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REZENSION/014: Sudhoff, Steinmetz - Karl-May-Chronik V und Begleitband (SB)


Dieter Sudhoff / Hans-Dieter Steinmetz


Karl-May-Chronik

Band V (1910-1912)



Nun ist er da, der fünfte Teil der Tageschronik, der die letzten zwei Lebensjahre Karl Mays dokumentiert. Krankheit und eine Unzahl von Prozessen gegen Moralisten und Neider sowie aus Urheberrechtsgründen nehmen einen breiten Raum ein. Auch, wenn diese Karl May das Leben auf sehr bittere Weise schwer gemacht haben, soll von ihnen hier nicht weiter die Rede sein; es ist alles nachzulesen. In den Mittelpunkt rückt vielmehr die Frage des begeisterten Lesers seiner Reiseerzählungen, was den Autoren in seinen späten Jahren dazu bewogen haben mag, sich von seinem frühen Werk zu distanzieren und sich ausdrücklich dem Geistigen, dem "Edelmenschentum" zu widmen. Hier muß man sehr deutlich unterscheiden zwischen dem Ausdruck tiefer Menschlichkeit in Karl Mays Werk und dem Konzept vom veredelten und wertvolleren Menschen, das die Guten und die Schlechten schafft, einen Keil zwischen die Menschen treibt und dessen sich nicht umsonst die gesellschaftlich und ökonomisch Bessergestellten zu jener Zeit bedienten. Denn das Unterstellen solcher Werte unterscheidet sie von der "dumpfen niederen" Klasse.

Ich war in Asien, in Afrika, in Amerika. Ich habe eingehende Milieustudien gemacht. Ich habe gar oft Konflikte, um sie mit größerer Freiheit behandeln zu können, in diese fremden Milieus verlegt. Was ich unter Symbolismus in meinen Werken verstehe, das leuchtet am besten aus meinem Roman "Im Reiche des silbernen Löwen" hervor. Der Araberstamm der "Hadeddin", den ich vorführe, das sind jene meiner Leser, denen das rein Stoffliche, das Abenteuerhafte in meinen Erzählungen behagt. Ich zeige aber dann, wie sich allmählich das Edelmenschentum, je höher man steigt, entwickelt. Und nun möchte ich Ihnen ein Geständnis machen. Was ich bis jetzt geschaffen habe, betrachte ich als Vorstudien, als Etüden. Ich habe sozusagen mein Publikum geprüft. Jetzt erst will ich an mein eigentliches Lebenswerk schreiten.

Chronik Bd. V, S. 575.576 (Interview mit Dr. Marco Brociner, Neues Wiener Tagblatt, 20.3.1912)

Karl May hat sich - dies ist ausführlich genug dokumentiert - mit Art, Zweck und Wirkung seines Werks auseinandergesetzt. Leider war ihm die gesellschaftliche Anerkennung so wichtig, daß dies seinen Horizont beschränkt hat. Aus dem Bestreben heraus, sich seine Position zu erhalten, geriet er in Rechtfertigungsnöte. Sein ursprünglicher Antrieb - die materielle Not sowie die trotzig mangelnde Einsicht in das Gebot, daß man sich als "Niedergeborener" nichts als zu fügen habe - ist der qualifizierteren Anpassung gewichen. Es hat ihm ganz offensichtlich nicht ausgereicht, eine Leserschar zu begeistern, die sich von ihm in ferne Welten entführen ließ, wo man ein besserer Mensch sein konnte. Und dies korrespondierte wiederum mit den Reaktionen seiner Leser und der Kritiker, die sein Werk entweder als trivial oder als von höherem Geistesgut durchwirkt betrachteten. Seine erfrischenden Erzählungen, in denen der selbstherrlich grausamen Obrigkeit so mancher Schlag versetzt und dem Menschen in Not geholfen wurde, reichten mit ihrem Gerechtigkeitssinn als Billett zum Eintritt in die besseren Kreise nicht mehr aus. Da mußten die edle Gesinnung, die vornehme Haltung und der spirituelle Tiefgang her. Die Anfeindungen, die er seiner Vergangenheit und der Inhalte seiner Bücher wegen in reichem Maße erlebte, führten nicht dazu, daß er die gesellschaftlichen Zustände hinterfragte, sondern er versuchte, ihnen umso mehr zu willfahren und seinen Platz zu erobern.

Um besser zu verstehen, in welchem Konflikt sich Karl May in seiner Situation als Emporkömmling und ehemaliger Zuchthäusler möglicherweise befand, also warum es diese auch tunlichst zu verbergen galt, lohnt sich eine knappe Charakterisierung der gesellschaftlichen Situation, die in der Chronik unberücksichtigt bleibt. Diese dokumentiert im wesentlichen das persönliche Umfeld, so daß der Druck von außen nicht unbedingt deutlich wird. Karl May lebte in einem politischen Milieu, das Rechtschaffenheit, Sittenstrenge, Gottesfurcht und Untertanengeist forderte; das Militär und militärische Disziplin gewannen umfassende Bedeutung. Es wurde massiv aufgerüstet. Im Jahr 1912, das dieser Band der Chronik abdeckt, liefen schon die Vorbereitungen für den Zweiten Weltkrieg.

Das Bismarck-Reich war durch Verfassung und parlamentarische Einrichtungen demokratischer als die einzelstaatlichen Regierungen der vorausgegangenen "Reaktionszeit". Die Mentalität der Reichsbürger war von diesem Prozeß der Demokratisierung seltsam unberührt geblieben. Nicht emanzipierte Staatsbürger begegnen uns bei der Rückschau, sondern häufig Menschen, die den in Schule, Beruf und Familie gültigen autoritären Normen fast enthusiastisch Beifall zollten. Sich-Fügen fiel ihnen leichter als Protest. [...]

Die Untertanenmentalität des späten 19. Jahrhunderts ruhte fest auf den autoritären Strukturen von Familie, Schule und Arbeitsplatz und erhielt täglich ihre Nahrung aus öffentlich propagierten Feindbildern. Neger, Juden und Zigeuner, aber auch Politiker und Intellektuelle, Liberale und Sozialisten, der "Erbfeind" Frankreich und überhaupt "das Ausland" gehörten damals dazu. Nationalistische Überheblichkeit nährte das Kolonialfieber und den Imperialismus der Wilhelminischen Zeit, beflügelte die Träume der "Alldeutschen" und fand seine entsetzliche Steigerung in den Weltmachtplänen Hitlers.

(aus: Deutsche Geschichte Bd. 5, 1815-1918, Hg. H. Pleticha; Margarete Schwind: Das Bismarck-Reich - Zwischen Demokratie und Kanzlerdiktatur, S. 259)

Karl May, der sich ausdrücklich für die Völkerverständigung und gegen kolonial-rassistische Bestrebungen eingesetzt hat, ist mit Sicherheit nicht derart zu charakterisieren. Dennoch zollen seine Widersprüchlichkeiten, seine Scham bezüglich seiner Vergangenheit und sein Zögern, seiner Herkunft gemäß Partei zu ergreifen, diesem gesellschaftlichen Umfeld Tribut. Seine Reise- und Abenteuererzählungen, das Werk, das er als Vorübung bezeichnet, spricht eine andere Sprache. Es zeigt die kleine Verweigerung, die in dem Abenteuer steckt, in dem sich der Leser gemeinsam mit dem Autoren als anderer Mensch erleben und die Alltagsrealität, die nichts als Anpassung an die bestehenden Verhältnisse verlangt, verlassen kann. Gemessen an dieser kleinen Opposition und Realitätsverweigerung ist das spätere Streben nach einem Edelmenschentum als Ausflucht zu sehen. Es stellt, verbunden mit Karl Mays gesellschaftlichem Aufstieg, seine Flucht vor den gesellschaftlichen Zuständen dar, denen er den Kampf hätte ansagen können.

Die Chronik in ihrer Gesamtheit macht deutlich, welcher Fülle von Material sich beispielsweise der Biograph gegenübersieht und welch akribisch unermüdliche Arbeit die Auswertung erfordert. Über das bereits erwähnte hinaus bietet sie teilweise sehr ausführliche Schilderungen von Zeitgenossen über Begegnungen mit Karl May, die den Autoren - gleich wie sie ihn auch schildern - näherbringen. Man kann sich festlesen.

Daß sich Karl May nach wie vor regen Interesses und einer breiten Leserschaft erfreut, ist nicht zuletzt als das Verdienst des gleichnamigen Verlages, der Stiftung und beider umfassender Aktivitäten zu sehen. Der Verlag wurde nach Karl Mays Tod im Auftrag seiner Witwe 1913 vom Großvater des heutigen Verlegers Bernhard Schmid gegründet. Etwa 100 Millionen Exemplare seiner Werke, übersetzt in mehr als 30 Sprachen, wurden bis heute in alle Welt verkauft. Mit 200.000 Bänden jährlich, die allein der Karl-May-Verlag umsetzt, scheint die Popularität des Erzählers ungebrochen.

Karl May hatte zu seinen Lebzeiten keinen Lektor. Es gab Fehler also im Werk. Und dann bestimmte Bände, die an die Reiseerzählungen angegliedert wurden, die so genannten Kolportageromane, hatten ihre Schwächen. Karl May wollte sie auch in dieser Form nicht mehr im Buchhandel haben. Und so hat man sich eigentlich verpflichtet gefühlt, diese Bearbeitung vorzunehmen. Und wir sagen auch heute: Nur diese Bearbeitungen haben Karl May über die Jahrzehnte gerettet und sind jetzt ein stimmiges Werk.

(Bernhard Schmid in der Sendung "Fazit - Kultur vom Tage" vom 13.7.2003, Deutschlandradio Berlin)

Kaum ein Autor ist von so vielen Menschen über Jahrzehnte hinweg gelesen worden, wenige haben nach ihrem Tod noch ein solches Ausmaß an Rezeption und Umsetzungen erfahren. Nicht zuletzt wurde das Bild, das sich viele Deutsche von den Indianern Nordamerikas und vom Orient machen, nachhaltig von Karl May geprägt:

Hal es sala" - rief der fromme Schech el dschemali, der Anführer der Karawane - "auf zum Gebet! El Asr ist da, die Zeit der Kniebeuge, drei Stunden nach Mittag!

Die Männer kamen herbei, warfen sich auf den sonnendurchglühten Boden nieder, ließen den Sand durch die Hände gleiten und rieben sich damit an Stelle des fehlenden, zur vorgeschriebenen Waschung nötigen Wassers sanft gegen die Wangen. Dabei sprachen sie laut die Worte der Fathha, der ersten Sure des Korans:

"Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Lob und Preis dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrscht am Tage des Gerichts. Dir wollen wir dienen und zu dir wollen wir flehen, auf daß du uns führest den rechten Weg, den Weg derer, die sich deiner Gnade freuen, und nicht den Weg derer, über die du zürnest, und nicht den der Irrenden!" (aus: Die Sklavenkarawane, S. 5)


Dieter Sudhoff / Hans-Dieter Steinmetz
Karl-May-Chronik
5 Bände und ein Begleitbuch
Karl-May-Verlag, Bamberg, 2006
ca. 3000 Seiten
je Band 19,90 Euro
5 Bände komplett 99,00 Euro
Band V: ISBN 3-7802-0175-5