zugleich das Kernthema des Vortrags war, droht einer Aufweichung des juristisch und moralisch unauflösbaren Tötungsverbots den Boden zu bereiten. Ein lebender Mensch darf selbstverständlich nicht getötet werden, doch wie ist es, wenn er "nur noch dahinvegetiert" oder wenn es sich bei ihm um "menschliches Gemüse" handelt?

Diese Frage zu stellen, ohne unmittelbar und bedingungslos dazu Stellung zu nehmen und klarzustellen, welche Implikationen sie beinhaltet, gleicht dem Betreten eines moralphilosophischen oder ethischen Minenfeldes, da dies die Frage nach sich zieht, ob nicht die Philosophie und in ihr die für die Bewertung von richtig und falsch speziell zuständige Teildisziplin, nämlich die Ethik, längst damit befaßt sind, durch Um- und Neudefinitionen maßgeblicher Begriffe der Lehre vom unwerten (menschlichen) Leben und damit einer Akzeptanz der Tötung eines solchen das Wort zu reden. Und es darf nicht vergessen werden, daß die These, es gäbe eine "Seins- und Lebensordnung", von der abhinge, ob Gesellschaft, Medien und Ethik den als "moderne Untote" an den gesellschaftlichen Rand gedrängten und zudem aufgrund ihrer Verfassung extrem wehrlosen Menschen, "ihre Existenz zugestehen", eine Behauptung ist, der sehr wohl widersprochen werden kann und auch müßte, insbesondere auch von all jenen gesellschaftlichen Kräften, die im übrigen für sich in Anspruch nehmen, für Demokratie und Freiheit, Menschenwürde und Grundrechte einzutreten und diese bedingungslos gegen jedwede Infragestellung zu verteidigen.

Hans Werner Ingensiep analysierte in seinem Vortrag die zweieinhalbtausendjährige Geschichte einer Sprachentwicklung bzw. eines Sprachgebrauchs, der menschliches Leben unter bestimmten Bedingungen zum bloßen "Vegetieren" erklärt. Er erwähnte den Fall der US-Amerikanerin Terry Schiavo, die 1990 ins Wachkoma fiel und um deren Leben es zu einem jahrelangen Rechtsstreit zwischen Ehemann und Eltern gekommen war, der in den USA für großes Aufsehen gesorgt hatte. Ingensiep thematisierte nicht ihren durch die Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen herbeigeführten Tod und stellte nicht die Frage, ob das Verhungernlassen eines solchen Menschen nicht eine aktive Sterbehilfe und damit ein Tötungsdelikt sei. Dem Referenten ging es in seinem Vortrag im wesentlichen um den Sprachgebrauch, war doch auch Terry Schiavo in Politik, Medien und Öffentlichkeit als "human vegetable" (menschliches Gemüse) bezeichnet worden.

Gestöbert hat er bei dieser Sprachstudie auch im Internet, um durch entsprechende, nicht mit näheren Quellenangaben oder Namen versehene Zitate zu belegen, daß es eine Diskussion gäbe, in der nicht nur der Zustand wachkomatöser Patienten mit demjenigen von Pflanzen verglichen werde, sondern daß dabei auch Positionen vertreten werden etwa derart, daß "wir, wenn wir mit der Tötung eines Stücks Broccoli kein Problem hätten, dies auch nicht mit der Tötung menschlichen Gemüses haben sollten" ("We have no problem killing a piece of broccoli, we should similarly have no problem killing human vegetable.") Ein unsäglicher und vollkommen inakzeptabler Gedanke, der es bestenfalls zur kritischen Analyse einer derartigen Entwicklung wert wäre, aus Internet-Nischen hervorgeholt zu werden.

Ingensiep fuhr in seinem Vortrag damit fort, die Hintergründe einer solchen "Parallele", wie er es nannte, aufzuzeigen und am Beispiel von vier ausgewählten Philosophen aufzuzeigen, wie diese mit dem Begriff des Vegetierens verfahren sind. Er zitierte aus einem von ihm als "berühmt" bezeichneten Buch des seit längerem wie auch aktuell höchst umstrittenen australischen Philosophen Peter Singer [5], das dieser mit Paola Cavalieri herausgegeben hat. Daraus zitierte Ingensiep folgenden Satz eines Vaters über seinen "schwerst geistig behinderten, bettlägerigen Sohn": "Er lebt wie eine Pflanze, aber da müssen Sie schon an schlecht blühendes Unkraut denken." Die unterschwellige Botschaft ist hier kaum noch zu übersehen, denn was geschieht im allgemeinem mit "Unkraut"? Ingensiep spricht in seinem Vortrag über "Abgründe", doch welche er damit ganz genau meint, bleibt dem Interpretationsvermögen und -interesse seiner Zuhörer überlassen.

Er analysiert die "Sprache des Vegetierens", die er eine "vegetative Terminologie" nennt ungeachtet dessen, daß dies sprachlogisch eigentlich wenig Sinn ergibt. Das Wort "vegetativ" bedeutet im allgemeinen "zur Vegetation gehörend, pflanzlich", während es in der Biologie in der Bedeutung von "ungeschlechtlich" und in der Medizin im Sinne von "unbewußt" verwendet wird. Mit dem Begriff "vegetatives Nervensystem" wird das "dem Einfluß des Bewußtseins entzogene Nervensystem" bezeichnet. Der Begriff des Bewußtseins, der naturwissenschaftlich schwerlich zu definieren oder nachzuweisen ist, steht hier im Vordergrund und nicht bzw. nur im übertragenen Sinn der pflanzliche Bereich.

Der Begriff "pflanzliche" bzw. "zur Vegetation gehörende" Terminologie, um auf das allgemeine Verständnis des Begriffs "vegetativ" zurückzukommen, wirft sprachlich eher Fragen und Unverständnis auf, als daß dieser Ausdruck zur Klärung welcher Inhalte auch immer beitragen könnte. Ingensiep erklärte, daß die "vegetative Terminologie" vor etwa 2500 Jahren "vor allen Dingen in der griechischen Antike" entstanden sei. Dies soll wohl zur Akzeptanz des Begriffs "Vegetieren" in bezug auf menschliches Leben beitragen, da das alte Athen als Wiege der Demokratie im Selbstverständnis der christlich-abendländischen Kultur einen hohen Stellenwert einnimmt. Im deutschen Sprachgebrauch sei dieser Begriff in der Mitte des 18. Jahrhunderts aufgetaucht, so beispielsweise bei Lessing, der 1764 den Begriff Vegetieren benutzte in folgender Bedeutung: "ohne Bewußtsein dahinleben wie eine Pflanze, zumeist dumpf, stumpfsinnig, unter ärmlichen Bedingungen ein kümmerliches Dasein fristen".

Wesentlich ist bei Ingensiep jedoch auch die Verwendung des Begriffs "Seele", ohne den die von ihm postulierte Seins- und Lebensordnung nicht auskommt. Dem liegt allerdings ein antikes Begriffsverständnis zugrunde, nämlich die Psyche bzw. Seelenordnung, so wie Aristoteles sie im 4. Jahrhundert vor Christus durchdacht habe. "Psyche bedeutet bei Aristoteles, daß sich etwas aus sich selbst heraus bewegt", erläuterte Ingensiep, weshalb jeder Organismus bei Aristoteles eine Seele habe; während wiederum jeder Organismus eine Enthelechie habe, was ein Kunstwort sei und bedeute, "in sich ein Ziel zu haben". So weit, so kompliziert. All dies muß vorausgeschickt werden, um die "Seelenordnung" plausibel machen zu können, die Ingensiep zufolge eng mit seinem Verständnis von "Vegetieren" verbunden sei. Nach Aristoteles habe jeder Mensch drei Seelen: die "anima rationales" als höchste, das Denken betreffende und im Kopf sitzende Vernunftseele, als nächstes die "anima sensitiva", die Sinnenseele, und schließlich, als unterstes, die "anima vegetativa", die er im Bauch verortet und die für Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung zuständig sei.

Diese hierarchische Klassifizierung ist selbstverständlich gesellschaftlich determiniert, und so stellt Ingensiep unter Bezugnahme auf Platon fest, daß mit dem Konzept der Seelenhierarchie "zugleich ein Herrschaftsinteresse verbunden" sei. Platon habe parallel zu diesem Konzept den aus drei Ständen bestehenden Staat konstruiert, in dem die Philosophen ganz oben, in der Mitte die den Staat verteidigenden Polizisten und Soldaten und ganz unten die "niedersten Stände" - Bauern und Händler - anzusiedeln seien. Im Staat wie in uns selbst spiegelten sich dieselben Verhältnisse, so der Referent; desweiteren sei diese Herrschaftshierarchie auch als Einteilungsprinzip aller organischen Dinge und auch der anorganischen bestens geeignet. Diese Klassifizierung erläuterte er folgendermaßen:

Wir sehen hier die Seinsordnung, wie die Dinge sind in der Welt. Zum Beispiel ein Felsen, der ist; ein Baum, der lebt; ein Pferd oder ein Tier, das empfindet und da, ein Mensch, der denkt. Das ist jetzt sozusagen die klassische Ordnung, nach der nach den Schlüsselbegriffen Denken, Empfinden, Leben und Sein die Dinge in der Welt geordnet werden. Die anorganischen Dinge sind, Pflanzen leben, Tiere empfinden, Menschen denken. Das ist quasi die Stufenordnung. Aber das Spannende ist eigentlich die Stufenordnung auf der moralischen Seite, denn die wird parallel geführt. Das ist eine Parallelität von Seinsordnung und Lebensordnung. Wer nur ist, im wahrsten Sinne des Wortes sein, sich hängen läßt, dahinvegetiert oder noch niedriger im Seinszustand ist, der ist wie ein Stein. Wer bloß lebt, der ist wie eine Pflanze. Wer trinkt und frißt, der ist wie ein Tier. ... Wer aber denkt, das ist hier so ein Studiosus, ein Gelehrter, der hat den höchsten Punkt erreicht.

Wer bloß lebt, der sei wie eine Pflanze ... Hier wird allmählich deutlich, welchen möglicherweise nicht explizit ausgesprochenen Denkansatz Ingensiep hier vorstellt. Mit Pflanzen mache man andere Dinge als mit Tieren oder mit Menschen, fuhr er fort. Das ist zweifellos richtig. Pflanzen werden vernichtet und verwertet, ohne daß dies als eine Tötung bezeichnet werden würde. Worin also besteht der eigentliche Sinn und Zweck dieses kleinen Ausflugs in die Ideengeschichte der Pflanzenseele, wie Ingensiep es nennt? Im weiteren Verlauf seines Vortrags stellte der Philosoph und Biologe mehrere Denker vor und kündigte seinen Zuhörern an, daß jeder sich entscheiden müsse, wie er Vegetieren verstehen wollen würde. Die Möglichkeit allerdings, sich überhaupt nicht auf diesen Begriff im Kontext mit dem Leben des Menschen einzulassen, erwähnte der Referent nicht.

Texttafel: Kant über das 'Vegetieren' - Ein Philosoph redet andere Menschen an den Rand des Todes - Foto: © 2011 by Schattenblick

Kant - ein Philosoph redet andere Menschen an den Rand des Todes
Foto: © 2011 by Schattenblick

Er stellte mehrere Philosophen - Aristoteles, Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche, Hans Jonas und Peter Singer - mit ihren jeweiligen Thesen zum Vegetieren vor und faßte dies am Ende folgendermaßen zusammen, um das Publikum vor diese Alternativen zu stellen und zu fragen, nach welcher Position jeder einzelne beurteilt werden möchte, sollte er einmal in diesen Zustand kommen:

Erstens, würden Sie der hierarchischen Naturtheleogie eines Aristoteles folgen, wo also ein Höher und ein Niedriger von Seelenkräften angewandt wird, also eine Hierarchie in sich selber oder in der Gesellschaft oder wie auch immer in der Natur akzeptieren und dann sagen: "Ja, ich hab' Pech gehabt, ich bin auf der niedersten Stufe gelandet, deshalb zählt für mich das, was auch für Pflanzen zählt." Oder würden Sie wie Kant sagen: "Nein, es besteht eine Pflicht zu leben, auch wenn ich vegetiere. Ich bin sogar selber Schuld, wenn ich vegetiere, warum ziehe ich mein Leben unnötig in die Länge? Übernimm Verantwortung über dein Leben, aber du sollst dich nicht umbringen." Nietzsche sagt, wie wir gehört haben: "Besser du bringst dich um." Es gibt für Nietzsche keine Vernunft und auch keine christliche Moral, sondern es gibt nur die exklusive Bejahung des aufsteigenden Lebens. Jedes Individuum hat es in der Hand, dieses Leben zu gestalten.

Schließlich Jonas, der versucht, einen Sinn letztlich noch auch in uns zu finden. Der vegetierende Mensch kann diesen Sinn als Mensch nicht mehr erreichen. Oder Singer, der dazu sagt; "Du bist eigentlich dazu da, wenn überhaupt, um andere glücklicher zu machen, vielleicht durch Organe, vielleicht auch diejenigen, die dich pflegen. Aber aus sich heraus hat das vegetierende Leben eines 'human vegetable' keinen Wert, und von daher fällt es dem nützlichen Interessenkalkül vollständig zum Opfer. Oder Sie orientieren sich zum Beispiel an Johannes Paul.

Hierin liegt selbstverständlich ein Zirkelschluß im Denken, denn keineswegs stellen die aufgezeigten Alternativen die einzigen Möglichkeiten dar, sich in dieser Frage zu positionieren. Hinzu kommt, daß Ingensiep das "Vegetieren" selbst im Kern als gegeben voraussetzt. Niemand kann gezwungen werden, einen solchen Begriff und die ihm innewohnenden hierarchischen Implikationen zu übernehmen oder zu akzeptieren, daß eine gesellschaftliche Instanz autorisiert wird, über die Existenzberechtigung und damit das Leben eines Menschen zu entscheiden.

Nietzsche redet einer Gesellschaft das Wort, in der Kranke als Parasiten behandelt werden, deren Recht zum Leben verlorengegangen sei und die in feiger Abhängigkeit von Ärzten "fortvegetieren". Bei Kant klingt das alles längst nicht so drastisch, eine echte Parteinahme für Menschen, die sich aus Sicht ihrer Mitmenschen bzw. der Gesellschaft in einer parasitären Situation befinden und keinerlei gesellschaftlichen Nutzen mehr aufweisen, ist jedoch auch bei diesem Denker nicht auszumachen.

Die modernen philosophischen Vertreter, Jonas und Singer, spiegeln einen ähnlichen Gegensatz ihrer Positionen wider. Singer übernimmt hier die Rolle des 'bad guy'. Er vertritt, wie Ingensiep ausführte, die Auffassung, daß schwerst geistig behinderte Kinder im Alter von bis zu drei Jahren getötet werden könnten; sie stünden in Singers Hierarchie noch niedriger als Menschenaffen, die Singer als Personen ansehe. Mit Wachkomapatienten könne man, so legte der Referent dar, nach Auffassung Singers, "machen, was man will", da "sie wirklich nichts empfinden". Man könne theoretisch "seinen Kannibalismus befriedigen, wenn der Kannibale dadurch glücklicher wird, aber man kann sie auch zur Organtransplantation nehmen".

Und damit ist das Stichwort dann doch gefallen. Eigentlich sind weder Organspende/Organentnahme noch die durch den Wegfall ihrer Hirntod-Legitimation gefährdete Transplantationsmedizin Thema des Ingensiep'schen Vortrags, der sich zu dieser Frage denn auch nicht äußern wollte. Das "Vegetieren" des Menschen zum Thema einer philosophischen und ideengeschichtlichen Erörterung zu machen, bereitet allerdings einen Humus, aus dem heraus unsägliche und heute eigentlich vollkommen inakzeptable Positionen erwachsen oder weiter genährt werden könnten. Es darf dem Referenten an dieser Stelle nicht angelastet werden, derartige Positionen formuliert zu haben. Mit Hans Jonas hat er Singer einen ausgesprochenen Transplantationskritiker gegenübergestellt, der schon vor vierzig Jahren die Hirntod-Definition der Harvard-Kommission massiv kritisiert und in "Technik, Medizin und Ethik" seine Position folgendermaßen klargestellt hatte [6]:

Der Verdacht ist nicht grundlos, dass der künstlich unterstützte Zustand des komatösen Patienten immer noch ein Restzustand von Leben ist (wie er bis vor kurzem auch medizinisch allgemein angesehen wurde). D.h. es besteht Grund zum Zweifel daran, dass selbst ohne Gehirnfunktion der Mensch völlig tot ist. In dieser Lage unaufhebbaren Nichtwissens und vernünftigen Zweifelns besteht die einzig richtige Maxime für das Handeln darin, nach der Seite vermutlichen Lebens hinüberzulehnen.

Daraus folgt, dass Eingriffe ... unter keinen Umständen an einem menschlichen Körper stattfinden dürfen, der sich in diesem äquivoken bzw. Schwellenzustand befindet.

Nach Ingensieps Darstellung vertritt auch Jonas die Auffassung, daß ein Mensch, der nur noch vegetiere, kein Organismus mehr sei, was bedeuten würde, ein Ziel zu verfolgen, was Intelligenz und Empfindungen und vieles mehr einschließe. Aus diesem Grund sei ein solcher Mensch nicht mehr fähig, den Sinn seines Lebens zu erreichen. Dies sei eine Wert- und keine Tatsachenentscheidung, erläuterte Ingensiep und betonte, man dürfe sich nicht hinter klinischen Fakten verstecken. Aus einem philosophischen Grund, nämlich dem der Sinnwidrigkeit bewußtlosen Fortvegetierens, "darf, ja soll der Arzt das Atemgerät abstellen und es dem Tod überlassen, sich selbst zu definieren durch das, was dann unweigerlich geschieht". Ingensiep zufolge sei Jonas der Meinung gewesen, daß hirntote Menschen in diesem Fall - wegen der Sinnwidrigkeit ihres Lebens - getötet werden könnten.

Träfe dies zu, wäre die Wahl, vor die der Referent seine Zuhörer am Ende stellte, die Wahl zwischen Pest und Cholera. Allem Anschein nach wurde von philosophischen Vordenkern die an diese Wissenschaftsdisziplin delegierte Aufgabe, einen Ersatz für die verlorengegangene naturwissenschaftliche Legitimation der Transplantationsmedizin zu schaffen, angenommen und mit großem Ernst in Angriff genommen.

Fußnoten

[1] Ist die Organspende noch zu retten? Von Stephan Sahm, F.A.Z., 14. September 2010,
http://www.faz.net/artikel/C31399/hirntod-ist-die-organspende-noch-zu-retten-30307616.html

[2] Organspende Transplantation - Hirntod
http://www.dober.de/ethik-organspende/hitodkritik.html

[3] INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)

[4] Nach Angaben der Deutschen Stiftung für Organtransplantation, Quelle: Greinert, R. & Wuttke, G. Organspende. 1. Aufl. Nov. 1993, S. 47

[5] Peter Singer und der italienischen Philosophin Paola Cavalieri wurden unlängst der Ethik-Preis der Giordano-Bruno-Stiftung verliehen, obwohl es an Singer massive Kritik gibt; siehe dazu im Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> KOMMENTAR:
KULTUR/0888: Neue Akzeptanz für Sozialeugenik schaffen ... Ethik-Preis für Peter Singer (SB)

[6] Organspende Transplantaion - Hirntod
http://www.dober.de/ethik-organspende/hirntod.html#Jonas

Veranstaltungstafel in der 'Labor'-Kulisse auf Kampnagel - Foto: © 2011 by Schattenblick

Veranstaltungstafel in der 'Labor'-Kulisse auf Kampnagel
Foto: © 2011 by Schattenblick


Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)
BERICHT/016: "Die Untoten" - Sandy Stone ... aus einem bewegten Leben (SB)
BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)
BERICHT/018: "Die Untoten" - Kapitalgespenster - Zur Ästhetik fehlender Theorie (SB)
BERICHT/019: "Die Untoten" - Auf der Suche nach dem Sitz des Bösen (SB)
BERICHT/020: "Die Untoten" - Verschleißwelten unvollständiger Autonomie (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB) INTERVIEW/005: "Die Untoten" - Sander L. Gilman zu Fragen der kosmetischen Chirurgie (SB)
INTERVIEW/006: "Die Untoten" - Georg Fülberth, Politikwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/007: "Die Untoten" - Sandy Stone, Performancekünstlerin und Wissenschaftlerin (SB)


11. Juni 2011