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INTERVIEW/010: "Die Untoten" - Karin Harrasser, wissenschaftliche Leitung des Kongresses (SB)


Interview mit Karin Harrasser am 14. Mai 2011 in Hamburg


Karin Harrasser studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Wien und ist seit 2009 künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Sie war an der wissenschaftlichen Leitung des Kongresses "Die Untoten" beteiligt, referierte bei einem Workshop zum Thema Prothetik und stellte das "Museum der untoten Arbeit" vor. Am Nachmittag des dritten Veranstaltungstages hatte der Schattenblick Gelegenheit, Karin Harrasser einige Fragen zu stellen.

Karin Harrasser - Foto: © 2011 by Schattenblick

Karin Harrasser
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Harrasser, könnten Sie unseren Lesern berichten, wie Sie zu der verantwortungsvollen Aufgabe gekommen sind, sich an der wissenschaftlichen Leitung des Projekts "Die Untoten" zu beteiligen?

Karin Harrasser: Die einfache Antwort darauf ist, daß die Kulturstiftung des Bundes mich gefragt hat, ob ich das nicht machen möchte. Es gab allerdings, bevor mir die Aufgabe übertragen wurde, bereits Kontakte mit der Kulturstiftung. So war ich schon vor dieser Beiratstätigkeit ein wenig mit dem Projekt beschäftigt. Mit mir sprach die Kulturstiftung wahrscheinlich deshalb, weil ich mich seit längerem mit Prothesen, aber auch mit Cyborgs auseinandergesetzt habe, also mit zwei dieser Grenzfiguren zwischen tot und lebendig. Das hat so gut funktioniert, daß ich dann gemeinsam mit Georg Seeßlen, Markus Metz und Oliver Müller in dieses wissenschaftliche Leitungsteam berufen worden bin.

SB: Wie beurteilen Sie nach den ersten beiden Tagen diese Mischung aus Kultur und Wissenschaft, einerseits das stark Performative und Inszenierte und andererseits der Versuch, inhaltlich zu werden?

KH: Das ist schwer zu sagen. Ein abschließendes Urteil gibt es in dieser Frage natürlich nicht. Auf jeden Fall war es uns sehr wichtig, diese beiden und noch einen dritten Aspekt mitzunehmen. Schließlich werden mit Kunst und Wissenschaft im Grunde genommen zwei sehr verschiedene Formen der Wissenschaft, nämlich Geistes- und Kulturwissenschaft sowie Naturwissenschaft, in einen Topf getan. Wir haben daher versucht, aus beiden Bereichen Leute zu engagieren. Es ist eigentlich ein Dreieck - einerseits künstlerische Produktionen mit eher philosophischen und kulturwissenschaftlichen Positionen und andererseits naturwissenschaftlich-medizinische Standpunkte. Unserer Meinung nach wird in all diesen Bereichen darüber nachgedacht, wie sich diese verlängernden und irgendwie unübersichtlich gewordenen Phasen zwischen Leben und Tod gestalten.

Es war also keine Idee aus heiterem Himmel heraus, weil wir so etwas gerade brauchen oder es so sexy und im Moment angesagt ist, sondern weil Bildproduktionen, Philosophien und Naturwissenschaften an diesem Thema dran sind. Ich denke prinzipiell, daß dieses Neben- und Ineinander und gegenseitige Belauschen der unterschiedlichen Bereiche, auch durch die Inszenierungsart, recht gut gelungen ist. Ich hatte durch die Möglichkeit, im Radio umzuschalten, selber sehr erhellende Momente, als Diskussionen, Bild- und Soundwelten zueinander gerieten, die sonst in ganz verschiedenen Bereichen stattfinden. Das waren Momente, die ich sehr geschätzt habe. Also ich denke, das funktioniert im großen und ganzen gut, an manchen Stellen vielleicht nicht hundertprozentig.

SB: Offenbar hätten einige Leute im Anschluß an die Vorträge gerne etwas länger diskutiert. Die Vorträge sind relativ knapp gestaffelt und zeitlich kurz gefaßt.

KH: Das hängt mit der technischen Einrichtung des Kongresses und auch mit den Kopfhörern zusammen. Uns war die Kopfhörer-Lösung sehr wichtig, um auch in andere Zustände zu geraten, zum Beispiel indem das Gesehene und Gehörte voneinander abgekoppelt wird. Wir haben dann abgewogen, was uns wichtiger ist. Die Diskussion sollte möglichst intensiv in den Workshops stattfinden, was meiner Meinung nach auch der Fall ist. Ich habe gestern selber einen Workshop geleitet, und das war eine tolle und sehr angeregte diskussive Formation. Vielleicht ist aus diesen Abwägungsgründen nicht immer eine lebhafte Vor-Ort-Beteiligung zustande gekommen. Andererseits habe ich den Eindruck, daß viele Leute aus den Veranstaltungen herausgehen und dann anfangen, miteinander zu sprechen. Diese Kommunikation des Publikums untereinander ist uns mindestens ebensowichtig wie die zwischen sogenannten Experten und Laien.

SB: Als Untote versteht man normalerweise Wesen, die nach dem Tod als einer Form der Erlösung streben, wie zum Beispiel Vampire. Wie verträgt sich das mit dem kritischen Ansatz, die Verselbständigung des Todes und seinen Bewertungscharakter ebenfalls zum Thema zu machen?

KH: Das trifft auf jeden Fall für die Vampire zu oder für alles, was unter christlichen Traditionen der Wiederauferstehung steht, für die der Untote eher eine Erlösungsfigur ist, die von den Lebendigen noch etwas will, irgendwie nicht zur Ruhe kommen kann. Ich glaube, diese Aspekte werden in den modernen Untoten weitergeführt. Wir haben uns hier in vielen Details vor allem auf die Zombies berufen. Bei denen bin ich mir fast sicher, daß sich das ein bißchen anders gestaltet. Die Zombies kommen eigentlich aus Haiti, wo es noch bis vor kurzem wirkliche Zombies gab, über die man sich erzählte, daß sie Gestorbene sind, die durch einen Zauber oder einen Trank wieder ins Leben geholt wurden, um dann als Feld- oder Hausarbeiter zu dienen. Was mehrere interessante Aspekte hat. Einerseits eine merkwürdige Parodie der Kolonialgeschichte, weil diese Zombie- oder Voodoo-Rituale natürlich aus der schwarzen Bevölkerung kommen und auf irgendeine Art und Weise die Kolonialverhältnisse, die sie selber erleiden mußten, imitieren und parodieren.

Andererseits hat man nach und nach festgestellt, daß diese Zombies meistens Leute sind, die bei uns wahrscheinlich als geisteskrank gelten würden. Dieses angebliche Zombie-Ritual dient eigentlich dazu, jemanden, der nicht so richtig in die Gesellschaft paßt und nach normalen Kriterien unproduktiv ist, wieder einzugliedern. Diese Rituale wurden also zelebriert, um geisteskranke Menschen als Familienmitglieder wieder einzubinden. Diese merkwürdige Koppelung von Sorge und einer überhaupt nicht unschuldigen Geschichte der Ausnutzung von Arbeitskraft hat uns daran interessiert und zur Referenz auf die haitianischen Zombies geführt. Wir sind davon überzeugt, daß die Konjunktur der Untoten auch damit zu tun hat, daß es in unserer Gesellschaft zu wenig Formen gibt, mit unproduktivem Leben umzugehen, mit all diesen Lebensformen, die nicht in der Lage oder dazu bereit sind, zum Bruttosozialprodukt beizutragen. Damit haben wir es zu korrelieren versucht.

SB: In ihrem Text, den Sie auf der Seite "untot.info" [1] publiziert haben, fiel der Begriff "Unterleben" auf, weil er dem Begriff des "Überlebens" gegenübersteht. Überleben ist eines der dominanten Vergesellschaftungsphänomene im Sinne des Sozialdarwinismus oder auch des Sozialrassismus, der in den letzten Jahren in Deutschland verstärkt zur Debatte steht. Würden Sie "Unterleben" als positiven Gegenentwurf verstehen?

KH: Es war unsere Idee, dem ein bißchen Unterstützung zu geben. Wer behauptet eigentlich, daß immer der Erfolgreiche, der heroisch Überlebende die wichtigste soziale Figur ist? Warum nicht auch Lebensformen, Lebensentwürfe und Lebensstile wieder würdigen lernen, die nicht sofort etwas für die gesellschaftliche Produktivität abwerfen? Der Begriff des "Unterlebens", den ich sehr schätze, stammt von Erving Goffman, der damit das Leben von ausgegrenzten Gruppierungen in Anstalten beschrieben hat, wie sich Leute organisieren - kreativ ist ein schwieriges Wort -, aber eben auch originell und erfindungsreich mit einem Leben zurechtkommen, das eigentlich sehr restriktiv ist. Diesen Begriff mochte ich deshalb immer sehr gern, weil er zeigt, daß es auch in den Lebensformen, die vielleicht auf den ersten Blick nicht so heroisch oder produktiv sind, vieles gibt, das interessant und gut ist und vielleicht auch anders bewertet werden könnte.

SB: Wie läßt sich Ihrer Ansicht nach in dem Antagonismus von Leben und Tod angesichts dessen, daß Leben vom Verbrauch der eigenen Physis bestimmt wird, überhaupt eine positive Bestimmung des Lebens vornehmen?

KH: Ich denke, das hat verschiedene Dimensionen. Die eine ist natürlich diese Grundopposition von Leben und Tod, hinter die wird man ganz schwer zurückgehen können, weil mit dem Tod so etwas wie ein Zustand der Erfahrungslosigkeit eintritt. Wir haben darüber keine Kenntnis. Das heißt, dieser Bereich ist nicht auf irgendeine Weise kommunizierbar und auch nicht vergesellschaftbar. Darum glaube ich, daß man prinzipiell aus dieser Dualität nicht herauskommt, zumal wir in einer Zeit leben, die nicht sehr erfinderisch ist, um das Sterben beschreiben zu können. Ich würde mit dieser Idee der Untoten eher den Vorgang des Sterbens verbinden.

Da kann man an verschiedenen Stellen ansetzen. Man kann über den sozialen Tod reden und sich fragen, wann wird individuelles Leben nicht mehr kommunikativ oder sozial eingebunden. Man muß über die Schwierigkeiten sprechen, die in einer Gesellschaft entstehen, in der der einzelne immer länger leben kann und es sogar einen gesellschaftlichen Zwang gibt, immer länger zu leben. Daraus ergeben sich wiederum andere Probleme, die mit der zunehmenden Legitimierung des Selbsttötungsakts im Alter zu tun haben. All diese komplizierten Fragen hängen damit zusammen, daß das Sterben so schwierig geworden ist. Interessant für mich ist, daß diese Grundopposition wahrscheinlich nicht mehr hintergehbar ist. Das ist beinahe zu einer ontologischen Setzung geworden, aber das Sterben könnte man viel besser erzählen und beschreiben, es vielleicht mit einer interessanteren Bildwelt ausstatten, die nicht bloß mit diesem Schrecken des Nicht-mehr-Daseins verknüpft ist, sondern auch etwas anderem, mit Tätigkeiten, Prozessen, Entscheidungen.

SB: Sie haben gemeinsam mit Thomas Macho und Burkhardt Wolf an einem Buch über Folter gearbeitet. Das ist ein Bereich, in dem gerade in Anbetracht der politischen Ereignisse der letzten 10 Jahre regelrecht Nicht-Menschen geschaffen wurden, entrechtete und abhängig gehaltene Existenzen, die vollständig auf den Erhalt ihres Lebens reduziert sind. Giorgio Agamben hat dies mit dem Begriff des "nackten Lebens" illustriert. Sind Leben und Tod nicht genaugenommen sehr stark politisch bestimmte Begriffe?

KH: Absolut, so hat sich Agamben ja auch dazu geäußert. Was mich an seinem Konzept immer schon interessiert hat, ist weniger die Zustandsbeschreibung, sondern wie "nacktes Leben" entsteht, nämlich indem man es gesellschaftlich, sozial, juristisch produziert. Das scheint zunächst eine paradoxe Formulierung zu sein, aber um zu einem nicht gesellschaftlichen, nicht juristisch gedeckten und nicht kulturell eingerahmten Leben zu kommen, braucht es zunächst eines juristischen Akts. Ich glaube, in dieser Frage sind wir in einer Extremsituation angelangt in dem Sinn, daß diese Verrechtlichung der Schaffung eines nicht-rechtlichen Zustands immer stärker legitimiert wird durch politische und ökonomische Konflikte. Alles, was im Moment an den Grenzen der Festung Europa stattfindet, hängt damit zusammen, daß man eben einen höchst juristischen und kulturellen Akt generieren muß, um bestimmten Leuten nicht die gleichen Rechte einzuräumen. Das finde ich extrem bedrohlich und sehr beunruhigend.

Leider gibt es da eine merkwürdige Verwendung des "nackten Lebens" vor allem in der künstlerischen Ecke als eines euphorischen, eben von kulturellen Zumutungen entlasteten Lebens. Das fand ich immer völlig falsch. Ich glaube, das ist bei Agamben auch gar nicht gemeint, so eine Rousseausche Figur des "zurück zur Natur". Das wäre ein völliges Mißverständnis.

SB: Sie haben den inhaltlichen Bogen des Kongresses sehr weit gespannt zwischen Transhumanismus und technophiler Lebensverlängerungs-Vision einerseits und einer Kritik der Sterbehilfe und des Umgangs mit Wachkoma-Patienten andererseits. Sie sprachen in Ihrem Beitrag auch vom "well-being" einer "Selbstverbesserung", das immer mehr zum selbstevidenten Imperativ wird, der das Individuum seiner sozialen und gesellschaftlichen Bezüge entledigt und auf sich selbst zurückbricht. So erscheint der Einzelne als Herr seines Schicksals, unterliegt aber gleichzeitig biologischen und gesellschaftlichen Zwängen aller Art, was etwa dazu führt, daß übergewichtige Menschen höhere Beiträge für die Krankenversicherung bezahlen sollen, da sie an ihrer Lage angeblich selbst schuld seien. In welchem Ausmaß wird in den Wissenschaften, die Sie vertreten, Kritik an diesem Widerspruch geübt?

KH: In meinem Wissenschaftsbereich gibt es durchaus Kritik-Modelle, und ich bin sehr froh darüber, daß mit Konzepten wie Normalismus oder Biopolitik im Foucaultschen Sinne genau diese Konstellationen gut beschreibbar sind. Dadurch läßt sich aufzeigen, daß der biopolitische Mechanismus, der immer gesamte Bevölkerungen im Blick hat - die statistische Erhebung von Gesundheitsdaten, das Wissen darum, daß jeder Kranke dem Staat so und so viel Geld kostet -, in der letzten Phase dieser Biopolitik völlig zurückgebrochen worden ist auf eine individuelle Verantwortung. Da gibt es interessante Beschreibungsmodelle, wie sie hier auf der Konferenz von Frau Gehring sehr gut vertreten worden sind. Sie ist eine in dieser Hinsicht in der Tradition der Foucaultschen Gesundheitsanalyse stehende Philosophin.

Karin Harrasser - Foto: © 2011 by Schattenblick

Existentielle Fragen dem Leben zugewandt ...
Foto: © 2011 by Schattenblick

Für den individuellen Umgang mit Entscheidungssituationen, wenn es um die eigene Gesundheit geht oder wenn man vor die Wahl gestellt wird, ein Medikament zu nehmen oder nicht zu nehmen oder eine Maschine im Krankenhaus anzuschalten oder auszuschalten, helfen einem diese Kritik-Modelle, die wiederum global oder gesellschaftlich angelegt sind, im Moment nicht wirklich weiter. Natürlich hat man die Wahl zu sagen, ich ergebe mich dieser sozialpolitischen und bioökonomischen Ordnung, und wenn es mir schlecht geht, will ich niemandem zu Last fallen. Dann mache ich gleich Schluß und habe es noch ein bißchen selber im Griff. Oder wäre die Konsequenz, wenn man eine Haltung des Dissenses einnehmen und diesen Konsens unterlaufen möchte, daß man total ungesund lebte und seine Gesundheit möglichst zugrunde richtete? Es ist schwierig, aus dieser Diagnose eines Zustands wirklich etwas zu entwickeln, was einem dabei hilft, individuelle Entscheidungen zu treffen. Uns ging es in diesem Kongreß auch darum, zu derartigen Fragen einige Ideen zu entwickeln.

SB: Besteht Ihrer Ansicht nach ein Unterschied zwischen dem Bevölkerungsentwurf Foucaults und der heutigen Individualisierung?

KH: Ich glaube, daß das sehr eng miteinander verschränkt ist. Das sind nicht zwei grundverschiedene Dinge. Wie es Foucault beschreibt, ist das Gesamtkalkül der statistischen Bevölkerung verknüpft mit dem Entwurf des bürgerlichen Subjekts. Die entstehen gleichzeitig. Das bürgerliche Subjekt sollte immer schon in vorausschauenden rationalen Akten das antizipieren, was auch für alle anderen gut ist. Was wir heute erleben, diese völlige Individualisierung von well-being und die Selbstverantwortung für alles, was einem passiert, geht auf das Konzept eines bürgerlichen Individuums zurück, das rational handelt, seine eigenen Handlungen abschätzen und auf diese Art und Weise eben auch im Sinne der Biopolitik funktionieren kann. Bei Foucault heißt es dazu ganz schön "das Führen der Führungen". Gemeint ist der Trick zu glauben, man agiert selber und sei ganz individuell und selbstgesteuert. Aber in Wirklichkeit gibt es Bahnungen, die beispielsweise über finanzielle Anreize funktionieren oder über soziale Sanktionen auf sehr unauffällige Art und Weise das angeblich Individuelle stark formatieren. Dafür, daß das Gesamtgesellschaftliche und die Erfindung des Individuums genau auf dieser Ebene zusammenkommen, hatte Foucault einen sicheren Sinn.

SB: Fühlen Sie sich als Wissenschaftlerin dazu berufen, im Sinne einer emanzipatorischen Entwicklung aufklärerisch zu wirken, damit sich der Einzelne dieser doch in eine Ohnmacht tendierenden Entwicklung bewußt wird und seine widersprüchliche Lage vielleicht auch zu artikulieren lernt?

KH: Ich würde das gern selbstbewußt mit einem lauten "Ja" beantworten und erklären, daß mein Verständnis von Kulturwissenschaften und Philosophie eines ist, das sich nicht aus gesellschaftlichen Fragen zurückzieht. Ich traue mich nur nicht, ganz so schnell und laut "Ja" zu schreien, weil mir gleichzeitig auch bewußt ist, wie eng unser Tätigkeitsfeld ist und daß es vielleicht eine Anmaßung von mir wäre, zu behaupten, das politische Engagement der Kulturwissenschaften ist das allergrößte und wichtigste in der Welt. Durch unsere institutionellen Einschreibungen haben wir nicht immer die Möglichkeiten, die wir gerne hätten, um aufzuklären. Darum ist für mich eine Veranstaltung wie diese ganz toll und lohnenswert, weil versucht wird, Bevölkerungsgruppen für ein Gespräch zusammenzubringen, die für jemanden, der wie ich akademisch arbeitet, üblicherweise gar nicht erreichbar sind. Ich spreche im wesentlichen mit Studenten und Kollegen. Hin und wieder schreibe ich etwas für eine Zeitung, das ist schön und gut, aber ich sehe im Agieren in der Öffentlichkeit nach wie vor den Auftrag der Philosophie und Kulturwissenschaften. Aber mir ist auch klar, daß das seine Grenzen hat, und darum schreie ich nicht gleich groß heraus: "Ja, wir sind die Retter der Welt!"

SB: Sie hatten in ihrem Beitrag zwei US-Serien erwähnt: "Six Feet Under" und "True Blood". Wie beurteilen Sie die Faszination für Sepulchralkultur und forensische Medizin, die in vielen TV-Serien stark vertreten ist, und den neuen Vampirismus, der sich ganz anders präsentiert, als man es aus klassischen Filmen kennt?

KH: Für all das - "CSI", "Six Feet Under", "The Walking Dead", "True Blood", "Vampire Diaries" - meine ich feststellen zu können, daß diese Gestaltung des symbolischen Umgangs mit dem Tod oder mit dem Sterben im Moment in der Populärkultur vielleicht eine bessere Welt vorfindet als in der Philosophie oder Hochkultur. In der Hochkultur wird das immer noch sehr dezent behandelt, vielleicht sogar tabuisiert. In der Populärkultur gibt es einen wesentlich breiteren Umgang mit all den Problemen, die wir angesprochen hatten. Das gilt für all diese Serien und ist zunächst einmal ein interessantes Phänomen. Thomas Macho nennt dies eine neue Sichtbarkeit des Todes, die auf überraschenden Schauplätzen auftaucht, wo man sie nicht unbedingt vermuten würde. Die einzelnen Serien müßte man wahrscheinlich sehr unterschiedlich beurteilen. Wenn man sich beispielsweise "True Blood" und "Twilight" anschaut, dann merkt man, das sind die gleichen Figuren und das gleiche Genre, die sich aber mit unterschiedlichen Problemen auseinandersetzen.

"Twilight" ist nun ganz die Welt dieser Teenager, die mit ihrer Sexualität hadern und in der die Handlung in relativ klassische Konstellationen von Gut - Böse, Schön - Häßlich und so weiter zurückfällt. Bei "True Blood" ist das ganz anders. Da werden gleichsam alle gesellschaftlichen Probleme, die es derzeit in den USA gibt, von Drogen über stillen Rassismus bis hin zur Popularität von Sekten, sehr differenziert durchgearbeitet. Jede Serie zieht natürlich ein anderes Publikum an. Deswegen läßt sich eine Beurteilung nicht so über einen Leisten schlagen. Einerseits gibt es eine populäre Bildwelt, die sich sehr viel neugieriger und natürlich auch wilder und drastischer mit all diesen Problemen befaßt, und andererseits sind es sehr spezielle Kanäle, in denen das verhandelt wird.

SB: Könnten Sie uns zum Abschluß etwas über ihr Projekt, das "Museum der untoten Arbeit", erzählen?

KH: Wir hatten ein Thema, das uns in der Vorbereitung des Kongresses immer interessiert hat. Wir haben dafür aber nicht die richtige Form gefunden. Es geht darum, wie ökonomische und Arbeitsverhältnisse mit diesen unterschiedlichen Vorgängen, die mit der Herausforderung oder mit der Schaffung von Lebendigkeit zusammenhängen, korreliert sind. Die Frage ist im Moment nicht ganz beantwortet. Leben wir in einer Arbeitswelt, die Lebendigkeit anreizt, generiert und zu vergrößern versucht, so wie das auch von Foucault beschrieben worden ist, oder haben wir es mit einer ökonomischen Situation zu tun, in der man viel von dem, was bei Marx "untote Arbeit" heißt - nämlich Maschinentechnologien, Virtualisierung von Arbeitsprozessen -, in sich aufgesogen hat.

Dieser Diskussion wollten wir uns gerne stellen. Als wir jedoch erkannten, wie ungemein spekulativ der Stoff ist, denn im Vergleich zur Gesundheitsdebatte gibt es kaum prononcierte und theoretische Entwürfe dazu, haben wir uns entschlossen, ein virtuelles "Museum der untoten Arbeit" aufzubauen, um das historisch und systematisch herzuleiten und dies mit Hilfe von künstlerischen und wissenschaftlichen Artefakten zu illustrieren. Anhand dessen läßt sich das Verhältnis von Lebendigkeit und Arbeit im 20. Jahrhundert in eine Frageform bringen. Wie schaut das ungefähr aus und wo können wir uns da heutzutage verorten? Da das meiner Meinung nach noch nicht theoretisch erhärtet ist, haben wir uns in dem Fall eher für ein spekulatives virtuelles Museum entschlossen, das Argumente mehr als Fragen präsentiert. Der Vorteil einer räumlichen oder musealen Anordnung besteht darin, daß man durch die Konstellation von Bildern Fragen stellen kann und nicht so sehr Antworten geben muß, das fanden wir reizvoll an dieser Form.

SB: Mit der Rationalisierung der Arbeitswelten durch mikroelektronische Prozesse wird im Unterschied zu früheren Epochen und Technologiewechseln Erwerbsarbeit nicht mehr im erforderlichen Ausmaß generiert. Sind jetzt nicht die Wissenschaften aufgerufen, Modelle für eine Gesellschaft zu entwerfen, in der am Ende nur noch ein Fünftel der Bevölkerung wirklich produktive Arbeit verrichtet?

KH: Meiner Beobachtung nach ist die Sozialwissenschaft wahrscheinlich besser aufgestellt als die Kulturwissenschaft und die Philosophie. Sie präsentiert interessante gesellschaftspolitische Modelle für den Fall, daß sich Arbeit immer mehr verflüchtigt oder sich von den Händen in die Köpfe und Computerchips verlagert. Ich fand das sehr reizvoll zu sehen, daß sich im ganzen 20. Jahrhundert neben Künstlergruppen vor allem die Science-Fiction viel intensiver und früher als die Sozialwissenschaften diesem Thema gewidmet hat. Während die noch damit beschäftigt waren, nationale Ökonomien und Konjunkturen durchzurechnen, gab es bereits Science-Fiction-Romane und Künstlergruppen, die Dystopien oder Utopien entwickelt haben für eine Gesellschaft, in der Menschen nicht mehr manuell arbeiten müssen und gewissermaßen in einen Prozeß der Selbstkonsumtion eintreten. Man ist dann schnell bei Szenarien, in denen es heißt, wenn du nicht mehr arbeiten mußt, brauchst du eigentlich auch keinen Körper mehr. Was bleibt dann noch übrig von einer Welt des Menschen, der in seiner jetzigen Gestalt schon seit geraumer Zeit ein arbeitender Mensch ist? Dann kommt man in aberwitzige Spekulationen hinein, die mich sehr interessiert haben, um nachzufragen, was da genau passiert, wenn man das bis zum Ende durchdenkt. Zu diesem Zweck war das Modell eines imaginären Museums gut geeignet, weil meiner Meinung nach die Künstler oder die Science-Fiction dazu oft interessantere Angaben gemacht haben als die Wissenschaften

SB: Frau Harrasser, vielen Dank für das ausführliche Gespräch.

Fußnote:

[1] http://www.untot.info/44-0-Karin-Harrasser-Unterleben.html

Karin Harrasser mit SB-Redakteur - Foto: © 2011 by Schattenblick

Karin Harrasser mit SB-Redakteur
Foto: © 2011 by Schattenblick

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)
BERICHT/016: "Die Untoten" - Sandy Stone ... aus einem bewegten Leben (SB)
BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)
BERICHT/018: "Die Untoten" - Kapitalgespenster - Zur Ästhetik fehlender Theorie (SB)
BERICHT/019: "Die Untoten" - Auf der Suche nach dem Sitz des Bösen (SB)
BERICHT/020: "Die Untoten" - Verschleißwelten unvollständiger Autonomie (SB)
BERICHT/021: "Die Untoten" - Menschliches Gemüse - Organspender philosophisch totgesagt (SB)
BERICHT/022: "Die Untoten" - "Nollywood" - Nigerias populärkulturelle Filmproduktion (SB)
BERICHT/023: "Die Untoten" - Prothetik im Dienste der herrschenden Ordnung (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)
INTERVIEW/005: "Die Untoten" - Sander L. Gilman zu Fragen der kosmetischen Chirurgie (SB)
INTERVIEW/006: "Die Untoten" - Georg Fülberth, Politikwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/007: "Die Untoten" - Sandy Stone, Performancekünstlerin und Wissenschaftlerin (SB)
INTERVIEW/008: "Die Untoten" - Hans Werner Ingensiep, Philosoph und Biologe (SB)
INTERVIEW/009: "Die Untoten" - Dorothee Wenner, Journalistin und Filmemacherin (SB)


20. Juni 2011