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KALTE PLATTE/0080: Klatsch auf krossen Kräckern (SB)


Satirische Canapés und Cocktailbissen



Bakterividuum

Jedes Schulkind weiß, im Zeitalter der Aufklärung wurden in Naturwissenschaften und Philosophie viele neue Erkenntnisse gewonnen. Aber nicht nur. Gerade die Aufklärung sorgte auch für die Verbreitung eines Denkkonstrukts, das sich längst als einer der größten wissenschaftlich-philosophischen Irrtümer seiner Zeit erwiesen hat: das Individuum.

Obwohl wissenschaftliche Studien es schon vor fast hundert Jahren zweifelsfrei belegten, setzt sich die Erkenntnis nur erstaunlich langsam durch: der Mensch als Individuum, als Einzelwesen, wäre gar nicht lebensfähig. Ihn als solches zu bezeichnen, spricht eigentlich dem wissenschaftlichen Kenntnisstand Hohn. Der Mensch ist kein Individuum und wird es niemals sein, auch nicht auf der einsamsten aller Inseln. Vielmehr ist der Mensch ein Symbiont, ein Mischwesen, das nur in Gemeinschaft mit zahllosen Bakterien existieren kann. Diese Kleinstlebewesen bevölkern seine Haut und seine Verdauungsorgane, sorgen für seine Immunabwehr, die Erschließung seiner Nahrung, die Bildung von Vitaminen und vieles mehr. Rein zahlenmäßig besteht ein Mensch aus weitaus mehr Bakterienzellen denn aus Körperzellen. Etwa eine Billiarde Bakterien, in Gewicht ausgedrückt etwa 2 Kilogramm, leben in engster Verbindung mit dem erwachsenen Menschen. Es gibt neuerdings sogar Untersuchungen, die eine Beeinflussung der menschlichen Stimmungslage und der Denkvorgänge durch körpereigene Bakterienkulturen nachweisen.

Angesichts dessen von einer "individuellen Entscheidung" zu sprechen, wenn man sich im Restaurant einen überbackenen Camembert bestellt, geht an den wissenschaftlichen Tatsachen vollkommen vorbei. Denn es ist gar nicht unwahrscheinlich, daß die Verdauungsbakterien im Darm das Verlangen nach dem Käse ausgelöst und somit indirekt die Bestellung getätigt haben. Die Redensart "aus dem Bauch heraus entscheiden" mag darauf hindeuten, daß es für den menschlichen Wirt durchaus nicht unüblich ist, auf seine winzigen "Mitwesen" zu hören.

Dennoch, für viele ist es allzu unangenehm, ihr "innerstes Selbst" gedanklich mit unzähligen wimmelnden Winzlingen teilen zu müssen. Zumal sich in diesem Zusammenhang völlig neue Fragen stellen. Denn müßte der zahlenmäßig höhere Anteil der Bakterien in Relation zu den menschlichen Körperzellen nicht dazu führen, daß deren Bedürfnisse stärker berücksichtigt werden? Oder sollte eher der Gewichtsanteil ausschlaggebend sein? Kann der Mensch über seine bakteriellen Mitwesen mit gleichartigen Bakterien in anderen Symbionten kommunizieren? Fragen über Fragen - und nur eines ist gewiß: Um sie zu beantworten, wäre das Individuum mit Blick auf die unüberschaubare Menge an Identitätsbeteiligten auf derart viele Rückfragen angewiesen, daß der zu erwartende Strom möglicher Antworten bereits von der nächsten Rückkopplungswelle notwendiger Fragen überholt werden würde, bevor er sich angemessen verteilen könnte.

30. Juli 2013