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INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)


"Den Kampf für Menschen im Wachkoma nicht aufgeben"

Interview mit Matthias Zerler am 14. Mai 2011 auf Kampnagel


Fernab des Rampenlichts fand auf dem Kampnagel-Kongreß "Die Untoten" ein Workshop zum Thema "Wachkoma - Kleine Zeichen oder keine Zeichen?" statt [1]. Matthias Zerler, einer der Teilnehmer, ist beruflich intensiv mit der Betreuung sogenannter Wachkoma-Patienten betraut. Im Anschluß an den Workshop erklärte er sich bereit, dem Schattenblick einige weitere Fragen zu beantworten.

Matthias Zerler geht auf ernste Fragen ein - Foto: © 2011 by Schattenblick

Matthias Zerler geht auf ernste Fragen ein
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Zerler, könnten Sie sich zunächst bitte einmal vorstellen und Ihre berufliche Tätigkeit im Pflegebereich beschreiben?

Matthias Zerler (MZ): Mein Name ist Matthias Zerler und ich bin derzeit der Leiter von "Phase F" oder besser des Wachkomabereichs in Plön, Schleswig-Holstein, und gleichzeitig der Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Spezialpflegeeinrichtung für Wachkoma-Patienten in Schleswig-Holstein und Hamburg. Von Hause aus bin ich Krankenpfleger.

SB: Um eine Begriffsklärung voranzuschicken: Würden Sie uns den Unterschied zwischen "Wachkoma-Patienten" und "künstlichem Koma" erläutern? Was macht einen Wachkoma-Patienten aus?

MZ: Ich fange einmal mit dem "künstlichen Koma" an. Ich glaube, die meisten Menschen verstehen es am besten, wenn man es mit einer Narkose bei einer Operation vergleicht. Man wird von Ärzten/Ärztinnen mit Medikamenten in einen künstlichen Tiefschlaf, also in einen Narkosezustand, versetzt, in dem man nichts mehr aus der Umwelt wahrnimmt. Man nimmt auch den eigenen Körper nicht mehr wahr, so daß Operationen durchgeführt werden können, ohne daß der Mensch, der operiert wird, Schmerzen hat. Diesen Zustand des künstlichen Komas oder der Narkose kann man auch in der Intensivstation in Krankenhäusern nicht nur über mehrere Stunden, sondern auch über mehrere Tage und Wochen aufrechterhalten, was bei bestimmten Erkrankungen notwendig ist.

Im Gegensatz dazu steht das sogenannte "Wachkoma", ein Zustand, der nicht durch Medikamente ausgelöst wird, sondern zum Beispiel nach schweren Verletzungen des Gehirns auftritt. Diese Menschen sind auf den ersten Blick nicht kontaktierbar, haben aber meistens wache Augen, die im Raum umherirren, ohne das Gegenüber zu fixieren. Aus diesem Grund ist es zu dieser eigentlich widersprüchlichen Wortbildung gekommen: "Koma", das eigentlich einen Zustand der völligen Nichtwahrnehmung darstellt, und "wach" ist eben halt wach. Im "Wachkoma" ist jemand, der einerseits offensichtlich nicht da oder in einer anderen Welt zu sein scheint, aber andererseits gleichzeitig auf den ersten Blick so wirkt, als ob er doch wach wäre.

SB: Damit nehmen Sie meine nächste Frage fast schon vorweg. Das Wort "Koma" läßt eine große Nähe zum Tod vermuten, aber so wie Sie die Betroffenen beschrieben haben, würde jeder doch von einem lebendigen Menschen sprechen.

MZ: Richtig. Ich halte deshalb den Begriff "Wachkoma" auch für schwierig. Persönlich spreche ich lieber von schweren und schwersten neurologischen Schädigungen, weil es den klassischen Wachkoma-Patienten, wie wir ihn von den Medien präsentiert bekommen, eigentlich nur in Ausnahmefällen gibt. Die Ausfälle können unterschiedlichster Natur sein und wirklich so weit gehen, daß dieser Zustand tatsächlich nicht mehr von dem eines künstlich herbeigeführten Komas zu unterscheiden ist und einer tiefen Bewußtlosigkeit gleicht. Andererseits können auch ausgeprägte körperliche Ausfallerscheinungen vorhanden sein, während gleichzeitig die intellektuelle Leistungsfähigkeit, Wahrnehmungsfähigkeit und Emotionalität weitestgehend erhalten geblieben sind.

SB: Sie drücken sich sicherlich nicht zufällig sehr vorsichtig aus, so als ob man das alles mit großer Gewißheit gar nicht sagen könnte. Die Frage, was der betroffene Mensch wirklich empfindet, ist aus der Außensicht eigentlich von niemandem zu beantworten.

MZ: Ja. Das geht uns, so wie wir jetzt hier stehen, auch so. Wenn ich ehrlich zu mir bin, habe ich ganz große Schwierigkeiten, wirklich beschreiben zu können, was Sie in diesem Moment empfinden. Uns fällt das nur nicht so auf, weil wir offen miteinander reden können. Das wird deutlich, wenn ich jemanden im vermeintlichen Wachkoma vor mir habe. Dann fehlen mir oft die Worte. Deshalb versuche ich mich ganz vorsichtig an das Problemfeld heranzutasten, Schrittchen für Schrittchen weiterzukommen, um vielleicht irgendwann einmal doch mehr zu wissen, was vielleicht tatsächlich gerade bei dem konkreten Gegenüber an Empfindungen da ist.

SB: Können Sie dazu ein Beispiel erzählen?

MZ: Das ist natürlich schwierig. Wenn wir miteinander kommunizieren, so wie wir jetzt hier stehen, versuche ich, Ihre Mimik zu deuten, ich ziehe Rückschlüsse auf Ihr Empfinden über die Formulierungen, die Sie wählen, über die Sprachmelodie und was es alles noch für wunderschöne Sachen aus der Kommunikationsforschung gibt. Auf eine ähnliche Art und Weise versuche ich das mit Menschen im Wachkoma zu praktizieren und deren Äußerungen, zu denen sie noch fähig sind, zu deuten.

Ich will mit einem ganz einfachen Beispiel anfangen: Wir wissen alle von uns, daß wir, wenn es uns nicht gut geht, wenn wir vielleicht Angst oder Schmerzen haben, mit erhöhter Herz- oder Atemfrequenz darauf reagieren. Auf eine fast identische Weise regiert auch ein Mensch im Wachkoma auf Schmerzen oder Angst oder auf andere Mißempfindungen. Ich als Betreuender des Wachkoma-Patienten kann diese Dinge messen und sehen. Ich sehe und deute auch sich verändernde Mimiken. Und über einen längeren Zeitraum betrachtet, den ich brauche, um entsprechende Erfahrungen zu sammeln und um mein Gegenüber kennenzulernen, gelingt es mir nach einer gewissen Zeit - nach bestem Wissen und Gewissen, das muß ich immer dazu sagen - zu interpretieren, in was für einer Gefühlslage sich der Patient befindet.

Matthias Zerler im Gespräch mit SB-Redakteurin - Foto: © 2011 by Schattenblick

Matthias Zerler im Gespräch mit SB-Redakteurin
Foto: © 2011 by Schattenblick
SB: Auf dem Workshop hier wurde deutlich, daß bei Wachkoma-Patienten eigentlich von einem Sterbeprozeß überhaupt nicht die Rede sein kann, sie sterben an Krankheiten wie jeder andere auch. Dieses Wie-jeder- andere-auch ist mir sehr wichtig. Wie kommt es, daß es in der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte eine so unselige Verknüpfung zwischen diesen beiden Bereichen gibt?

MZ: Der Zustand des Wachkomas scheint etwas zu sein, das uns fremd ist, uns erinnert an Siechtum, an einen lebensbedrohlichen Zustand auf der Intensivstation im Akut-Krankenhaus. Es macht uns Angst, wenn jemand mit uns nicht mehr kommunizieren kann, gerade auch, wenn es ein jüngerer Mensch ist. Und bei vielen taucht die Frage auf, ob ein solches Leben im Wachkoma ein Leben ist, das vielleicht doch eher von Leiden und Qual bestimmt ist. Vielen fällt es schwer, sich vorzustellen, daß sich auch ein Mensch im Wachkoma unter Umständen freuen kann, Zustände der Zufriedenheit erleben und vielleicht auch die kurzen Momente des Glücks haben kann, nach denen wir ja alle irgendwie suchen.

SB: Ein Teilnehmer vorhin hat deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er es sich überhaupt nicht vorstellen kann, in einem solchen Zustand zu leben. Wie sehen Sie das, der Sie durch die Intensivpflege viel mehr Erfahrung haben als die meisten Menschen?

MZ: Ich glaube, daß ein Leben im Wachkoma eine mögliche Existenzform des Menschen ist. Wenn ich das so explizit sage, meine ich damit auch, daß diese Menschen im Wachkoma genauso wie wir dazu in der Lage sind, Freude und Leid zu empfinden. Wenn ich jetzt eine Frage weitergehe und überlege: "Was macht unser Menschsein eigentlich aus?", wird es ganz, ganz schwierig. Die Philosophie versucht es seit dreieinhalbtausend Jahren zu definieren. Bis heute ist nicht gelungen zu sagen, was ein Mensch eigentlich ist. Aber eines, glaube ich, gibt es, worüber wir uns einig sind: Wir Menschen versuchen, nach Momenten des Glücks zu streben. Wir wollen zufrieden sein, auf welche Art und Weise auch immer. Und das sind Dinge, die ebenso ein Mensch im Wachkoma erleben kann.

SB: Zum Stichwort "Patientenverfügung": In der Veranstaltung vorhin wurde von einer Teilnehmerin zum Ausdruck gebracht, für sie sei es ein Grauen, sich vorzustellen, im Zustand des Wachkomas zu leben. Man kann sich aber auch das Grauen vorstellen, wenn jemand Glücksmomente, Zufriedenheit erlebt, sich selbst völlig bewußt ist und dann um sein Leben bangen muß. Diese Angst ist ja sehr begründet, selbst im Zusammenhang mit der Patientenverfügung. Wie würden Sie dazu Stellung nehmen?

MZ: Das ist eine ganz, ganz schwierige Frage, auf die es, glaube ich, auch keine wirklich allgemeingültige und verbindliche Antwort gibt. Im Zusammenhang mit der Patientenverfügung muß ich sagen, daß es wirklich die individuelle Entscheidung von jedem Menschen ist, die natürlich auch im Einklang mit dem jeweiligen Lebensplan stehen muß. Was ich nicht weiß und wo ich unsicher bin, ist, ob wir als vermeintlich Gesunde uns immer tatsächlich vorstellen können, wie sich unsere Wahrnehmung ändert, wenn Krankheit, Behinderung oder Ausfall von körperlichen Fähigkeiten hinzutritt. Daher finde ich es als Gesunder schwierig festzulegen, wie mit mir zu verfahren ist, wenn etwas von dem Genannten dazukommt.

Um ein Beispiel aus einem ganz anderen Zusammenhang zu geben: Ich habe einmal eine Klinik für Menschen mit Querschnittslähmungen besucht. Dort waren viele junge Menschen, die nach dem Versuch, sich das Leben zu nehmen, ganz hohe Querschnittslähmungen hatten - auch welche, die dazu geführt haben, daß sie nicht mehr selbständig atmen konnten, also auf maschinelle Unterstützung der Atmung angewiesen waren, die ihre Arme und Beine nicht mehr bewegen konnten, die unter Umständen sogar nicht mehr sprechen konnten. Und das Erstaunliche ist: Keiner von ihnen, die diese Behinderung aufgrund des mißlungenen Selbstmordversuchs davongetragen hatten, war, als die Therapie und die Rehabilitation losging, noch in irgendeiner Form selbstmordgefährdet. Selbst Menschen, die mit ihrem gesunden Leben abgeschlossen haben, können über eine wirklich eingreifende Behinderung, die nun Oberquerschnitt bedeutet, plötzlich wieder ein Lebensziel haben. Und vielleicht ist es für die Bewohnerin, die bei mir auf der Abteilung im Wachkoma liegt, das große Ziel, wieder Nahrung auf dem normalen Weg über den Mund zu sich zu nehmen. Vielleicht ist das ihr großes Lebensziel geworden.

SB: Ebenso prekär ist doch auch die Vorstellung, daß ein Mensch überhaupt sterben wollen könnte, also die Annahme, es gäbe einen freien Willen.

MZ: Die Erfahrung, die ich damit habe und die sich nicht bloß auf meine Erfahrung mit Menschen im Wachkoma erstreckt, sondern auf meine gesamte krankenpflegerische Erfahrung, ist die, daß jemand, der sich aufgibt, der nicht mehr leben will, weil er zum Beispiel die Schmerzen nicht mehr ertragen möchte oder weil ihm sein ganzes soziales Umfeld weggebrochen ist - und da gibt es noch weitere vielfältige Möglichkeiten -, auch schneller stirbt als jemand, der weiterleben möchte. Ich glaube nicht, daß ich mich hinsetzen, hinlegen oder hinstellen kann und sage: "So, das war's jetzt, ich sterbe jetzt". Aber ich glaube schon, daß ein Lebensziel und eine positive Lebensqualität zu Kräften führen, eine Krankheit oder eine Behinderung zu bewältigen, so daß es auch zu einem längeren Leben kommt.

SB: Ein kleiner Sprung zum Thema "Transplantationsmedizin und Hirntod": Haben Sie in Ihrem Berufsfeld mit dieser Frage nach dem möglichen Übergang zu tun? Ist das für Sie ein Problem?

MZ: Ich habe jetzt aktuell damit als Leiter einer Wachkomastation nicht mehr zu tun. Aber bevor ich dieses Aufgabenfeld übernommen habe, arbeitete ich als stellvertretende Leitung auf einer großen operativen Intensivstation in Berlin - in der Charité -, in der auch Multiorganentnahmen stattgefunden haben. Ich habe auf einer Station gearbeitet, wo die sogenannten hirntoten Menschen versorgt worden sind.

SB: Wären Sie bereit, das etwas näher zu beschreiben? Ich weiß, das ist eine harte Frage.

MZ: Das ist eine ganz harte Frage. Das ist auch ein ganz, ganz heikles Thema, denn in der Diskussion um Hirntod, um die Bereitschaft der Organspende, wird ein wichtiger Teil immer weggelassen, nämlich der, daß die Menschen, denen Organe entnommen werden dürfen, weil bei ihnen ein Hirntod diagnostiziert worden ist, nicht tot aussehen. Sie atmen, sicherlich unterstützt durch eine Maschine, aber sie atmen, sie sind warm, die anderen Körperfunktionen funktionieren auch noch. Es widerspricht jeglicher sinnlichen Wahrnehmung, diese Menschen tatsächlich auch als tot zu empfinden. Bei jedem Menschen, der eines natürlichen Herztods gestorben ist, kommen Sie in den Raum und wissen: Da liegt ein toter Mensch. Bei jemandem, bei dem ein Hirntod diagnostiziert worden ist, können Sie das nicht mehr wahrnehmen. Und wenn Sie als Pfleger unter Umständen sogar über einen längeren Zeitraum solch einen Patienten betreut haben - als er sich vielleicht noch in einem Zustand befand, wo der Hirntod nicht diagnostiziert war - und Sie pflegen ihn wirklich bis zu dem Moment, wenn das Transplantationsteam zu Ihnen auf die Station kommt, um ihn in den benachbarten Operationssaal zu fahren, ist das ein Gefühl oder eine Empfindung, die kaum zu beschreiben ist.

SB: Da erübrigt es sich fast, Sie zu fragen, wie Sie zur Umdefinition der Todes-Definition vom Herztod zum Hirntod stehen. Der Zusammenhang zu den Bedürfnissen der Transplantationsmedizin liegt quasi auf der Hand.

MZ: Er liegt auf der Hand, auch wenn man sich die zeitliche Abfolge anschaut, wann es die Formulierung der Hirntod-Definition gab und wann die ersten großen Organtransplantationen stattgefunden haben. Die Zeiten sind fast identisch. Ich glaube wirklich, daß es die Hirntod-Definition ohne die Etablierung der Transplantationsmedizin nicht gäbe, weil sie eigentlich auch fürs übrige Leben so überflüssig ist wie ein Kropf.

SB: Sie sagten vorhin in dem Workshop, daß es in Ihrem heutigen pflegerischen Bereich immer schwieriger werde, die finanziellen Mittel für die Betreuung der Wachkoma-Patienten zu bekommen. Stehen diese Probleme in Zusammenhang mit dem Gesundheitssytem und den Reformen?

MZ: In Deutschland ist es gegen Ende des 20. Jahrhunderts, Anfang des 21. Jahrhunderts ein ganz großer, auch qualitativer Schritt nach vorn gewesen, daß Pflegeeinrichtungen die Möglichkeit bekamen, Abteilungen in Spezialkliniken für Menschen im Wachkoma aufzubauen. Der große Schritt dabei war, daß diesen Spezialabteilungen auch mehr Geld zur Verfügung gestellt worden ist als einer normalen Pflegeeinrichtung. Es hat in die Zeit gepaßt.

Inzwischen wissen wir, daß die Gelder sowohl in den öffentlichen als auch in den Kassen der Sozialversicherungen knapper geworden sind, und es wird natürlich von allen Seiten darauf geachtet, teurere Bereiche finanziell auf einem bestimmten Level einzufrieren bzw. die Mittel zu kürzen. Konkret heißt das, daß die finanziellen Mittel der ganzen Spezialpflegeeinrichtungen, die Menschen im Wachkoma betreuen, eingefroren sind. Dazu kommt, daß Wachkoma-Patienten immer seltener von den Gutachtern der Kassen die höchste Pflegestufe zugesprochen bekommen. Es ist heute fast die Regel, daß ein Mensch im Wachkoma nur noch die Pflegestufe 2 bekommt und nicht mehr die 3 oder die Härtefallpflegestufe, und das schränkt natürlich unsere finanziellen Möglichkeiten ein.

SB: Wie ist das denn möglich?

MZ: Das ist über eine strikte Unterscheidung zwischen sogenannter Behandlungspflege und Grundpflege möglich, die es so in der Form auch nur in Deutschland gibt. Und wir sind ja Deutsche und wir sind sehr gründlich. Es wird gesagt: Grundpflege ist etwas, das von den Pflegekassen finanziert wird, Behandlungspflege ist etwas, das von den Krankenkassen finanziert wird. Ein Mensch im Wachkoma hat einen ganz, ganz großen Pflegeaufwand, aber die Anteile der sogenannten Behandlungspflege sind auch erheblich groß. Und diese Anteile werden bei der Begutachtung durch die Einstufung der Pflegekassen abgezogen, so daß plötzlich bloß noch ein Minutenanteil von der Pflegestufe 2 übrig bleibt.

Um es noch anders auszudrücken: Es ist tatsächlich so, daß das Bedienen von einer Magensonde bzw. die Überwachung der Beatmung und die Durchführung der maschinellen Beatmung als pflegeerleichternde Maßnahmen im Sinne der Grundpflege dargestellt werden, die auch als Minutenwert von der Einstufung, was die Pflegestufe angeht, abgezogen werden. Des weiteren sind nach wie vor die Krankenkassen in der Regel nicht bereit, in diesen Spezialpflegeeinrichtungen die Behandlungspflege zu bezahlen. Das hat zur Folge, daß die gegenwärtige Situation so ist, daß wir alle Menschen, die in solchen Spezialpflegeeinrichtungen untergebracht sind, in kürzester Zeit zum Sozialfall machen und mittelfristig auch die Angehörigen, die Familien dieser Betroffenen.

SB: Da versagt im Grunde das Versicherungssystem gerade bei den Menschen, für die es vom Anspruch her eigentlich am allermeisten gedacht gewesen wäre.

MZ: Ja.

SB: Wie Sie sagten, werden Patienten, die auf die Pflegestufe 2 reduziert werden und kein Vermögen im Hintergrund haben, schnell zum Sozialfall. Wenn der Sozialfall nun schon von vornherein eingetreten ist, was passiert dann mit diesen Patienten?

MZ: Da ist es zum Glück nach wie vor so, daß die Sozialämter auch für Menschen, bei denen der Sozialfall schon eingetreten ist, verpflichtet werden, diese Kosten zu übernehmen.

SB: Und gibt es keine Einbußen in der Pflege?

MZ: Nein. Es ist tatsächlich noch gewährleistet, daß es keinerlei Einbußen gibt und auch keine Unterschiede in der Betreuung, was Menschen angeht, die vollständig vom Sozialamt finanziert werden, und andere, die noch das vermeintliche Glück haben, die Betreuung aus ihrem eigenen Vermögen finanzieren zu können.

Es gibt eine Sache, die ich in dem Zusammenhang nicht verschweigen möchte: Nach oben sind natürlich keine Grenzen gesetzt, und so sehr ich mich für Monica Lierhaus [3] als Person freue, was sie in den letzten Monaten oder Jahren für riesige Fortschritte gemacht hat, darf man dabei nicht vergessen, daß dafür auch aufgrund einer sehr, sehr guten finanziellen Situation erhebliche finanzielle Mittel eingesetzt worden sind, die sonst eigentlich nur einer Handvoll Menschen zur Verfügung stehen.

Für eine gute Pflege braucht man qualifiziertes Fachpersonal und in der Regel auch einen großen Anteil an Pflegekräften, die Intensivpflegeerfahrung haben. Ich konkurriere also bei der Personalrekrutierung mit den Intensivstationen in Akut-Krankenhäusern. Nun machen Sie einmal einem Intensivpfleger oder einer Intensivschwester, die jetzt meinetwegen in der Uni Kiel oder in der Uni Lübeck arbeiten, klar, daß sie oder er doch eigentlich viel besser in dem Wachkomabereich in Plön auf dem flachen Land arbeiten könnte. Das hat eine Weile gedauert.

SB: Sehen Sie tendenziell einen wachsenden Bedarf an diesen Spezialpflegeeinrichtungen wie beispielsweise für Wachkoma-Patienten?

MZ: Von der Sache her ist es im Prinzip so, daß der Bedarf steigt. Vor dem Hintergrund, daß die finanziellen Mittel enger werden und es kaum einem Träger in den letzten zwei, drei Jahren möglich geworden ist, bei den Ämtern die Genehmigung für den Betrieb einer neuen Phase F oder eine Wachkoma-Einrichtung zu bekommen, wird die Anzahl der Spezialpflegeplätze eher nicht steigen. Trotzdem ist es absolut so, daß der Bedarf steigt. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine ist, daß die Intensivmedizin besser geworden ist, aber eben halt nicht gut genug. Die Intensivstationen schmeißen - ganz salopp gesagt - immer mehr von diesen neurologisch schwerst geschädigten Patienten raus.

Aber noch viel entscheidender ist die Einführung der DRGs [2] und der Fallpauschale. Das ist in der Öffentlichkeit, glaube ich, in der ganzen Bedeutung noch nicht wahrgenommen worden. Die Intensivstationen hören irgendwann auf, mit den Patienten Geld zu verdienen. Da ist das Geld, das über die Fallpauschale gezahlt wird, einfach aufgebraucht, und dann wollen sie die Leute loswerden, weil sie sonst rote Zahlen schreiben. Das heißt: Verlegungen von den Intensivstationen finden viel, viel eher statt als es noch vor fünf Jahren der Fall gewesen ist. Früher hatte jedes Krankenhaus für jeden Tag Liegezeit auf der Intensivstation einen erheblichen Betrag bekommen, so zwischen - das kam auf die Klinik an - 1.000, 1.800 bis 2.000 Euro am Tag. Heute ist das gedeckelt. Da die Normalstationen in den Akut-Krankenhäusern diese schwerst pflegebedürftigen Menschen nicht betreuen können, weil das Knowhow und die Manpower fehlen, kommen diese Patienten dann auch zu uns.

Matthias Zerler mit SB-Redakteurin - Kampf für Menschen im Wachkoma - Foto: © 2011 by Schattenblick

Den Kampf für Menschen im Wachkoma
nicht aufgeben
Foto: © 2011 by Schattenblick
SB: Was sind Ihre düstersten Visionen für die Pflege der Wachkoma-Patienten?

MZ: Meine düsterste Version ist, daß es Sozialpflegeeinrichtungen nicht mehr geben wird und daß Menschen im Wachkoma in normale Altenpflegeheime abgeschoben werden. Das bedeutet, daß sie da liegen werden und liegen werden und liegen werden und nicht gefördert werden können, weil die personellen Ressourcen in einem normalen Altenpflegeheim gar nicht ausreichen, um diese Menschen betreuen zu können. Das wird dazu führen, daß diese Menschen dann auch sehr viel schneller versterben als heute.

SB: Zweifeln Sie aufgrund dieser Schwierigkeiten an Ihrem Beruf?

MZ: Ich zweifele an meinem Beruf, seitdem ich ihn ergriffen habe (lacht). Aber da ich gerne gegen Windmühlenflügel anlaufe, will ich eigentlich, bis ich irgendwann einmal in den Ruhestand gehe, den Kampf für die Menschen, die mir anvertraut worden sind, und das sind derzeit die Menschen im Wachkoma, nicht aufgeben.

SB: Ist das auch der Grund, warum Sie heute hier sind?

MZ: Ja.

SB: Auf der Veranstaltung vorhin wurde anläßlich des Themas Demenz das Beispiel Walter Jens angeführt. Das ist doch ein sehr treffendes Beispiel dafür, wie sehr die bei all diesen sogenannten Zuständen berührten Probleme die Probleme anderer Menschen und nicht die der eigentlich Betroffenen sind. Walter Jens, der große Intellektuelle, geht in seinem heutigen Leben wohl gerne Enten füttern. Kommt in der Sichtweise Außenstehender nicht ein Denken in gesellschaftlichen Hierarchien zum Vorschein? Wie sehen Sie das?

MZ: Auch das ist eine schwierige Frage. Ich muß dazu sagen, daß ich relativ wenig Erfahrungen mit Demenz-Erkrankten habe. Mir ist das Schicksal von Walter Jens natürlich trotzdem sehr, sehr nahe gegangen, weil ich ihn als glänzenden Rhetoriker und Intellektuellen in meinen jüngeren Jahren schätzen gelernt habe. Wenn sich seine Veränderung so darstellt, daß er seine Zufriedenheit und sein Glück darin findet, jetzt die Enten zu füttern, dann ist das gut.

SB: Dieser Kongreß steht unter dem Begriff "Untote". Dazu wurde schon mehrfach etwas kritisch angemerkt, daß das sehr zweifelhaft sei. Was würden Sie dazu sagen?

MZ: Man kann den Begriff der Untoten auf zweierlei Weise definieren. Wir haben es in der Veranstaltung gehört: Er ist eigentlich ein feststehender Begriff für Wesen wie Vampire, Zombies oder auch den fliegenden Holländer, die irgendwie verflucht sind. Diese Wesen suchen dadurch, daß sie wieder sterblich werden, ihre Erlösung aus der Unsterblichkeit im Zwischenraum, im Zwielicht, in der Grauzone. Wenn ich den Begriff so definiere, habe ich natürlich ganz, ganz große Probleme nach allem, was ich vorher gesagt habe, Menschen im Wachkoma als Untote zu bezeichnen. Ich kann den Begriff aber auch anders definieren. Dann sage ich einfach: Wir sind alle Untote, weil wir noch nicht tot sind. Sie sind einer, ich bin einer, und auf diesem Weg bekomme ich dann alle Menschen im Wachkoma auch wieder zu uns an die Seite und sie sind nicht verflucht, sondern sie sind zurückgeholt in unsere Gesellschaft.

SB: Vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnoten:

[1] BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)

[2] DRGs (Diagnosis Related Groups) sind ein Patientenklassifikationssystem. Damit werden einzelne stationäre Behandlungsfälle mit Hilfe bestimmter Kriterien (Diagnose, Alter, Schweregrad, usw.) zu Fallgruppen zusammengefaßt.

[3] Die frühere Sportschau-Moderatorin Monica Lierhaus war im Januar 2009 nach einer Hirn-Operation ins Koma gefallen. - Im Februar 2011 trat sie, sichtlich verändert, wieder bei der "Goldenen Kamera" im Fernsehen auf.


Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)

Kampnagel-Außenansicht mit blühenden Pflanzen im Sonnenlicht - Foto: © 2011 by Schattenblick

Kampnagel präsentiert sich in frühsommerlichem Gewand
Foto: © 2011 by Schattenblick

20. Mai 2011