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BERICHT/025: "Die Untoten" - Im Anatomischen Theater auf der Suche nach dem Leben (SB)


Tot ist immer der andere ... Nekrophilie als kulturelles Spektakel

Zoe Laughlin - Foto: © 2011 by Schattenblick

Zoe Laughlin
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Zergliederung des verstorbenen menschlichen Körpers durch die anatomische Wissenschaft erfreute sich nicht immer des Rufes einer allein dem Wohle des Menschen durch Erkenntnis seiner physischen Funktionsweise gewidmeten Tätigkeit. Dem menschlichen Leib wurden in voraufklärerischen Zeiten auch nach dem Tode Formen der Beseeltheit zugestanden, die seine Verwendung als bloßes Material zu einem strafwürdigen Vergehen machten. Erst die Durchsetzung des kartesianischen Weltbildes einer vollständigen Trennung von Geist und Materie, die die Reduktion des Körpers auf einen maschinellen Mechanismus ermöglichte, eröffnete den Anatomen einen Zugriff auf den menschlichen Leichnam, der dem Verdacht eines verwerflichen Vergehens an der Heimstatt der Seele enthoben wurde. Zuvor mußten sie sich bei ihrer Arbeit an Leichen von Hingerichteten, deren Körper den Anspruch auf postmortalen Schutz eingebüßt hatten oder die gerade aufgrund einer dann nicht mehr möglichen Rückkehr zerstückelt werden sollten, schadlos halten.

Um dem sinistren Dunstkreis der Henker und Leichenräuber zu entkommen, wurden seit dem 17. Jahrhundert öffentliche Leichensektionen in eigens dafür errichteten und ausgestatteten Anatomischen Theatern vorgenommen. Dieses stark ritualisierte, vom Nimbus der wissenschaftlichen Bemächtigung des Todes überwölbte Spektakel erfreute sich in gehobenen Ständen großer Beliebtheit, wurden damit doch zuvor streng tabuisierte Blicke auf den menschlichen, zum Teil auch weiblichen Körper und sein Inneres legitimiert. Auch kamen diejenigen, denen der Sinn nach besonders erlesenen Grausamkeiten stand, dort auf ihre Kosten. Vivisektionen an Tieren zwecks Erforschung physiologischer Zusammenhänge gehören heute noch zu den Praktiken medizinischer Wissenschaft, werden allerdings aufgrund des wachsenden Widerstands gegen diese Quälereien in gut abgesicherten Labors durchgeführt und nicht mehr auf öffentlicher Bühne dargeboten.

Unter das furchterregende Instrumentarium der Anatomen gerieten allerdings auch nach der Objektivierung des menschlichen Leichnams zum Gegenstand forscherischen Interesses vor allem Menschen niederen Standes oder krimineller Vergangenheit. Das im zeremoniellen Ritus der Sepulchralkultur fortlebende magische und religiöse Verhältnis zum Tod war nicht von heute auf morgen aus dem von der eigenen Endlichkeit und Vergänglichkeit bestimmten Anschauungen der Menschen zu vertreiben. Wer, wie hingerichtete Verbrecher oder ohnehin wie Sklaven gehaltene Arme, nicht gefragt werden mußte, ob er seiner Zerstückelung nach dem Tode zustimmte, war sehr viel leichter auf den Seziertisch zu bekommen als ein privilegierter Adliger oder Bürger. Daß dies nach wie vor gilt, belegt die bevorzugte Verwendung der Körper exekutierter Straftäter nicht nur in China für die transplantationsmedizinische Entnahme von Organen, die Produktion aus menschlichem Gewebe erzeugter Heilmittel oder die Herstellung anatomischer Präparate.

Marijs Boulogne mit Assistentin - Foto: © 2011 by Schattenblick

Marijs Boulogne mit Assistentin
Foto: © 2011 by Schattenblick

Dem Aufstieg der medizinischen Wissenschaften aus den angstvoll beäugten, nicht selten gesellschaftlich gemiedenen Berufsständen der Heiler, Feldscher, Bader, Handwerkschirurgen, Seuchenärzte, Henker und Bestatter zur weißen Fabrik und zum innovativen Labor der Life Sciences verlief parallel zu einer industriellen Produktivkraftentwicklung, die das kapitalistische Verwertungsprimat im Warencharakter der dabei erzeugten Güter verabsolutierte. Da der ökonomischen Expansion in natürliche und territoriale Ressourcen immer engere Grenzen gesteckt sind, wird der Mensch selbst zum intensiv bewirtschafteten Produktivfaktor. Über die mehrwertgenerierende Verwertung seiner Arbeitskraft hinaus betrifft dies auch seine Physis. Das durch den Begründer der modernen Anatomie, Andreas Vesalius, den Zellularpathologen Rudolf Virchow und schließlich die Molekularbiologie vorangetriebene Zergliedern des Körpers bis in seine mikroskopischen Bestandteile und die auf seine Funktionsweise angewendete Prozeßlogik kybernetischer Regelkreise resultieren in einer Objektivierung des Körpers, die die Subjektivität des Menschen zu einem Postulat vergeblichen Behauptungsstrebens verkommen zu lassen droht.

Die Deutungsmacht einer mechanistischen und systemtheoretischen Anthropologie, die den Geist in der Maschine im Zellsubstrat der Neuronen und Synapsen verortet, stellt nicht nur die Autonomie des menschlichen Willens in Frage. Sie normiert die Physis zum Zwecke ihrer fremdnützigen Verfügbarkeit von der erbbiologischen Selektion des Embryonen über die sozialdarwinistischen Parameter für Produktion und Reproduktion tauglicher Fitness bis zum Hirntod, der menschliches Leben auf eine zentralnervöse Funktion reduziert. Evaluiert von einer medizinaladministrativen Infrastruktur, die die biopolitische Organisation der Bevölkerung sicherzustellen hat, ver- und entsorgt durch biomedizinische Dienstleistungen, die das Optimum der Nutzbarkeit sowohl im aktiven Arbeitsleben als auch in der Passivität der Bedürftikeit erwirtschaften, negieren die Normen körperlicher Vergesellschaftung die Utopie des sich von fremden Zwängen befreienden Menschen. Wo der fromme Glaube an die Einzigartigkeit eines jeden im kulturindustriellen Rührstück Sehnsuchten uneingelöster Lebenswünsche entfacht, tritt der Gebrauchswert der leiblichen Hülle den Beweis der Austauschbarkeit und Nichtigkeit an.

Marijs Boulogne mit Assistentin - Foto: © 2011 by Schattenblick

Anatomisches Theater multimedial aufgerüstet
Foto: © 2011 by Schattenblick

Dieser Gebrauchswert findet in der utilitaristischen Optimierungsdoktrin seine angemessene Legitimation. Kein geringerer als Jeremy Bentham, der mit Adam Smith und John Stuart Mills zu den wichtigsten Ökonomen und Staatstheoretikern seiner Zeit zählte, wollte dem Prinzip vom "größtmöglichen Glück für die größtmögliche Zahl" über den Tod hinaus huldigen, indem er sich Gedanken über die Weiterverwendbarkeit verstorbener Menschen machte. Neben seiner Sorge um genügend Nachschub an humanem Forschungs- und Übungsmaterial beschäftigte ihn die Idee einer nicht nur kostensparenden, sondern die Nachwelt ergötzenden Entsorgung der Toten. Das in seiner kurz vor seinem Ableben 1832 verfaßten Schrift "Auto-Icon; Or, Farther Uses of the Dead to the Living" vorgestellte Konzept fügte sich, obwohl es in der ersten Gesamtausgabe seiner Werke nicht enthalten war, durchaus in eine nach dem Leitmotiv optimalen Nutzens durchorganisierte und somit vermeintlich glücklichere Gesellschaft.

Die unerbittliche Anwendung seines utilitaristischen Maximalismus auf alles und jeden nahm dabei Züge einer Nekrophilie an, die dem Perfektionismus seiner Zweckrationalität Züge neurotischer Zwanghaftigkeit verlieh. Auch hier befand sich der Pfennigfuchser Bentham auf der Suche nach überflüssigen Kosten, die aufgrund vermeintlich sinnloser Traditionen oder Gewohnheiten entstanden. Der menschliche Leichnam war ihm ein einziges Ärgernis der Ressourcenverschwendung, bürdete er doch den Nachlebenden unnötige Abgaben für Bestatter, Rechtsanwalt und Priester auf und bedrohte sie zudem mit ansteckenden Krankheiten [1].

Bodybuilder und rohes Fleisch - Foto: © 2011 by Schattenblick Bodybuilder und rohes Fleisch - Foto: © 2011 by Schattenblick

Fleischbeschau ... versklavte und vernutzte Körper
Foto: © 2011 by Schattenblick

Was also tun mit den Toten, die ja nicht alle unter das Messer junger, unerfahrener Anatomen konnten und meist auch gar nicht wollten? Während sich die von ihm unnötiger Ausgaben bezichtigten Armen, die die Stirn besaßen, ihre letzten Mittel in das eigene Begräbnis zu stecken und dabei die Auszahlung ihrer Gläubiger zu vernachlässigen, nach Erlaß des von ihm entworfenen Anatomiegesetzes ohnehin nicht mehr um eine Grabstätte bemühen mußten, da sie sogleich zur Sektion in die medizinischen Institute gekarrt wurden, konnten wohlhabendere Zeitgenossen sehr wohl ein kleines Vermögen für ihre Beerdigung und ihre Verewigung in Stein ausgeben. Diese Verschwendung an Arbeitskraft, Geld und Material sollte Bentham zufolge durch die Verwandlung des Kadavers in ein Bildnis seiner selbst überwunden werden.

Den zweifelhaften Nutzen der postmortalen Transformation zum Denkmal sah Bentham darin, Haus und Garten zu zieren, die uniformen Baumreihen der Alleen aufzulockern, zum beschaulichen Philosophieren über Leben und Tod einzuladen, die Erinnerung an die kaum mehr verblichenen, sondern aufgrund der Konservierungsmethode zu neuer Farbpracht gereiften Lieben zu bewahren und durch den Anblick eines offensichtlich gut überstandenen Todes den Schrecken desselben zu mindern.

"Das Wort 'auto' ist dem Engländer durch seine Verwendung in 'autobiography' vertraut. Bald wird 'autoicon' für einen Menschen stehen, der sein eigenes Bild ist. Ist Identität nicht der Ähnlichkeit vorzuziehen? Es kann Autoikonen in Lebensgröße wie auch Autoikonen des Kopfs allein geben. In dem einen Fall könnten viele Generationen auf wenigen Brettern eines mittleren Wandregals untergebracht werden, im anderen Falle benötigte man einen eigenen Raum.

Man könnte in Zukunft ganz auf steinerne oder marmorne Monumente verzichten, da sich der Reiche einen besonderen, allein seiner Familie gewidmeten Raum schaffte, die dort wie ansonsten die vielen Statuen versammelt wäre. Wenn ein Herr vom Lande als Zufahrt zu seinem Anwesen über eine Allee verfügt, könnten die Autoikonen zwischen den Bäumen plaziert werden. Ein aus Harzen bestehender Lack beschützte die Gesichter und Kautschuk die Kleidung vor den Auswirkungen des Regens."

Jeremy Bentham agierte mit seinen Vorstellungen keinesfalls im luftleeren Raum bloßer Theorie, sondern widmete sich mit seinem Freund Thomas Southwood-Smith schon lange vor seinem Tode der Bewältigung der praktischen Hindernisse, die sich der Herstellung der Autoikone in den Weg stellten. Der Arzt Southwood-Smith war 1824 mit einen Artikel unter dem Titel "The Use of The Dead to The Living" an die Öffentlichkeit getreten und hatte bei Bentham mit seinem Vorschlag, die Körper jener mittellosen Menschen, die in Arbeitshäuser und Krankenhäusern starben, für die medizinische Wissenschaft zu requirieren, offene Türen eingerannt. Die beiden veranstalteten ausgiebige Experimente in Benthams Küche mit wohl vornehmlich unter der Hand erstandenem Leichenmaterial, um die beste Methode zur Trocknung von Köpfen herauszufinden.

Die an der Herstellung von Schrumpfköpfen orientierte Forschung war jedoch nur mäßig erfolgreich, wenn man die einzige Autoikone betrachtet, die auf die Anregung Benthams schließlich enstanden ist und die man heute im University College in London bewundern kann. Dort sitzt das vollständig bekleidete Skelett Benthams in seinem Lieblingsstuhl in einem Glaskasten und trägt einen Wachskopf auf den Schultern, während der echte Schädel zuerst im Brustkasten verborgen wurde, um, nachdem er im Rahmen eines studentischen Streiches einmal entwendet wurde, in einer separaten Kiste verwahrt zu werden. Während der Wachskopf genau dem Porträt des Philosophen entspricht, ist das Original von ledriger Konsistenz, die Haut ist dunkel angelaufen, aus den Augenhöhlen starren Glasaugen und die Haare wuchsen wohl noch ein wenig weiter, jedenfalls sind sie länger als auf seinen Bildern.

Gesichtsmaske aus Wachs - Foto: © 2011 by Schattenblick

Persona/Maske - Wachs in den Händen der Künstlerin
Foto: © 2011 by Schattenblick

Thomas Southwood-Smith hatte nach langwierigen Experimenten auf eine altbekannte Konservierungsmethode zurückgegriffen, die man gerne zur Trocknung von Pflaumen verwendet, was man dem Kopf auch ansieht - er wurde unter einer Luftpumpe mit Schwefelsäure bedampft. Abgesehen von diesem Ergebnis war die auf den Tod Benthams folgende Feierlichkeit jedoch von besonderer Art, sie enthielt sich konventioneller Rituale und fand statt dessen in einem Vorlesungssaal des University College statt. Dort wurde Bentham am 9. Juni 1832, drei Tage nach seinem Ableben, seiner testamentarischen Verfügung entsprechend im Beisein seiner Freunde und anderer prominenter Trauergäste von Southwood-Smith obduziert und zum Gegenstand eines Vortrags erhoben. Die Prozedur sollte Bentham zufolge zeigen, "daß der menschliche Körper, wenn er einmal seziert wurde, kein Objekt des Ekels, sondern sehr viel schöner als jeder andere Mechanismus ist, da er sehr viel interessanter und wunderbarer ist."

Trotz der vielen Forderungen aus den Reihen der Ärzteschaft, in umfassender Weise Sektionen an Leichen durchzuführen, war Bentham einer der wenigen aus der englischen Oberschicht gewesen, der sich selbst zum Gegenstand der Forschung machte. Das tat er jedoch nur in dem Maße, wie es die Herstellung seiner Autoikone nicht beeinträchtigte, während das sozial minderwertige Obduktionsmaterial nicht danach gefragt wurde, ob es lieber unter der Erde denn als auf einem Ständer baumelndes Skelett oder als auf diverse Einmachgläser verteilte Präparatesammlung enden wollte.

Marijs Boulogne vor Bildprojektion - Foto: © 2011 by Schattenblick

Ausblicke, Einblicke ...
Foto: © 2011 by Schattenblick

Auf jeden Fall könnte Benthams Kernsatz des Autoikonismus, "daß mit dem Einverständnis betroffener Beteiligter die Masse an Materie, die der Tod geschaffen hat, verwendet werden möge mit Blick auf das Glück der Menschheit, in einem Wort, zum höchsten Nutzen", ungekürzt den Leitlinien einer modernen Ethik-Kommission entnommen worden sein, wo man sich ebenfalls über die größtmögliche Nutzung humanen Biomaterials Gedanken macht. Daß der Betroffene dabei zwar für tot erklärt wird, aber keinesfalls mehr das klassische Bild einer Leiche abgibt, dürfte ein Fortschritt ganz nach Benthams Geschmack sein. Schließlich ging auch bei ihm der maximale Nutzen immer auf Kosten derjenigen Menschen, die aufgrund ihrer mißlichen Lage oder inferioren Position nicht artikulieren konnten, daß die utilitaristische Logik ihr Lebensglück keineswegs erhöht. Die angeblich so fortschrittliche Welt des Aufklärers Bentham bestand für das Proletariat zur Hälfte aus dem von ihm erdachten Panopticon-Knast und zur Hälfte aus Arbeitshäusern. Sein Vorschlag, körperlich Behinderte immer mit den Blinden zusammenzuführen, da diese nicht von deren Anblick gestört würden, belegt, daß ihm der Wildwuchs des Lebens kein größeres Greuel sein konnte. Insofern ist der Autoikonismus nicht eine abseitige Schrulle eines ansonsten rationalen Vordenkers der Moderne. Als identitäres Abbild gesellschaftlicher Ordnung ist er Inbegriff einer Glücksbilanz, die nach Heller und Pfennig aufgemacht, in der Vitrine sozialer Bestätigungssucht ausgestellt und als maskenhaft erstarrte Persona im Reigen endloser Bespiegelung rückstandslos vergeht.

Zoe Laughlin in Aktion - Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Faszination archaischen Handwerks
Foto: © 2011 by Schattenblick

Heute ist dem Autoikonismus eine kleine Renaissance beschieden. Mit der von dem Anatomen Gunther von Hagens maßgeblich weiterentwickelten Methode der Plastination lassen sich lebensechte und praktisch unverwüstliche Ganzkörperpräparate herstellen, die Bentham sicherlich als die Erfüllung seiner morbiden Träume erschienen wären. Die Ausstellung "Körperwelten" des Show-Anatomen von Hagens ist ein nekrophiles Spektakel, das sich in aller Welt großer Beliebtheit erfüllt, und das weniger, weil das Publikum die Gelegenheit zum Studium der menschlichen Anatomie nutzte. Die Darstellung per Plastination posenhaft erstarrter Leichen bei Verrichtungen aller Art bis hin zum Geschlechtsakt [2] bietet einen ästhetischen Genuß eigener Art, kam der Tod doch noch niemals so steril und hygienisch daher wie in dieser Präsentation.

Im November 2002 ließ Gunther von Hagens das Anatomische Theater mit einer öffentlichen Leichensektion in einer Londoner Kunstgalerie wiederauferstehen. In der internationalen Berichterstattung über das Ereignis wurde der Eindruck erweckt, hier brächen sich die Ambitionen eines eitlen Selbstdarstellers Bahn, der sich als besonders kühner Zerstörer jahrhundertealter Klerikalmoral inszeniert, weil er das Innerste nach außen kehrt und dabei sogar seinen Hut aufbehält. Allerdings hinkte man mit dieser Darstellung weit hinter dem Stand der Medizin her, bedurfte es doch nicht erst einer solchen Aufführung, um die Verwertung des Menschen bis auf die letzte Faser seiner Leiblichkeit zu kritisieren.

Der erklärte Zweck des Events, das Publikum zur "Objektivierung des menschlichen Körpers" zu erziehen, wurde durch die Transplantationsmedizin, die hochprofitable Nutzung von Leichenteilen für die Herstellung von Medikamenten und Kosmetika und die pharmazeutische Forschung am lebenden humanen Objekt längst vollzogen. Wenn wirtschaftlich notleidende Menschen, Behinderte und nichteinwilligungsfähige Patienten für die sogenannte fremdnützige Forschung mißbraucht werden, dann reduzierte sich die Sektion eines toten Körpers auf den damit erbrachten Unterhaltungswert. Das hielt bei der Veranstaltung anwesende Transplantationsmediziner nicht davon ab, die angeblich pädogogische Wirkung der Performance zu loben, weil sie sich mehr Zuspruch für die Organspende davon erhofften. Ein Philosoph räsonierte über die Notwendigkeit der Entprivatisierung des toten Körpers in der liberalen Demokratie, rennt mit diesem Appell in der britischen Gesellschaft jedoch offene Türen ein, gehört das Land doch hinsichtlich der freizügigen Anwendung biomedizinischer Techniken zu den fortschrittlichsten Europas. So fand bereits damals eine Diskussion darüber statt, den Eigentumsanspruch auf die Physis mit dem Tod erlöschen zu lassen und die leibliche Hülle dem Staat zwecks Weiterverwendung zu übereignen.

Sektion am offenen Brustkorb - Foto: © 2011 by Schattenblick Sektion am offenen Brustkorb - Foto: © 2011 by Schattenblick

Das Herz der Finsternis ins grelle Licht fremder Blicke geholt
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Leiche jenes Trinkers, die Hagens vor einem erlesenen Publikum zerlegte, bot denn auch eher symbolischen Anlaß zur Kritik am voyeuristischen Charakter des Anatomischen Theaters. Die Abnutzung moralischer Reflexe, die dem atomisierten Individuum auch noch vermeintlich sinnträchtige Sentenzen wie die eines Assistenten von Hagens abgewinnen kann, daß niemand wisse, was für ein Leben die vorliegende Leiche geführt habe, war eigentlicher Sinn und Zweck der Veranstaltung. Niemand ist wirklich daran interessiert, näheres über den Menschen zu erfahren, der als Leiche zum Schaustück seiner Zerlegung avancierte. Seine beliebig austauschbare Biografie wurde in den kurzen Glanz einer Aufmerksamkeit getaucht, die vor allem dem Anatomen gewidmet war. Brächte man die Lebensgeschichte des Verstorbenen auf irgendeine Weise mit dem sezierten Objekt in Verbindung, dann wirkte die Personifizierung des Untersuchungsgegenstands inmitten einer Situation totalen Ausgeliefertseins bestenfalls als Symbol menschlichen Scheiterns, was natürlich zur Unterhaltung beitragen könnte.

Auch physiologisch hat ein Leichnam mit dem bewegten Körper nicht mehr gemein als die bioorganische Grundlage eines Vorganges namens Leben, von dem die Medizin zwar behauptet, alles zu wissen, der ihr aber desto ungreifbarer zu werden scheint, als sie dem Mysterium durch Schneiden und Zerteilen auf den Grund zu gehen versucht. Wer vermutete, das in seine Fasern zerlegte und von seinen Flüssigkeiten befreite bioorganische Substrat verriete irgend etwas anderes über den Menschen als ein Steak über die Ohnmacht seines Erzeugers, kann sein Leben lang in den Eingeweiden anderer wühlen, um doch immer wieder auf die Zirkelschlüssigkeit seines Erkenntnisstrebens zu stoßen.

Zoe Laughlin bei Performance - Foto: © 2011 by Schattenblick

Es ist angerichtet ...
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die auf dem Kongress "Die Untoten" abgehaltenden Performances "The Wonder of Flesh and the Brillance of Blood" der britischen Künstlerin Zoe Laughlin und "The Anatomy Lesson - A Forensic Fairytale" der belgischen Künstlerin Marijs Boulogne stehen, wenn auch mit ironischer Distanz und komödiantenhaftem Schauspiel in Szene gesetzt, durchaus in der Tradition des Anatomischen Theaters. Laughlin erging sich in einer furiosen Darbietung der stählernen Instrumente und der von ihnen sezierten Wetware, die darauf angelegt zu sein schien, Reaktionen der Aversion und Befremdung im Publikum hervorzurufen und die Grenzen seiner Belastbarkeit weiter hinauszuschieben. Die von ihr zelebrierte "Feier des Materials" eignete sich bestens dazu, das Verhältnis zum stofflichen Charakter des Körpers und seiner künstlichen Substitute zu objektivieren und damit seiner universalen Verwendbarkeit zuzuarbeiten.

Boulogne führte mit ihrer Assistentin eine Obduktion an einer Fadenpuppe durch, bei der der Betrachter schnell vergessen konnte, daß es sich um ein Kunstwerk aus Schnüren und Stoffen handelte. Das klinische Setting der Darbietung, die anatomisch präzisen Erklärungen der Künstlerin und die Projektionen aus dem Inneren des kleinen Wesens auf die Leinwand verliehen dem Ereignis eine Aura der Normalität, die seinen performativen Impetus mitunter vergessen ließ. In beiden Fällen konnte der Zuschauer den Eindruck gewinnen, es mit ambitionierten, die medizinische Zurichtung des Menschen nicht in Frage stellenden Künstlerinnen zu tun zu haben. So erfüllt Kultur an dieser Stelle weit mehr die Aufgabe eines Instituts der Vermittlung innovativer Formen der Vergesellschaftung denn die eines Anlasses zur Besinnung auf Fragen, die der Verfügbarkeit des einzelnen durch die Ratio eines übergeordneten Nutzens entgegenwirken könnten.

Fußnoten:

[1] http://www.palma3.ch/hirnsturm/pdf/06.pdf

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0801.html

Zum Anatomischen Theater ausführlich siehe
Bergmann, Anna. Der entseelte Patient: Die moderne Medizin und der Tod. Berlin, 2004
Rezension im SB: http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar353.html

Chirurg an Rezeption - Foto: © 2011 by Schattenblick

Klinische Bedingungen auch im Foyer des Kongresses
Foto: © 2011 by Schattenblick

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)
BERICHT/016: "Die Untoten" - Sandy Stone ... aus einem bewegten Leben (SB)
BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)
BERICHT/018: "Die Untoten" - Kapitalgespenster - Zur Ästhetik fehlender Theorie (SB)
BERICHT/019: "Die Untoten" - Auf der Suche nach dem Sitz des Bösen (SB)
BERICHT/020: "Die Untoten" - Verschleißwelten unvollständiger Autonomie (SB)
BERICHT/021: "Die Untoten" - Menschliches Gemüse - Organspender philosophisch totgesagt (SB)
BERICHT/022: "Die Untoten" - "Nollywood" - Nigerias populärkulturelle Filmproduktion (SB)
BERICHT/023: "Die Untoten" - Prothetik im Dienste der herrschenden Ordnung (SB)
BERICHT/024: "Die Untoten" - Aus den Gräbern ein Spiegelbild menschlicher Obsession (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)
INTERVIEW/005: "Die Untoten" - Sander L. Gilman zu Fragen der kosmetischen Chirurgie (SB)
INTERVIEW/006: "Die Untoten" - Georg Fülberth, Politikwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/007: "Die Untoten" - Sandy Stone, Performancekünstlerin und Wissenschaftlerin (SB)
INTERVIEW/008: "Die Untoten" - Hans Werner Ingensiep, Philosoph und Biologe (SB)
INTERVIEW/009: "Die Untoten" - Dorothee Wenner, Journalistin und Filmemacherin (SB)
INTERVIEW/010: "Die Untoten" - Karin Harrasser, wissenschaftliche Leitung des Kongresses (SB)

23. Juni 2011