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KALTE PLATTE/0009: Klatsch auf krossen Kräckern (SB)


Satirische Canapés und Cocktailbissen


Nosferanicki

So kennen ihn die meisten: Marcel Reich-Ranicki, Nosferatu der Literaturkritik, alter Meistervampir, der sich, genüßlich dem Herzblut eines jungen Autors nachschmeckend, begleitet von lüsternen Schmatzern, mit der Feuilleton-Serviette die Mundwinkel tupft.

Im nachhinein läßt sich der Zeitpunkt schwer bestimmen, an dem Reich-Ranicki endgültig in die Sphären der Untoten übergesiedelt ist. Ein Vorgang, der zwangsläufig mit dem Verlust der Seele einhergeht, diesem rätselhaften archaischen Fragment, das Menschen immer wieder veranlaßt, sich zur Distanzlosigkeit zu bekennen. Vielleicht fand seine Verwandlung schon angesichts der unsagbar grauenvollen Nazi-Vernichtungsmaschinerie als Verfolgter im Warschauer Ghetto statt, vielleicht aber auch erst am Ende seiner Politkarriere als polnischer Konsul und Geheimdienstler. Wie dem auch sei, Reich-Ranicki hat mit Sicherheit bereits als jüdischer Gymnasiast im braunen Berlin der dreißiger Jahre gewußt, daß besagte Seele, sobald es ums individuelle Überleben geht, eigentlich nur hinderlich ist. Der Schritt, sich ihrer restlos zu entledigen, war, wie bei den meisten Menschen, wohl auch bei ihm hauptsächlich eine Frage des Drucks der Ereignisse.

Vermutlich als nunmehr junger Vampir fand Reich-Ranicki endlich im bundesdeutschen Literaturbetrieb, einem traditionsreichen Gemäuer mit zahllosen Kammern und Schleichgängen, einen ergiebigen Wirkungskreis. Gemeinsam mit anderen aus der blutschlürfenden Zunft fiel er über ahnungslos in dem Bauwerk Unterschlupf suchende Autoren her und brachte es schließlich zum Altmeister seines Fachs.

So weit, so gut - gäbe es nicht in der wohlstandssatten und zunehmend entpolitisierten Autorenbevölkerung der Bundesrepublik das Phänomen der Herzblutverdünnung. Sie führt dazu, daß nur extrem genügsame Vampire von dem roten Saft zweier oder dreier Autoren wöchentlich noch einigermaßen satt werden können. Und zu den Genügsamen gehört Reich-Ranicki auf keinen Fall. Aus purem Hunger schritt er daher zur Eigenblutbehandlung und betätigte sich als Autor in eigener Sache, um wenigstens ein Surrogat saugen zu können. Denn echter Lebenssaft ist das natürlich nicht.

Auf die Frage eines Vampirneulings, weshalb er sich nicht einfach einem anderen Kulturkreis zuwenden würde, in dem noch mit heißem Herzblut politische Anliegen verfochten werden - beispielsweise lägen bei ihm als Ehrendoktor der Universität Tel Aviv mit persönlicher Ghetto-Erfahrung doch zornige palästinensische Autoren nahe - wirft Nosferatu-Ranicki dem Wohlmeinenden einen weihwasserätzenden Blick zu und stößt mit vor Ekel gekräuselten Wulstlippen hervor: "Der Knoblauch, du erbärmliches, dilettantisches Weichhirn, der Knoblauch!"


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© 2009 by MA-Verlag - KALTE PLATTE/0009

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20. April 2009