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REZENSION/029: Anja Röhl, Die Frau meines Vaters - Erinnerungen an Ulrike (SB)


Zwischentöne




"Es geht mir hier mehr um Ulrike als um Sie", sagt die Frau aus dem Publikum. Gemeint ist Ulrike Meinhof, geladen hatten das Literaturhaus Schleswig-Holstein und die Rosa-Luxemburg-Stiftung, gekommen waren weit über 100 Personen, nicht wenige mußten am Eingang abgewiesen werden, weil die Räumlichkeiten die Zahl der Interessierten nicht zu fassen vermochten. Anlaß war eine Lesung am 7. April diesen Jahres mit Anja Röhl, Tochter des ehemaligen Konkret-Herausgebers Klaus Rainer Röhl aus dessen erster Ehe, aus ihrem Buch "Die Frau meines Vaters". Diese Frau war Ulrike Meinhof.

Auch mehr als 40 Jahre nach ihrem Tod vermag der Name Gemüter in Unruhe, Gefühle in Aufruhr und Denken in Bewegung zu setzen. Entgegen der staatlich und medial verordneten Verteufelung, mithilfe derer sich ihre Sinnstifter des Problems der RAF, deren führendes Mitglied Ulrike Meinhof gewesen ist, zu entledigen trachteten, die sie als mordende Terroristin, hörige Bandenfrau, Rabenmutter, krankes Geschöpf, Opfer ihrer Genossen oder Untergrundkämpferin aus unglücklichem Zufall abzuhandeln versuchten, blieb die Person Ulrike Meinhof immer auch eine (moralische) Herausforderung, ihrer eindeutigen und eloquenten Analysen gesellschaftlicher Mißstände wegen ebenso wie wegen ihrer Haftbedingungen unter der weißen Folter, der sie so lange wie kein anderer Gefangener der RAF vor und nach ihr unterworfen war.

Die mannigfachen Versuche einer geschichtslosen Verarbeitung, ob in Buch- oder in Filmform, haben auch bei Jüngeren, die die Zeit des sogenannten bewaffneten Kampfes in der BRD nicht selbst erlebt haben, den nicht unberechtigten Eindruck hinterlassen: Nein, so war es nicht, so kann es nicht gewesen sein. Eine Fülle von Rezeptionen in Kunst und Kultur zeugen davon, daß hier etwas berührt wurde, dem man sich so leicht nicht entziehen kann.

Anja Röhl erinnert an diese Jahre - an die fast nahtlose Fortsetzung ehemals faschistischer Karrieren, das Schweigen der Väter und Mütter, an die Ausbeutung und Unterdrückung der Dritten Welt und deren Kampf um Befreiung, an den Vietnamkrieg mit mehr als zwei Millionen Toten, vorwiegend Unschuldige und Kinder -, die eine ganze Generation in ohnmächtige Empörung versetzten. So kommt es, sagt sie, daß ein Mensch die Nähe zu anderen so sehr verspürt, daß es ihm nicht möglich ist, wie eine Made im Speck auf Kosten der Verhungernden, Verfolgten und Vernachlässigten zu leben, daß er sich gesellschaftlich ins Aus befördert, wissentlich und mit Absicht, weil er nicht länger tatenlos bleiben kann, weil nur über diese Positionierung eine Übereinstimmung mit sich selbst gelingt. "Und Ulrike befand sich im Konsens mit vielen, die der Meinung waren, daß man etwas tun muß."

Die Autorin hat, nach den Halbschwestern und in bewußter zeitlicher Zurückhaltung, ihre ganz persönlichen Erinnerungen an Ulrike Meinhof in eine literarische Form gebracht. Trotzdem gab es um die Veröffentlichung juristische Auseinandersetzungen. Mit der Berufung auf ihr Persönlichkeitsrecht haben die Schwestern sich dagegen verwahrt, daß auch über sie berichtet wird, sogar da, wo es sich um Sachverhalte handelt, die die Journalistin Bettina Röhl zuvor bereits veröffentlicht hatte, so der Verweis im Vorwort der Edition Nautilus, bei der das Buch 2013 erschienen ist. Da eine Einigung trotz Kompromißbereitschaft nicht möglich war, hat der Verlag als Zeichen des Protestes die betreffenden Passagen geschwärzt in dem Buch belassen.

Auf den ca. 160 Seiten findet Ulrike Meinhof nur auf etwa einem Drittel der Seiten Erwähnung. Trotzdem ist der Titel "Die Frau meines Vaters - Erinnerungen an Ulrike" nicht falsch gewählt, eine mögliche Unterstellung, hier wolle jemand seine eigene Biographie mit einem großen Namen öffentlichkeitswirksam und verkaufsfördernd aufwerten, trifft nicht, weil sich die Bedeutung, die Ulrike Meinhof für Anja Röhl gehabt hat, für "das Kind", "das Mädchen" und die "junge Frau", so die Abschnitte, in die sich das Buch teilt, erst vor dem Hintergrund einer Kindheit in den 50er und 60er Jahren mit ihrer Enge, ihren Zwängen und ihrer Doppelmoral erklärt. Der Kontrast könnte nicht größer sein und so macht die Schilderung der eigenen Kindheits- und Jugenderlebnisse umso deutlicher, was an Ulrike so anders war, was faszinierte.

Sie könne sich sehr gut erinnern, sagt die Autorin während der Lesung, immer schon, auch weil sie als Kind viel allein war und Selbstgespräche führte: "Das mußt du unbedingt behalten, das darfst du nicht vergessen." Dieses Erinnern, aber auch frühes Schreiben habe ihr bei der Verarbeitung all der Ereignisse geholfen, auch jener, die sie und ihre Familie, wie die anderer Mitglieder der RAF, in Sippenhaft nahm, obwohl sie persönlich keine offene Repression erfahren habe. Trotzdem bleiben diese Erinnerungen durch die heutige Sichtweise der Autorin gefärbt, in manchen Passagen meint man, eher ihre eigenen Einlassungen zu erkennen als den Sprachduktus von Ulrike Meinhof:

"Man muss politisch eingreifen", erklärt sie (Ulrike Meinhof, Anm. d. Red.) im Auto, "wir haben die Pflicht dazu. Unsere Eltern haben es nicht getan und sind daran krank geworden. Unseren Kindern zuliebe müssen wir etwas gegen den Krieg tun, es ist ihre Zukunft, sie sollen noch leben können in dieser Welt. Uns sollen sie später nicht vorwerfen, dass wir nichts getan haben. Wir dürfen nicht weggucken."
(S. 85)

Anja Röhls Schilderungen umfassen den Zeitraum von ihrer ersten Begegnung mit der neuen Freundin des Vaters bis zum Tod Ulrike Meinhofs in Stuttgart-Stammheim am 8. Mai 1976. Mit dieser Nachricht, die eine tiefgreifende Zäsur auch im Leben Anja Röhls darstellt, beginnt und endet das Buch. Sie habe einen authentischen Mosaikstein zum Verständnis einer historischen Person beitragen wollen, so die Autorin bei der Lesung, sie habe das Buch nicht für sich geschrieben, sondern um Exemplarisches deutlich zu machen. Daher sei die Nominalform, das Schreiben von sich in der 3. Person, bewußt gewählt.

Die Erfahrung von Demütigungen, sinnlosen Reglements und drakonischen Strafen, die nicht selten noch die Handschrift nazistischer Erziehungsideale trugen, das Leiden unter Erholungsheimaufenthalten, verordnet zum Wohle benachteiligter Kinder, die gesellschaftliche Ächtung der alleinerziehenden Mutter, die mangelnde Zuwendung der Eltern, die eher mit sich selbst beschäftigt waren, das Ertragen einer sexuellen Befreiung, die sich meist auf Kosten und zu Lasten junger Mädchen und Frauen ereignete, teilt Anja Röhl mit vielen Frauen ihrer Generation.

Die Erinnerungen daran sind aus kindlicher Sicht formuliert, in kurzen Sätzen, bisweilen in einer Nüchternheit und Klarheit, die wir oft nur von Kindern kennen und in scheinbar unzusammenhängenden Assoziationen, die als Flucht aus der Qual der Situation gedeutet werden können, schonungslos, traurig, angstgeprägt, aber auch voller Sehnsucht:

"Wenn jemand nicht essen will, müssen wir ihn wohl füttern", sagt die Erzieherin, sie nennen sie Tante. [...] Die Tante stopft dem Kind dickes, mehliges Mus in den Mund. Das Kind sammelt es in den Backen und kann nicht schlucken. Die Tante stopft. Das Kind muss würgen. Schließlich schluckt es, aber es ist nicht schnell genug. Immer weitere Löffel stopft ihr die Tante in den Mund. Tränen kommen. Endlich ist der Teller leer. Das Kind läuft zur Toilette, beugt sich über die Schüssel und übergibt sich. Das Hochgewürgte schmeckt bitter und kratzt im Hals. Aus dem Fenster sieht man eine Bahn, silbern mit roten Türen.
(S. 38)

Anja Röhl wächst in Hamburg-Barmbek auf, wohin die Mutter nach der Trennung von Klaus Rainer Röhl, Begründer des Polit- und Sexmagazins Konkret, zieht. Die Mutter ist berufstätig, das Kind viel allein. Mit fünf begegnet sie der neuen Freundin des Vaters zum ersten Mal, ein für Anja Röhl zutiefst beeindruckendes Erlebnis. Ulrike Meinhof ist die erste Erwachsene, von der sie sich ernstgenommen fühlt, die ihr zuhört, sie zum Widerspruch und zur eigenen Meinung ermutigt, die ihr wirklich etwas zu sagen hat. Sie "erlebt es wie ein großes Wunder, dass sich eine Erwachsene so eingehend mit ihren Angelegenheiten beschäftigt." (S. 107)

Bei Ulrike Meinhof und den beiden Halbschwestern, die 1962 geboren werden, findet Anja Röhl ein zweites Zuhause, als 'große Schwester' geliebt, als Bezugsperson von Wichtigkeit. Ulrike spricht mit ihr auf Augenhöhe, auch über die Schwierigkeiten mit dem Vater, über Rechte, die ein Kind hat oder haben sollte, in ihrem Haus erfährt sie von gesellschaftlichen Problemen und Mißständen, gegen die die Kolumnistin von Konkret anschreibt. Ulrike ermutigt sie zum Widerstand und zum eigenen Denken. Wer das Glück hatte, als Kind oder Jugendlicher einen Erwachsenen zu haben, der nicht Vater oder Mutter war, dem man sich ohne Angst vor Sanktionierung und moralischer Zurechtweisung anvertrauen konnte, weiß, wie prägend solch ein Kontakt sein kann.

Trotzdem bleibt die Kindheit und Jugend Anja Röhls bedrückend. Einsamkeit, Unverstandensein, der Bruch von Freundschaften, Gefühle von Ausgrenzung, erste sexuelle Erfahrungen voller Fremdbestimmheit, Beziehungen, die eher aus Not und Konvention denn aus Zuneigung geboren sind, geprägt von dem immer wieder scheiternden Versuch, die Erwartungen anderer zu erfüllen statt sich auf die Suche danach zu machen, was man selber will. Der Satz "Ich will nicht!, denkt sie, kann es aber nicht sagen." (S. 93) durchzieht wie ein roter Erlebnisfaden das ganze Buch, obwohl er so nur einmal drinsteht.

Den Vater erlebt 'das Kind' sehr widersprüchlich, mal lustig und großzügig, meist unzuverlässig, was die Versprechen zu gemeinsamen Unternehmungen betrifft, oft übergriffig, gerade auch in sexueller Hinsicht, wobei er auch vor Schulfreundinnen nicht halt macht, dann wieder reumütig, weinerlich, voller Selbstmitleid. Auch im Umgang mit ihm war Ulrike eine Hilfe. Sie habe den Vater beeinflußt, ihm deutlich gemacht, daß Schlagen nicht sinnvoll sei und ihm immer wieder gesagt, daß er die Kinder nicht so aufsexualisieren solle - das Wort Mißbrauch gab es damals noch nicht, auch keine öffentliche Diskussion um Pädophilie - und daß er eine Therapie machen solle, um seine eigene Kindheit aufzuarbeiten.

Wegen ihrer Nähe zu Ulrike wird sie nach deren Gang in den Untergrund im Hause Röhl diskriminiert, der Kontakt zu den Zwillingen reißt ab, der zu Ulrike bleibt, auch während der Haft. Anja Röhl besucht Ulrike Meinhof im Gefängnis, unter schwierigen und belastenden Bedingungen, ein neuer Briefwechsel entsteht unter der Zensur. Es gibt Gespräche, auch solche, bei denen sie Ulrike Meinhof nicht folgt:

Guerilla in den Metropolen sei übrigens kein individueller Terrorismus, dazu solle die junge Frau ruhig "endlich" mal was lesen: Die RAF-Papiere zum Beispiel, Fanon und andere. Aber die junge Frau will sich nicht so agitieren lassen. (S. 139)
Zu den politischen Fragen, die Ulrike anschneidet, nimmt sie nur wenig Stellung, denn sie fühlt sich nicht in der Lage, das, was Ulrike mit ihren Genossen getan hat, zu beurteilen. [...] Für sie ist Ulrike kein RAF-Mitglied. [...] Was Ulrike denkt und tut, das muss sie deshalb nicht auch gut finden, dazu kann sie ruhig eine eigne Meinung haben, das hat Ulrike ihr immer gesagt.
(S. 133)

Zunehmend entwickelt Anja Röhl ihr eigenes Leben, die Kontakte werden seltener, brechen dann ganz ab. Mit 18 geht sie nach Berlin, wird selbst politisch aktiv, in der Anti-AKW-Bewegung, im Betriebsrat des Krankenhauses, in dem sie arbeitet. "Die junge Frau ist gegen Kriege, gegen Atomwaffen und gegen Atomkraft, gegen Profite für wenige und Armut für viele. Sie ist für Gerechtigkeit", beschreibt sie ihr Politikverständnis. (S. 123)

Der kindliche Schreibstil - einfache, kurze Sätze, heruntergebrochene Zusammenhänge - bleibt bis zum Schluß. Was bei 'dem Kind' noch glaubhaft ist, bei 'dem Mädchen' noch angehen mag, bewahrt die indessen erwachsene Autorin ebenso wie ihre Leser offensichtlich vor einer zweifellos konsequenteren Auseinandersetzung mit der ganzen Person Ulrike und ihrer gesellschaftspolitischen Lebenswirklichkeit ebenso wie vor der hinreichenden Würdigung jener historischen Umstände, aber auch der zeitlosen Qualität der Taten und des Denkens von Ulrike Meinhof.

Die Rezensentin kann sich deshalb auch kaum des Eindrucks eines allzu leichtfüßigen Verzichts auf den möglichen Aufklärungsgehalt und die Tiefendeutung der in diesem Buch reflektierten Zeitzeugenschaft erwehren. Die in dieser Hinsicht geradezu nabelscheue Autorin wird gewiß deshalb manchen Leser in seinen Hoffnungen und Erwartungen punktsicher enttäuschen oder gar frustrieren.

Trotzdem bleibt das Buch von Anja Röhl lesenswert, gerade weil es aus der ganz persönlichen Begegnung mit Ulrike Meinhof deren Einstellung und Motivation für ihre politische Radikalität erhellt, die sie mit vielen anderen ihrer Zeit verbunden hat. Das Publikum bei der Lesung am 7. April jedenfalls, vorwiegend Frauen und viele aus derselben Generation wie die Autorin, konnte die eigene Kindheit und Jugend und die eigenen frühen Sympathien für Ulrike Meinhof spürbar wiederfinden.


Ein ausführliches Interview mit Anja Röhl gibt es unter
Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT
INTERVIEW/008: Mutter Meinhof - Im Spiegel der Erinnerung, Anja Röhl im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0008.html

24. Mai 2014


Anja Röhl
Die Frau meines Vaters - Erinnerungen an Ulrike
Edition Nautilus
Hamburg 2013
Gebunden, 160 Seiten,
18,00 Euro
ISBN 3894017716