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INTERVIEW/039: Maßgeblich - Überlagerungsphänomene ...    Prof. Dr. Wolfgang Ketterle im Gespräch (SB)



Porträt - Foto: © 2019 by Schattenblick

Prof. Dr. Wolfang Ketterle
Foto: © 2019 by Schattenblick

Wolfgang Ketterle wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Physik für seine bahnbrechenden Arbeiten zum Bose-Einstein-Kondensat ausgezeichnet. Damit zählte der 1957 in Heidelberg geborene Wissenschaftler zu den jüngsten Nobelpreisträgern überhaupt. Er war vor gut 25 Jahren in die USA umgesiedelt, wo er seit langem am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge lehrt und forscht.

Am 19. Januar hielt Ketterle in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Berliner Gendarmenmarkt einen Vortrag über "Experimente am absoluten Temperatur-Nullpunkt". Eingeladen hatte die Akademie zum Salon Sophie Charlotte, der in diesem Jahr unter dem Motto "Maß und Messen" stand (siehe frühere SB-Beiträge unten). Am Rande der Veranstaltung stellte sich Prof. Ketterle dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.

Schattenblick (SB): Sie haben in Ihrem Vortrag von Atomen gesprochen, die interferieren und dann nicht mehr vorhanden sind. Haben diese nicht-vorhandenen Atome Eigenschaften?

Prof. Dr. Wolfgang Ketterle (WK): Nichts hat keine Eigenschaft. Das ist ein Vakuum. Aber um es hier klar zu sagen: Wenn man Licht interferiert, dann geht keine Energie verloren, sondern das Licht, das in den dunklen Streifen des Interferenzmusters fehlt, ist in den hellen Streifen. Mit anderen Worten, die hellen Streifen sind doppelt so hell, wie man naiv erwarten würde. Das kompensiert für die fehlende Energie in den dunklen Streifen.

Mit den Atomen verhält es sich genauso. Wenn zwei kohärente Materiewellen interferieren, gibt es Stellen, wo keine Atome sind, aber dafür gibt es Stellen, wo um so mehr Atome sind, so daß man am Ende, wenn man über das Interferenzmuster integriert, exakt die Atomzahlen der beiden Wellen finden wird.

SB: Das heißt, wenn man in den Bereich, in dem sich die Atome auslöschen, ein Blatt Papier hineinhalten würde ...

WK: ... wären keine Atome da. Mit Atomen ist es was Spezielles, weil es um Materie geht, aber eigentlich ist es exakt dasselbe wie mit Licht. Wenn Sie eine Fotoplatte in das Interferenzmuster stellen, dann sehen Sie, daß die fotoempfindliche Schicht nicht belichtet wird, weil es dort kein Licht gibt. Genauso würden wir mit jedem Atomdetektor feststellen, daß dort keine Atome sind. Es geht also nicht um dunkle Atome oder um Atome, die Eigenschaften verändert haben. Die Wellenfunktion der Atome ist null, weil sich die positive und die negative Wellenfunktion ausgelöscht haben.

SB: Sie haben heute ein Foto von jungen Studenten gezeigt, die an einem Atomlaser arbeiten. Wie groß war der Atomlaser, den Sie 1997 weltweit das erste Mal vorgestellt haben?

WK: Das war dieselbe Maschine, die ich heute gezeigt habe. Es geht um eine Vakuumkammer von einem Meter Durchmesser, und die ganze Maschine paßt in ein Zimmer, aber das hat die Größe eines Labors.

SB: Inzwischen werden Atomlaser in Schuhkartongröße ins All geschossen, wo an Bose-Einstein-Kondensaten geforscht wird.

WK: Ja, das ist eine neue Entwicklung. Man ist in der Lage, die Experimente so weit zu miniaturisieren.

SB: Konnten Sie sich das damals vorstellen?

WK: Es war immerhin schon das Jahr 1995, als wir mit diesen Arbeiten angefangen haben. Da war schon klar, das man die Geräte verkleinern kann. Beispielsweise verwendete unsere Arbeitsgruppe große Farbstofflaser im gelben Spektralbereich, wohingegen Kollegen von uns bereits kleine Diodenlaser einsetzten. Unsere Maschine war schon immer auf der großen Seite, aber das hat den Vorteil, daß es ein sehr flexibles Forschungsinstrument ist. Die Miniaturisierung allein ist vielleicht gar nicht so beeindruckend, aber die Automatisierung. Daß man eine solche Maschine mit all ihrer Komplexität automatisch, ferngesteuert bedienen kann, finde ich beeindruckend. Das hätte ich mir damals nicht vorstellen können.

In meinem Vortrag habe ich berichtet, daß auf der Internationalen Raumstation ein NASA-Experiment mit einem Atomlaser unter den dort vorherrschenden Bedingungen der Mikrogravitation durchgeführt wird. Ich hätte noch erwähnen können, daß die European Space Agency Raketenexperimente durchführt, bei denen mit einer Rakete für einige Minuten ebenfalls Mikrogravitation erzeugt wird. Mit der NASA wird man diese Bedingungen jetzt permanent zur Verfügung haben.

SB: Häufig stellen sich Laien die Atome als Kügelchen vor. Falls das zutrifft, wie wäre es dann zu verstehen, bewegen sich diese in Wellen? Oder wäre das dann eine vereinfachte Darstellungsform der Physik?

WK: Die Quantenmechanik ist eine Wellenmechanik. Es geht um eine Wellenfunktion, insofern hat man Eigenschaften von Wellen. Nur muß man mit seiner Vorstellungskraft aufpassen, weil es bei der Wellenfunktion um eine komplexe Größe und nicht um eine reale Größe geht. In der Elektrodynamik verwendet man oft komplexe Funktionen, weil es mathematisch einfacher ist, in der komplexen Ebene zu arbeiten. Aber alle Eigenschaften der Welle werden durch den Realteil beschrieben, wie es der Mathematiker nennt. Doch in der Quantenmechanik ist die Wellenfunktion komplex. Ohne eine komplexe Wellenfunktion gäbe es weder Drehimpuls noch Geschwindigkeiten. Das ist inhärent wichtig. Das ist ein Unterschied und man muß mit seiner Intuition aufpassen.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, daß die Wellen auch stationär sein können. Die Wellenfunktion eines Elektrons im Atom ist stationär. Es ist eine Welle, aber es ist eine Welle, in der sich die Atome bewegen. Da sieht man die Nullpunktsenergie, aber die Dichteverteilung ist stationär. Das ist wichtig, wäre es anders, würden die Elektronen des Atoms Energie abstrahlen und das wäre nicht kompatibel mit dem Grundzustand. Aber ich denke, wenn Sie sich ein bißchen von Ihrer Intuition lösen, können Sie sich Atome und Elektronen als Wellen vorstellen. Das mache ich auch.

SB: Sie haben heute erklärt, daß Sie Temperaturmessungen kurz vor dem absoluten Nullpunkt durchführen. Habe ich das richtig verstanden, daß Sie dazu ein indirektes Verfahren gewählt haben?

WK: Wir haben direkt die freie ballistische Ausdehnung eines Gases gemessen. Damit haben wir die kinetische Energie der Atome vermessen. Viel direkter kann man Temperatur nicht messen! Das ist eine unmittelbare Beobachtung der Energie der Teilchen. Denn Temperatur ist nichts anderes als ein Maß dieser kinetischen Energie. Die Boltzmann-Konstante multipliziert mit der Temperatur ergibt die Energie.

SB: Einstein hatte einmal gesagt, "Gott würfelt nicht" [Anm. d. SB-Red.: Bei der sogenannten Bohr-Einstein-Debatte, der diese Aussage zugeordnet wird, vertrat Albert Einstein verkürzt gesagt einen kausal-deterministischen Standpunkt, während Niels Bohr für die Messung quantenmechanischer Phänomene einen Zufallscharakter beanspruchte und dazu auch den Nachweis erbringen konnte.]. Meine Frage an Sie, die Sie sich mit Quantenmechanik befassen: Haben Sie die Frage für sich geklärt, ob Gott würfelt?

WK: Auf der Ebene der naturwissenschaftlichen Beobachtung würfelt Gott. Quantenmechanik ist eine probabilistische Theorie. Wir können auch mit absolut perfekter Zustandspräparation eines Systems nicht eine einzelne Messung vorhersagen, sondern nur die Statistik der Messungen bzw. den Mittelwert von Messungen. Wir wissen, daß diese Statistik grundlegend ist. Und wir haben seit Einstein oder seit Entwicklung der Quantenmechanik in fast hundert Jahren von dieser probabilistischen Interpretation keine Abweichungen gefunden. Insofern nehme ich nach bestem Wissen an, daß Gott würfelt. Das ist die Natur. Die Natur ist nicht so gemacht, wie wir sie uns vorstellen, sondern die Natur ist das, was wir beobachten. Und wir beobachten probabilistische Ergebnisse. Ich denke, das würde bedeuten, daß Gott würfelt.

SB: Meine Abschlußfrage bezieht sich auf die Naturkonstanten, von denen heute gesagt wurde, daß sie im ganzen Universum gelten und selbst die Außerirdischen, wenn man sich mit ihnen darüber verständigen könnte, diese auch anwenden würden. Warum ist dann, obwohl man den Anspruch erhebt, die Grundlagen der Natur zu kennen, für Sie die Natur immer noch kompliziert, wie Sie vorhin im Vortrag sagten?

WK: Die Natur ist kompliziert, weil auf jeder Ebene der Komplexität neue Strukturen entstehen. Vor 80 bis 100 Jahren hat man gesagt, daß man mit der Schrödinger-Gleichung oder auch der Dirac-Gleichung die ganze Chemie erklären könnte. Sind die Chemiker heute arbeitslos? Nein, es gibt nach wie vor fundamentale Entdeckungen. Das heißt, obwohl man die Differentialgleichungen kennt, kann man sie nicht exakt lösen. Selbst für die leistungsstärksten Computer wären die Lösungen für Hunderte von Atomen, die ein Molekül bilden, so kompliziert, daß man die Lösungen nicht verstehen würde. Es braucht die Kreativität von Chemikern, die ein großes Molekül in funktionelle Gruppen unterteilen und die Strukturen in der Komplexität erkennen.

Es werden nach wie vor große Entdeckungen in der Wissenschaft gemacht und Strukturen erkannt, die man vorher nicht gesehen hat, die dann aber experimentell verwirklicht werden. Beispielsweise in den Materialwissenschaften. Dort beobachten wir fundamental neue Materialien wie Nanoröhrchen, Graphen, neue Arten von Supraleitern.

Am Ende, wenn man exakt für alle Bestandteile die Schrödinger-Gleichung oder Dirac-Gleichung löst, wäre alles in dem Sinne vorhersehbar. Aber machbar ist das nicht.

Wenn man in der Chemie, Biologie oder bei auch bei Festkörpern viele Teilchen zusammenfügt, gibt es auf jeder Ebene qualitativ neue Dinge von fundamentalem Charakter, die man entdecken muß. Der Wissenschaft gehen die Themen nicht aus. Das gilt selbst für die Standardmodelle. Man nimmt von ihnen an, daß sie nicht komplett sind. Man sucht noch nach einer Komplettierung. Offene Frage betreffen beispielsweise Neutrinomassen, die Frage der Materie-Antimaterie-Imbalance oder -Asymmetrie. Sie werden im Standardmodell nicht erklärt. Selbst wenn es exakt wäre, hätte man für Bausteine wie Quarks und Elektronen nur die fundamentalen Beschreibungen, aber man kann deshalb nicht die Vielfalt der natürlich vorkommenden Materialien erklären, und erst recht nicht die Materialien, an denen wir im Labor arbeiten.

SB: Herr Ketterle, vielen Dank für das Gespräch.


Bisher im Schattenblick zu der Veranstaltung "Maß und Messen" in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erschienen:

BERICHT/045: Maßgeblich - Wechsel und Wandel ... (SB)
BERICHT/046: Maßgeblich - Entsprechungen, Wellen, Tiefengrade ... (SB)
INTERVIEW/038: Maßgeblich - Handelsgenauigkeit ...    Prof. Dr. Klaus von Klitzing im Gespräch (SB)
INTERVIEW/039: Maßgeblich - Überlagerungsphänomene ...    Prof. Dr. Wolfgang Ketterle im Gespräch (SB)
INTERVIEW/040: Maßgeblich - Gültigkeit und Akzeptanz ...    Prof. Dr. Volker Gerhardt im Gespräch (SB)


28. Januar 2019


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