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INTERVIEW/035: Kulturarchiv des Krieges - erschöpft, ermüdet, überlebt ...    Aleida Assmann im Gespräch (1) (SB)


Die Flakhelfer-Generation - Zeitzeugen für unverzichtbare Erinnerungen

Veranstaltung am 17. Februar 2016 im Kultur- und Kommunikationszentrum Die Pumpe in Kiel


Wer zwischen 1926 und 1929 in der Weimarer Republik geboren wurde, war zeitgeschichtlichen Umwälzungen ausgesetzt, die kaum weitreichender sein könnten. Fast die ganze Kindheit und Jugend fand unter der Indoktrination des NS-Regimes statt, und das war im Vergleich zu Menschen, die jüdischen Glaubens waren, zu den Roma und Sinti gehörten oder vom NS-Staat zu "unwertem Leben" erklärt wurden, weit sicherer und erträglicher als das, was diese Opfergruppen zu erleiden hatten. Wer zu Kriegsende zwischen 16 und 19 Jahre alt war, gehörte zum letzten Aufgebot, das die Befreiung vom NS-Regime durch die Alliierten verhindern sollte. Die heute auch als "Flakhelfer-Generation" bekannte Altersgruppe hatte einen denkbar ungünstigen Start ins Leben, der sie dennoch in beiden deutschen Staaten in die Position einflußreicher Funktionsträger katapultieren sollte. Der Aufbau von BRD und DDR war maßgeblich das Werk dieser frühzeitig desillusionierten Generation, die der NS-behaftete Soziologe Helmut Schelsky als eine "skeptische", jegliche weitere ideologische Vereinnahmung von sich weisende und überaus pragmatische Generation charakterisierte.

Was Schelsky den von Hitler-Jugend, Bombennächten und einem Kriegseinsatz, der als letztes Aufgebot Menschen heranzog, die zuvor ausgemustert worden wären, geprägten jungen Erwachsenen an Aversion gegenüber gesellschafts- und systemkritischen Überlegungen unterstellte, diente nicht zuletzt der Exkulpation in eigener Sache. Die ahistorische Handschrift der soziologischen Methodik nahm in seiner Deutung, die naheliegenden politischen Konsequenzen aus der Katastrophe des Hitlerfaschismus keinen Raum geben wollte, inhaltlichen Charakter an. So unterschiedliche Persönlichkeiten wie Günter Grass, Dieter Hildebrandt, Heiner Müller, Walter Kempowski, Jürgen Habermas, Werner Tübke, Hans-Peter Dürr, Horst Janssen, Karlheinz Stockhausen, um nur einige bekannte Namen zu nennen, wurden der Flakhelfer-Generation zugerechnet. Welche Kategorien auch immer an sie angelegt werden, sie laufen stets Gefahr, einer historisierenden Versiegelung den Zuschlag zu Lasten der subjektiven Vielfalt gelebter Biografien zu geben.

So führte der dieser Generation von Schelsky für die Nachkriegszeit zugeschriebene "Wirklichkeitssinn" etwa bei dem 1929 geborenen konservativen Historiker Waldemar Besson bei Kriegsende zu einer "Entfaltung der inneren Kräfte", mit der der "Trostlosigkeit der äußeren Lage" [1] ausgewichen werden konnte. Die mißgünstigen gesellschaftlichen Bedingungen erweckten bei ihm ein Interesse an Zeitgeschichte, das sich notwendigerweise mit der Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und Kapitalismus konfrontieren mußte. Allein dieser Konflikt provozierte Überlegungen und Debatten, die sich kaum auf den Wunsch nach einem ungestörten Leben im angeblichen Wirtschaftswunder der westdeutschen Nachkriegszeit eingrenzen lassen. In der DDR wiederum rückten die Jahrgänge von 1926 bis 1929 in hohe administrative Funktionen auf, auch wenn sie im NS-Staat nicht zur illegalen KPD oder anderen Widerstandsbewegungen gehört hatten, und vertraten den Antikommunismus der BRD herausfordernde antifaschistische und sozialistische Positionen. Bis heute wird die Bewertung dieser zeitgeschichtlichen Entwicklungen von ideologischen und geschichtspolitischen Motiven verzerrt, so daß schon zu fragen ist, ob sich unter diesen Bedingungen überhaupt ein eindeutiges genealogisches Reaktionsmuster für die Flakhelfer-Generation bestimmen und verallgemeinern läßt.

Wen das Thema nicht nur aus diesem Betrachtungswinkel heraus, sondern aufgrund seiner hohen Relevanz für zeitgeschichtliche Verläufe und Brüche, für familienbiografische Entdeckungen oder die Verhinderung analoger gesellschaftlicher Entwicklungen interessiert, der erhält mit dem 2013 produzierten Dokumentarfilm "Anfang aus dem Ende. Die Flakhelfergeneration" einen direkten Zugang zur Lebenswirklichkeit ihr zugehöriger Menschen. Entstanden ist dieser Zugang zu der damaligen Zeit aus dem Interesse der Kulturwissenschaftlerin Dr. Aleida Assmann an der Erinnerungsgeschichte der Generationen wie überhaupt der Erforschung gesellschaftlich manifester Formen des Erinnerns und Vergessens, ohne die der Mensch kein geschichtliches, also auch in Zukunft Grenzen hinterfragendes und überschreitendes Wesen wäre.

Die Zeugnisse, die 15 einst vor Kriegsende als Flak- und Fronthelfer eingesetzte Senioren bei laufender Kamera ablegen, wirken in der Subjektivität und Selektivität ihres Erinnerungsvermögens auch deshalb sehr authentisch, weil sie bei persönlichen Begegnungen zustandekamen, die nicht als ein geschichtswissenschaftliches Forschungsprojekt konzipiert waren. Bei einem regelmäßig stattfindenden Klassentreffen, auf dem niemals zuvor von diesen Erlebnissen gesprochen worden war, kam es zu einer geradezu explosiven Freisetzung niemals vollständig verschütt gegangener Erinnerungen. Indviduell Erinnertes und gemeinsam Erlebtes wird in Einzelgesprächen wie bei gemeinsamen Treffen zudem durch fotografische Dokumente illustriert, so daß ein stimmiges Gesamtbild entsteht, das die erzählenden Personen vor den Augen des Publikums mit aller tiefgreifenden Rührung und Empathie in ihre Jugend zurückversetzt. Besonders beeindruckend für Nachgeborene sind das Nebeneinander von alltäglicher Normalität und kriegerischem Ausnahmezustand, von verordneter Indoktrination und individueller Resistenz, von sichtbarer Betroffenheit und abgeklärtem Gleichmut.

Eigens zur Aufführung des Films am 17. Februar im Kultur- und Kommunikationszentrum Die Pumpe, an die sich ein Gespräch mit dem Publikum anschließen sollte, reiste Aleida Assmann aus Konstanz am Bodensee, wo sie bis 2014 Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft lehrte und weiterhin forscht, nach Kiel. Vor der Aufführung in dem bis auf den letzten Platz besetzten Kinosaal, vor dessen Türen zahlreiche weitere Interessierte vergeblich um Einlaß begehrten, hatte der Schattenblick Gelegenheit, Aleida Assmann einige Fragen zu ihrer wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit zu stellen.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Aleida Assmann
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Frau Assmann, wie bewerten Sie die Rückbesinnung an die Zerstörungsgewalt kriegerischer Auseinandersetzungen in einer Zeit, in der wieder Kriege drohen, an denen die Bundesrepublik beteiligt sein könnte? Gibt es für die Menschen heute überhaupt noch eine Spur zurück zum NS-Regime oder sind sie aus Ihrer Sicht generell zu weit davon entfernt, um noch irgendeine Art von Erinnerungsqualität damit zu verbinden?

Aleida Assmann (AA): Ich interessiere mich für historische Generationen. Das ist etwas anderes als Familiengenerationen, wo Großeltern, Eltern, Enkel aufeinanderfolgen. Historische Generationen treten unregelmäßig in Erscheinung und folgen keinem biologischen Rhythmus, sondern sind gekennzeichnet durch historisch einschneidende Ereignisse. Man könnte sagen, daß der Erste wie auch der Zweite Weltkrieg Generationen dieser Art produziert hat. Die Flakhelfer sind ein Teil davon und markieren überhaupt nur drei Jahrgänge. Danach kommen die Kriegskinder, die ebenfalls durch die beiden Kriege definiert werden und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts reichen. Jede dieser Biographien ist durch den Krieg beeinflußt.

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war Deutschland in keine Kriege mehr verwickelt, und so stehen wir vor der Schwierigkeit, wie wir die folgenden Generationen historisch zuordnen sollen. Die 68er sind zum Teil Kriegskinder, dann kommen die 78er, die man als die kleinen Geschwister der 68er bezeichnen kann, aber dann folgen Generationen, die man eigentlich fast nur noch durch Konsumprodukte definieren kann wie die Generation Golf. Sie sehen daran, wie stark der Krieg im 20. Jahrhundert Biografien geprägt hat. Die 'Wende'-Generation sah im Westen und Osten Deutschland sehr unterschiedlich aus. Inzwischen haben wir ganz andere Definitionen wie die Hartz IV- bzw. Prekariatsgeneration.

SB: Spielt die Definition und das Geprägtsein durch Kriege für das öffentliche Bewußtsein von heute überhaupt noch eine Rolle?

AA: Diese drei Flakhelferjahrgänge sind das letzte lebendige Band, das uns mit dem Zweiten Weltkrieg noch verbindet. Sie sind gerade noch am Horizont zu sehen und verschwinden auch dort. Es ist die Generation der Großeltern, die die Enkel gerade noch darauf ansprechen können.

SB: Würde das auch für die Generation der deutschen Kriegsflüchtlinge des Zweiten Weltkriegs gelten, wo Erinnerungskultur noch heute eine gewisse Relevanz hat?

AA: Ganz genau. Flucht und Vertreibung ist ein ganz wichtiges Thema. Alles, was mit dem Kriegsende und damit auch mit dem Zusammenbruch der Infrastruktur dieses Staates zusammenhängt, diese ganzen geopolitischen Verschiebungen haben eine unglaubliche Fluchtwelle in Gang gebracht, übrigens in derselben Richtung, wie wir sie heute erleben, nämlich von Osten nach Westen. Das große Thema der Adenauer-Zeit war die Integration dieser Flüchtlinge. Man denke nur an den Wohnungsbau - Stichwort Neue Heimat - und all diese Dinge, mit denen Adenauer damals sehr gepunktet hat, weil er in der Lage war, dieses historische Problem für Westdeutschland zu bewältigen.

SB: Sie haben in Ihrem jüngsten Buch "Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne" die Ausschließlichkeit der Orientierung auf die Zukunft als einen Faktor der Ausgrenzung analysiert. Als vorherrschende gesellschaftliche Kraft propagiert der Neoliberalismus die Marktwirtschaft ohne Eingriffe seitens des Staates, was sich auch in der Aussage "Die Welt ist flach", also ohne zeitliche oder sonstige Tiefendimension, widerspiegelt. Fixiert auf den Markt agiert die neoliberale Wirtschaftsweise weitestgehend geschichtslos. Welche gesellschaftliche Auswirkung hat das in kulturhistorischer Hinsicht?

AA: Da für die Wirtschaft nur die Prognose auf die Zukunft zählt, wird das Vergangene bedeutungslos. Das hat sich jetzt ein bißchen geändert, als Banker und Wirtschaftender kennt man immerhin noch das Krisen-Jahr 2008 oder erinnert sich an katastrophale Einbrüche wie die Weltwirtschaftskrise. Aber im Grunde ist der Ökonomismus immer vorwärts gerichtet und will nur wissen, wie die Börsenkurse am nächsten Tag stehen. Das Wirtschaftswunder unter Erhard hatte ganz viel mit diesem Aufbruchsdenken zu tun, sinngemäß hieß das: Wenn wir unsere Kräfte nicht vollkommen auf die Zukunft ausrichten, können wir nichts Neues aufbauen. Um das zu schaffen, müssen wir alles, was hinter uns liegt, vergessen. Wir dürfen darüber nicht sprechen, weil es die Kräfte für den Wiederaufbau lähmt.

Übrigens ist Wiederaufbau der Schlüsselbegriff nach 1945 im Osten wie im Westen gewesen. In Ostdeutschland hieß es "Auferstanden aus Ruinen, und der Zukunft zugewandt". Man wollte die Ruinen wegräumen, es wurde enttrümmert, wie es damals hieß, um den Boden für eine Neubebauung zu bereiten - bis auf die Frauenkirche in Dresden, die als "Mahnmal für den angloamerikanischen Bombenterror" stehenbleiben durfte. Das war ideologisch bestimmt. Im Westen war die Neue Heimat das große Thema. An einer Stadt wie Kiel ist besonders gut sichtbar, wieviel und wie schnell alles weggeräumt wurde, um diesen Aufschwung und Aufbruch zu schaffen.

SB: Im allgemeinen geht man davon aus, daß der Geschichtsverlauf einen ständigen Zuwachs an Fortschritt, Erkenntnis und technologischer Entwicklung darstellt. Ist diese Geschichtsvorstellung ungeachtet solcher gravierender Konsequenzen wie die Klimaerwärmung aus Ihrer Sicht noch heute hegemonial?

AA: Das muß man differenzieren. Bereits im 19. Jahrhundert, als diese Geschichtsphilosophie amtlich war, gab es Gegenstimmen wie Friedrich Nietzsche oder Jacob Burckhardt, die nicht an die Kraft eines beständigen Fortschritts glaubten. Skepsis gab es schon damals. Ich selbst bin nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, in den 60er-Jahren in die Schule gegangen und habe in den 70er-Jahren studiert. Was ich von meinen Lehrern aufgenommen habe, war eine ungebrochene Fortschrittsideologie, weil man glaubte, das Schlimmste hinter sich zu haben. Die Generation meiner Lehrer hat kein Wort darüber verloren, was sie erlebt hat, und sich so in eine neue Welt, die sie selber mit aufgebaut hat, hinübergerettet. Das gilt insbesondere für die akademischen Lehrer, die als junge Ordinarien in den 60er Jahren in Bielefeld, Bochum oder Konstanz die neuen Universitäten aufgebaut haben. Meine Uni begeht gerade ihr 50. Jubiläum.


Auf dem Podium bei der Diskussion - Foto: © 2016 by Schattenblick

Trittsicher auch ohne Einbettung in unumstößliche Ordnungsschemata
Foto: © 2016 by Schattenblick

Ihre Karrieren waren mit einem Aufbruchsdenken verbunden, das stark fortschrittsoptimistisch war. Sie hatten den Eindruck, es geschafft zu haben, per aspera ad astra, also aus diesen Schrecken in eine gute Zeit zu finden. Und natürlich war die ökonomische Lage auch hervorragend. Man konnte damals leicht Stellen bekommen, so daß es gar keinen Grund gab daran zu zweifeln, daß alles immer besser werden würde. Der Einbruch kam dann in den 70er Jahren mit den ökologischen Bedenken, der Verknappung der Ressourcen und dem Sichtbarwerden der Spuren, die der Mensch in dieser Welt hinterläßt und die nicht mehr wegzuwischen sind. Dieses Denken fing erst in den 70er Jahren langsam an, starken Einfluß hatte der Club of Rome. Mit den 80er Jahren rollte sich die Vergangenheit mit dem Holocaust noch einmal auf. Man kann fast sagen, je weiter man von diesem Geschehen entfernt war, desto näher kam es an einen heran.

Es war eine paradoxale Situation, denn das, was man hinter sich gelassen zu haben glaubte, war alles wieder da und übte natürlich auch einen gewissen Druck aus, denn die noch lebenden Zeitzeugen mußten nun, so lange es noch ging, ihr Zeugnis ablegen und gehört werden. Bis in die 90er Jahre hinein wurde auf diese Weise der Grundstein zu unserer neuen Erinnerungskultur gelegt. Solange das Fortschrittsdenken anhielt war es, um im Bilde zu sprechen, als ob wir immer nur nach vorne fuhren und durch die Windschutzscheibe in die Zukunft schauten, in die wir unsere Hoffnungen und Wünsche hineinprojizierten. Die Situation schwenkte um, als wir im Rückspiegel noch andere Dinge wahrnahmen, was dann natürlich auch das Tempo entschleunigte. Darauf setzte eine tiefgreifende zeitliche Umorientierung ein.

In meiner Biographie erlebte ich drei ganz entscheidende Umwälzungen. Das eine war die Krise dieses zukunftsorientierten Weltbildes durch den Einbruch eines ökologischen Bewußtseins samt Verdüsterung des Zukunftshorizonts. Das zweite war das Erstarken der Vergangenheit in der Folge einer Einführung des Traumabegriffs und allem, was damit wieder auf den Tisch kam. Das dritte war eine technische Revolution durch das neue Medium der Digitalisierung. Von den 80er Jahren an ist unglaublich viel passiert, und wir sind immer noch damit beschäftigt, uns die Welt neu einzurichten aufgrund der neuen Prämissen, die seither unsere Welt bestimmen.

SB: Mit dem neuen Begriff des Anthropozäns versucht man auf der einen Seite, die Menschheitsgeschichte vor dem Hintergrund der von Menschen angerichteten Schäden neu zu ordnen. Auf der anderen Seite hat man es jedoch mit dem möglichen Ende der Menschheit zu tun, falls die zerstörerischen Prozesse so weiterlaufen. Löst das nicht bei vielen Menschen so etwas wie einen permanenten Streß aus, wenn man sich ernsthaft damit auseinandersetzt?

AA: Ja, Streß, aber auch eine Umperspektivierung großen Stils. Das Anthropozän ist eine Folge der unglaublichen Dominanz des Menschen in diesem Kosmos. Er kommt und geht nicht wie andere Wesen, sondern setzt seine Zeichen und verändert die Voraussetzungen für alles andere. Diese Wende führt dazu, daß wir Natur anders denken. Natur ist nicht mehr das, wo der Mensch noch ein Paradies entdecken kann, oder einen Ablauf, in dem sich alles selbst regeneriert und zum Besseren entwickelt. Natur wurde immer schon vom Menschen kontaminiert. Diese Erkenntnis hat auch ein neues ökologisches Paradigma in den Kulturwissenschaften hervorgebracht. Wir haben jetzt ganz neue Perspektiven.

Die animals studies zum Beispiel sind ein solches neues Konzept, in dem Tiere, also eine ganz andere Spezies, auf eine Ebene mit den Menschen gehoben und auch ethisch im Sinne einer Gleichwertigkeit diskutiert werden. Nachdem wir Kinderrechte eingeführt haben, kommen jetzt die Tierrechte an die Reihe. Resultat dieses Denkens ist, daß wir Kultur und Natur nicht mehr fein säuberlich trennen können, wie es einmal selbstverständlich war. Als ich zu studieren anfing, gab es den Strukturalismus und Claude Levi-Strauss. Natur und Kultur war die erste Basis-Opposition, man konnte alles sehr gut in einen Gegensatz bringen und so wurde der Mensch stets als Tier definiert, der dieses und jenes kann, was Tiere nicht können. Dieses Denken stimmte ja auch in gewisser Weise und hatte durchaus Überzeugungskraft, aber wir merken inzwischen, daß wir uns mit diesem Denken aus einem Zusammenhang herausmanövriert haben, den wir so einfach nicht hinter uns lassen können und der uns immer wieder einholt. Wir müssen uns mehr auf diese Zusammenhänge bezogen denken.

SB: Neuerdings wird mit der Begrifflichkeit der gesellschaftlichen Naturverhältnisse operiert und die Dichotomie nicht mehr als gültig anerkannt. Ergibt sich aus diesem Wandel der Kategorien nicht auch eine gewisse Haltlosigkeit, da sie keinen festen Boden zuläßt, auf dem man sich sicher bewegen kann, und welche Konsequenzen hat dies für die Kulturwissenschaften?

AA: Diese Haltlosigkeit habe ich im Titel des Buchs auf den Punkt zu bringen versucht mit der Formulierung "Die Zeit ist aus den Fugen". Eigentlich müssen wir die ganzen Grundbegriffe neu definieren. Vergangenheit ist nicht mehr das, was sie war, Gegenwart und Zukunft auch nicht. Die Kulturwissenschaften, die es ja erst seit den 90er Jahren gibt, sind eine erste Antwort darauf und repräsentieren den Schritt, die internen Fragen der verschiedenen Disziplinen dahingehend zu überwinden, daß man sich nicht immer an den Problemen abarbeitet, die einem weitergereicht werden, sondern sich vielmehr auch auf Dinge bezieht, in denen man selber drinsteckt. Dahinter steht die Einsicht, daß man viel stärker in eine Umwelt eingebettet ist, von der man vorher gänzlich abgesehen hatte.

Die Universität der Geisteswissenschaften ist nicht mehr der Elfenbeinturm, in dem man abstrakte Konzeptionen entwickelt. Bei meinen Lehrern und deren Paradigmen wurde die Theorie noch ganz groß geschrieben, aber sie hatte ganz wenig, wenn überhaupt, mit Erfahrung zu tun. Im Leben war das nicht zu gebrauchen. Das hat sich mit den Kulturwissenschaften total geändert. Sie sind der Versuch, mit zu reflektieren, was man noch nicht genau weiß, weil wir das Ordnungsschema, den klaren Kompaß verloren haben. Auch ohne Skript kann ich dennoch versuchen, mir an verschiedenen Ecken und Enden einen Reim auf die Dinge zu machen, und so einen gewissen Überblick und neue Perspektiven zu bekommen. Aber das geht immer nur schrittweise; wir haben kein einheitliches Schema mehr, das einem das Ganze erhellen würde.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] https://books.google.de/books?id=BympPFIxfEEC&pg=PA26&lpg=PA26&dq=Der+Holocaust+und+die+westdeutschen+Historiker&source=bl&ots=_aOB2jOwpx&sig=8iPP5tY_TiuBS7UeIeEKkanAHO4&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwiO24DZ2crLAhUIJpoKHeovAZ44ChDoAQg4MAU#v=onepage&q=Der%20Holocaust%20und%20die%20westdeutschen%20Historiker&f=false

18. März 2016


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