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BUCHBESPRECHUNG/002: J. Kanada - Fist, Stick, Knife, Gun (Jugendgewalt) (SB)


Jeffrey Kanada


Fist, Stick, Knife, Gun

A Personal History of Violence in America



In einem Autorengespräch in der Sendung "Fresh Air" des Senders WHYY aus Philadelphia stellte Jeffrey Kanada, der seit seit 20 Jahren mit Kindern aus armen großstädtischen Familien arbeitet, seine Autobiographie vor. Als Präsident der Reedland Centers for Children and Families hat er in Harlem ein Progamm entwickelt, bei dem Zufluchtsorte für Kinder bereitgestellt werden, in denen sie vor körperlicher Gewalt sicher sind. Als Afroamerikaner, der in der South Bronx aufgewachsen ist und von Kindesbeinen an mit Schlägereien und Schießereien auf der Straße konfrontiert war, mußte er sich notgedrungen mit dem Problem der Gewalt unter Jugendlichen auseinandersetzen, die in den Großstädten der USA ein extremes Ausmaß erreicht hat.

Der Begriff der Handgun Generation kennzeichnet für ihn die inzwischen dominante Ebene der Kämpfe, die mit Schußwaffen ausgetragen werden. Jeffrey Kanada hält Revolver und Pistolen in den Händen von Kindern für gefährlicher als bei professionellen Kriminellen, da sie meist sehr impulsiv reagieren und dazu neigen, in Panik auszubrechen und wild um sich zu schießen. Die wenigsten Kinder haben eine Ausbildung an der Waffe erhalten und schießen daher so unkontrolliert in der Gegend herum, daß jeder, der sich in der Nähe aufhält, gute Chancen hat, eine Kugel abzubekommen. Dabei geraten sie so leicht in Rage, wie sie sich auch wieder beruhigen können, und mit dieser Impulsivität bedienen sie auch ihre Waffen. "Sie schießen erst und überlegen später", meint Kanada, was man allerdings auch verstehen kann, wenn man sich die Brisanz einer lebensgefährlichen Situation vorstellt.

Im Sinne des maximalen taktischen Vorteils bevorzugen die Jugendlichen natürlich überfallartige Schießereien, in denen ihre Gegner möglichst spät erkennen, daß sie angegriffen werden. Die klassische Duellsituation des Westerns, wo man sich im offenen Schußfeld gegenübersteht, stellt hier eine bloße Heldenlegende dar, schließlich will man den andern vernichten und selbst überleben. Zudem wird heute bevorzugt auf den Kopf und die oberen Körperteile geschossen, da viele Jugendliche schußsichere Westen tragen. So ist die Todesrate bei Schießereien sprunghaft angestiegen, und es kommt häufiger als zuvor zu typischen Verletzungen wie Lähmungen, die bevorzugt bei Kopfschüssen auftreten.

Jeffrey Kanada unterrichtet seine Schützlinge, sich in derartigen Situationen so zu verhalten, daß man eine möglichst gute Überlebenschance hat. Mit der klassisch amerikanischen Didaktik der Multiple Choice Fragen macht er zum Beispiel die Handlungsmöglichkeiten in einer Schießerei, in die man per Zufall gerät, anschaulich. Wenn der Schütze es nicht auf einen persönlich abgesehen hat, sollte man a) in das nächste Gebäude rennen, b) laut schreien, während man wegrennt, c) ruhig stehenbleiben, oder d) sich zu Boden werfen. Kanada spricht sich für die letzte Möglichkeit aus und bedauert, daß die meisten Jugendlichen nicht einmal das beigebracht bekämen, was zur Grundausbildung beim Militär gehört.

Er selbst mußte das unter lebensgefährlichen Bedingungen in der South Bronx lernen, wo er bei einer Schießerei davonrannte und genau die Richtung einschlug, aus der der Beschossene bereits zurückfeuerte. Er kam mit einem Schrecken davon, wurde aber von einem älteren Jungen hart zurechtgewiesen, wieso er sich nicht hingeworfen hätte wie jeder andere auch. Immer wieder erlebt Jeffrey Kanada, daß Kinder schreiend weglaufen, wenn plötzlich geschossen wird, und dabei von einer verirrten Kugel in den Rücken getroffen werden. Außerdem werden sie in der Panik leicht überrannt und verletzt.

Der Autor empfiehlt allen Eltern, ihre Kinder in diesem Sinne aufzuklären, denn selbst wenn sie nur selten auf die Straße gehen, können sie immer in eine Schießerei geraten. Und wenn erst einmal Panik ausgebrochen ist und alle wegrennen, so bleiben sie dabei häufig im Schußfeld und vergrößern so die Chance, getroffen zu werden.

Jeffrey Kanada unterrichtet seine Schützlinge in Taekwondo, das jedoch unter der Prämisse, dabei zu lernen, gewaltsame Auseinandersetzungen zu vermeiden. Er hält diese Kampfkunst für kein realistisches Mittel zur Selbstverteidigung, sondern meint sogar, daß derjenige der Handgun Generation, von dem bekannt sei, daß er sich mit den Fäusten gut wehren könne, noch schneller mit der Schußwaffe bekämpft werde, da sich die anderen auf direkter körperlicher Ebene unterlegen fühlen. Er macht seinen Schülern nichts darüber vor, daß seine Kampfkunst vollkommen nutzlos gegen Schußwaffen ist, hält die dabei vermittelte Disziplin jedoch für ein wichtiges Mittel, um mit Gewalt umgehen zu können.

Eine Selbstverteidigungssituation beginnt seiner Ansicht nach erst, wenn man in einer ausweglosen Situation so gefangen ist, daß es keinen anderen Ausweg als den Kampf gibt. Bis es dazu kommt, versucht er, seinen Schülern Strategien beizubringen, etwa den Ärger einer Erniedrigung für sich zu nutzen und nicht in eine absehbare Niederlage hineinzulaufen. Er beschreibt dies am Beispiel eines siebenjährigen Jungen, der sich an ihn wandte, weil er immer von einem Neunjährigen beleidigt und verspottet wurde. Kanada empfahl ihm, seine Wut darüber jedesmal in 15 Liegestütze zu packen, dann würde er in einem Jahr so stark sein, daß er keinen Ärger mehr mit dieser Person habe.

Seiner Ansicht nach fürchten sich Kinder am meisten davor, schwach dazustehen und zu einem Opfer anderer Kinder oder auch Erwachsener zu werden. Sein Versuch, dieses Anliegen gewaltfrei durchzusetzen, besteht darin, die Jugendlichen davon zu überzeugen, daß man es sich leisten kann, auf eine Auseinandersetzung zu verzichten, wenn man sie körperlich gewinnen könnte und keinen Schritt zurückweicht, sondern dem anderen ungerührt in die Augen sieht und sagt, daß man sich auf keinen Kampf einlasse. Das sei nicht leicht und erfordere vor allem eine gehörige Portion Selbstvertrauen und eine gut ausgebildete Physis, die sich die Jugendlichen etwa beim Taekwondo verschaffen könnten.

Der Autor hatte schon durch seine Mutter, die ihre vier Söhne alleine aufzog, etwas von der notwendigen Toughness mitbekommen, die man braucht, um in den Straßen der South Bronx zu überleben. Seine Mutter habe vor nichts mehr Angst gehabt, als daß ihre Kinder zu den klassischen Opfern würden, die auf der Straße von vorneherein unterliegen. Als einem seiner jüngeren Brüder die Jacke weggenommen wurde, bemitleidete seine Mutter ihn nicht etwa, sondern drohte dem nur ein Jahr älteren Brüdern Schläge an, wenn er nicht losging und die Jacke wiederbesorgte. Als dieser sich weigerte, meinte sie, daß sie ihm eine schlimmere Tracht Prügel verpassen würde, als er überhaupt von den anderen Jungen beziehen könnte, und so zog er los und bekam die Jacke tatsächlich wieder. Jeffrey Kanada hat dabei allerdings auch gelernt, seiner Mutter besser zu erzählen, die Jacke sei gestohlen worden, als daß man sie sich habe wegnehmen lassen.

Das Problem mit einer derartigen Ermutigung zum Kampf sei jedoch, daß die gegenseitige Gewalt immer mehr eskaliert, und die Kinder nach Stöcken und Flaschen schließlich zu Schußwaffen greifen. Wenn man nicht will, daß das eigene Kind dauernd geschlagen und beraubt wird, muß man ihm beibringen, sich zu wehren und offensiv vorzugehen. Dann könne man allerdings kaum Einspruch erheben, wenn die Gewalt zu bedrohlich werde. Aus diesem Grund arbeitet Jeffrey Kanada daran, mit Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen Zufluchtsorte für Kinder und Jugendliche zu schaffen, in denen an anderen Lösungen für Konflikte gearbeitet wird, und tritt für eine generelle Kontrolle der Bürger des Viertels über jugendliche Gewalt ein.

Dazu hält der Autor eine starke Präsenz von Erwachsenen an den Orten für notwendig, an denen es häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen kommt. Außerdem muß es auf den Wegen, die Kinder zu ihren Schulen nehmen, erwachsene Ansprechpartner geben, die in einer gewalttätigen Situation verfügbar sind. Vor allem aber muß die Gemeinde von dem Versuch, gewaltfreie Zonen zu schaffen, informiert und zur Mitarbeit bewegt werden. Zu diesem Zweck hat seine Organisation damit begonnen, in Harlem einmal im Monat eine Safety Night einzuführen, in der alles dafür getan wird, daß die Kinder sich unbedroht in der Stadt bewegen können. Eine häufigere Frequenz stelle eine Überforderung der Bürger dar, daher wolle man es wenigstens in diesem Rahmen schaffen und von dort aus weiter steigern.

Die Untersuchungen der Organisation bei Polizei und Krankenhäusern haben ergeben, daß die meisten Kinder und Jugendlichen zwischen 17.00 und 23.00 Uhr verletzt werden, und das insbesondere an Wochenenden. So hat man sich für einen Freitagabend entschieden, an dem man alle Menschen der Gemeinde dazu anregt, etwas für die Sicherheit der Jugendlichen zu tun, wie zum Beispiel Räumlichkeiten für sie zur Verfügung zu stellen oder sich an der Überwachung der Straßen zu beteiligen. Damit wird auch etwas für den Zusammenhalt der Gemeinde getan, die es als solche im Sinne einer gemeinschaftlichen Bewältigung kommunaler Probleme gar nicht mehr gibt.

In den Häusern der Organisationen, die als permanente gewaltfreie Zonen fungieren, sollen nicht nur Kinder unter sich, sondern mehrere Generationen miteinander ihre Freizeit verbringen, so daß sich die Jugendlichen eher als Beschützer fühlen und nicht so sehr in Konkurrenzkämpfe untereinander verfallen. Hier soll ohne Metalldetektoren und Polizei versucht werden, eine natürlichere Form der Regulation von Gewalt zu entwickeln, die vor allem auf sozialem Verantwortungsbewußtsein beruht. Jeffrey Kanada ist der Ansicht, daß junge Leute in einer familiären Umgebung selten gewalttätig werden und daß viele Probleme auf der Straße dadurch entstehen, daß sich die Menschen des Viertels untereinander nicht mehr kennen. Mit einer Verbesserung der Kommunikation unter Nachbarn würde auch die latente Bedrohung verschwinden, die von den Kids an der Straßenecke ausgeht, mit denen man sich jetzt besser verstehe. Kanada will das Gemeinschaftsleben wieder aktivieren und verspricht sich davon, daß die Gemeinde ihre ursprüngliche Funktion eines Regulativs für soziale Spannungen aller Art wiedererlangt.

Als der Autor in den frühen siebziger Jahren ein College in Maine besuchte und von dort aus nach Hause in die Bronx zurückkehrte, sah er sich einer Gang gegenüber, die er nicht kannte und der er tunlichst aus dem Weg ging. Er fühlte sich so bedroht, daß er sich einen Revolver kaufte. In seiner Biographie berichtet er darüber, wie sehr ihn das Tragen dieser Waffe veränderte. Er sah immer weniger ein, wieso er einen umständlicheren Weg zum Einkaufen nehmen sollte, nur um der Gang aus dem Weg zu gehen. Als er schließlich direkt an ihnen vorbeiging und erste Blickkontakte aufnahm, wurde ihm klar, daß er auf dem besten Wege war, eine Konfrontation zu provozieren. Er führte sein Verhalten, daß ihn immer weiter das Territorium der Gang verletzen ließ, auf die Waffe zurück, die ihm ein Gefühl der Stärke verlieh, ohne das er sich nicht getraut hätte, eine eventuelle Auseinandersetzung mit den Gangmitgliedern zu riskieren.

Kanada entschloß sich nach einem halben Jahr, keinen Revolver mehr zu tragen, obwohl er gut verstehen kann, wieso sich viele Jugendlichen aus dem reinen Bedürfnis nach Schutz eine Schußwaffe zulegen. Er glaubt jedoch, daß man sich damit nicht nur weniger ängstlich bewegt, sondern die Konfrontation regelrecht sucht. Die meisten Jugendlichen hätten nichts außer ihrer Selbstachtung, die sie sich erkämpft haben, und daher seien sie bereit, für die Fähigkeit, mit erhobenem Kopf durch die Straßen zu gehen und niemandem auszuweichen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Auf diesem Schlachtfeld spielt die Polizei nicht etwa die Rolle einer Sicherheit garantierenden Macht, sondern eher die eines weiteren Gegners. Kanada hat schon als Junge gelernt, daß von den Cops bestenfalls leichtfertige Ignoranz zu erwarten ist, wenn man sich bedroht fühlt oder Opfer eines Angriffes wird. Er meint durchaus, daß das Viertel Polizisten braucht, die eine Schutzfunktion ausüben und als Ansprechpartner fungieren, die meisten Beamten großstädtischer Reviere seien an den Vorgängen in den Problemvierteln jedoch vollkommen desinteressiert. Sie verallgemeinern die dort herrschende Gewalt und sehen in jedem Bewohner Harlems einen potentiellen Kriminellen, was sich auch in der Behandlung durch die Beamten äußert.

Dazu kommt noch, daß viele Polizisten mit Drogenhändlern und anderen Kriminellen gemeinsame Sache machen und man genau das falsche tun kann, wenn man sich an die Polizei wendet. Selbst eine vertrauliche Anzeige kann dann dazu führen, daß Name und Adresse an die Händler weitergegeben werden und man zum Opfer eines Racheakts wird. Aus diesem Grund arbeitet die Reedland Organisation mit einigen ausgesuchten Beamten zusammen, denen sie vertrauen und die sie empfehlen können, wenn man Probleme hat. Kanada möchte eine Polizei, die sich mit der Gemeinde identifiziert und dazu motiviert ist, sie zu beschützen.

Ein weiteres Problem besteht für den Autor in der Anstiftung zur Gewalt durch Medien wie Filme oder Gangsta Rap, in denen Helden stilisiert werden, die lediglich durch Gewaltanwendung zu den sozialen Vorbildern werden, die die Jugendlichen in ihnen sehen. Dabei ist ihm wichtig, Rap nicht generell zu verteufeln und bei allen Attacken gegen diese Musikform nicht zu vergessen, daß die ganz normalen Actionfilme mit Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger ebenso gewaltanimierend sind. Bei aller Härte der Texte des Gangsta Rap glaubt er nicht, daß ein qualitativer Unterschied in der Propagierung von Gewalt besteht, wie sie in Cartoons, in Hollywoodproduktionen oder eben bei den militanten Reimen praktiziert wird, mit denen im Rap durchaus auch zu sozialen Problemen Stellung bezogen wird. Seiner Ansicht nach müssen sich die Medien ihrer Verantwortung bewußt werden und die grade Straße zum Heldentum, die immer mit Gewalt begangen wird, differenzierter darstellen. Überhaupt sei nicht einzusehen, daß man die beleidigende Belästigung aus Radio und Fernseher anders behandle als einen Gast in der eigenen Wohnung, der so flucht und über Frauen herzieht, wie es bei manchen Rappern üblich ist - man würde ihn mit einem Tritt hinausbefördern.

Bei allen Strategien, mit der täglichen Gewalt fertigzuwerden, blieb auch Jeffrey Kanada eine persönliche Tragödien nicht erspart. Der Neffe seiner Verlobten wurde an einer Straßenecke in unmittelbarer Nachbarschaft mitten in Harlem von einem Jugendlichen erschossen, der es auf die Person abgesehen hatte, die gerade neben ihm stand. Der Angreifer feuerte fünf- oder sechsmal und traf sein Ziel mit allen Kugeln bis auf eine. Dieser Irrläufer brachte den unbeteiligten Jungen um, so wie sie jede andere Person an seiner Stelle hätte treffen können. Der Täter wurde nicht zur Verantwortung gezogen.

Die zentrale Botschaft Kanadas besteht darin, daß man sich als Erwachsener um Kinder kümmern sollte, daß man verfügbar sein sollte, wenn sie jemanden brauchen, mit dem sie sprechen können oder der für sie mit ihren Eltern oder Lehrern verhandelt. Körperliche Stärke allein reicht nicht, ihm geht es darum, Stärke im verantwortlichen Umgang zu beweisen, wo man sich nicht damit begnügt, über die Verrohung der Sitten zu lamentieren, sondern selber Einfluß auf die Gestaltung der sozialen Umwelt nimmt. Man kann nicht einfach über die negativen Vorbilder der Jugend schimpfen, sondern muß sich selbst zum Vorbild machen.

Wie die Reihenfolge der im Titel aufgezählten Waffen "Fist, Stick, Knife, Gun" belegt, stellt die Eskalation körperlicher Gewalt bis zu Mitteln mit wahrscheinlicher Todesfolge das größte Problem bei den Kämpfen der Jugendlichen dar, die in den Straßenschluchten New Yorks unter teilweise elenden Lebensbedingungen um ihr Überleben kämpfen. Jeffrey Kanada spricht kaum über die Ursachen der Gewalt, sondern bietet ausschließlich pragmatische Ansätze zur Bewältigung des Problems, die natürlich mit der galoppierenden sozialen Brisanz und ihrer gewalttätigen Explosion zu kämpfen haben. So werden auch Erwachsene letztlich zum Auffahren größerer Kanonen gezwungen, da sie ihrerseits Angst haben müssen vor den Waffen der Gangs, die zudem nicht unbedingt aus dem Viertel kommen, sondern ihre Angriffe im Stil der berüchtigten Drive Bys vom fahrenden Auto aus führen.

Das persönliche Engagement Jeffrey Kanadas muß seine Grenzen da erleben, wo er als Chef einer Organisation zum politischen Funktionsträger wird, der aus monetären oder administrativen Gründen Zugeständnisse an verschiedene Interessensgruppen macht. Dementsprechend mild ist auch sein Tonfall etwa bei Kritik an der Polizei, wobei er zwar nicht verbirgt, welche Meinung er von ihrem Schutzanspruch hat, doch nicht so weit geht, etwa den grassierenden Rassismus unter den Beamten deutlich herauszustellen. Gegenüber Gruppen wie der Nation of Islam oder anderen stärker ideologisch orientierten Vereinigungen muß seine Reedland Organisation zwangsläufig im Hintertreffen bleiben, da sie auf einem sozialen Konsens aufbaut, der die Tiefe der Auseinandersetzung zwischen arm und reich und weiß und schwarz in den USA offensichtlich nicht aufgreift. Die Black Muslims etwa haben es durch die persönliche Verbindlichkeit ihrer Mitglieder, die Dealern unverhohlen mit härtesten Mitteln drohen, geschafft, ganze Straßenzüge vom Drogenhandel zu befreien. Ihre Solidarität beruht auf einem religiös fundierten Moralkodex und einer Betonung der eigenen Identität und ist so von vorneherein militanter definiert.

Aufgrund der persönlichen Erfahrungen des Autors und seiner Praxis als Kampfkunstlehrer dürfte seine Biographie einen relevanten Beitrag zum Thema jugendlicher Gewalttätigkeit leisten, da er sich zumindest nicht zu so absurden Behauptungen versteigt, man könne mit einem schnellen Selbstverteidigungskursus oder auch einem Schwarzgurt im Taekwondo eine effiziente Grundlage für das erfolgreiche Bestehen einer lebensbedrohlichen Situation gewährleisten. Allzu leichtfertig wird hierzulande für Methoden geworben, die lediglich aufgrund sportlich definierter Schlag- oder Trittechniken verheißen, sich gewichtsmäßig überlegenere Gegner auch als älterer Mensch wirksam vom Leibe halten zu können, wenn nicht gar kampfunfähig zu machen.

Bei Jeffrey Kanada herrscht demgegenüber eine gesunde Skepsis vor, die ihn an andere Lösungen denken läßt, die nicht umsonst im Bereich solidarischer Bewältigung angesiedelt sind. Damit stellt er ausschließlich repressiven Ansätzen vieler Stadtverwaltungen, die eine von Bürgerrechtsorganisationen stark kritisierte Ausgangssperre für Jugendliche ab 23.00 verhängt haben, bei deren Nichteinhaltung empfindliche Geldstrafen oder sogar Gefängnis drohen, einen bemühteren Ansatz entgegen. Auch die Debatte um die stärkere Kontrolle von Schußwaffen wird gerade in den Zentren mit armutsbedingter hoher Kriminalitätsrate kaum etwas ausrichten, da dort ausreichend Waffen kursieren, die ohnehin illegal vertrieben werden. Gesetzgeberische Maßnahmen in den USA zeichnen sich in der Regel dadurch aus, daß sie der immer weiter aufklaffenden Schere von arm und reich lediglich höhere Strafen entgegenstellen, und bei der rapiden Kürzung der Sozialausgaben werden die ohnehin meist ineffizienten Programme einer die Probleme vor Ort scheuenden Sozialtechnokratie weiterhin reine Kosmetik bleiben.

Letztlich steht aber auch Jeffrey Kanada vor dem Problem, sich in der sozialen Auseinandersetzung in den großstädtischen Ghettos der USA zwischen den Fronten zu befinden. Während immer mehr Politiker die offizielle Realisation der ohnehin praktizierten Abschottung der Ghettos fordern, in denen der Kampf ums Überleben dann in noch höheren Maße ausschließlich unter den Bewohnern ausgetragen wird, reichen die Forderungen betroffener Schwarzer bis zur separaten Abtrennung eines Teils der USA für ihre Ethnie. Die Teilbarkeit des Menschen auch am untersten Ende der sozialen Skala aufgrund vermeintlicher Vorteile hat noch nie das eingebracht, was ihre Propagandisten versprochen haben. Daß man es bei einer Überwindung der sozialen Gräben jedoch mit Gegnern und Problemen zu tun bekommt, die mehr erfordern als den Wunsch nach einer gutbürgerlich saturierten Nachbarschaft, bleibt zumindest in diesem Autorengespräch unerwähnt.


Jeffrey Kanada
Fist, Stick, Knife, Gun
A Personal History of Violence in America