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REZENSION/030: Klaus-Rüdiger Mai - Martin Luther, Prophet der Freiheit (Christiane Baumann)


Klaus-Rüdiger Mai


Eine Reise ins Herz unserer Zeit: Martin Luther - Prophet der Freiheit.

Rezension der Romanbiografie von Christiane Baumann




Martin Luther geht es wie Richard Wagner: Man ist geneigt anzunehmen, er sei "auserzählt", um dann plötzlich überrascht festzustellen, dass Entdeckungen immer wieder möglich, aber vor allem notwendig sind. So gelingt es dem Bestsellerautor Klaus-Rüdiger Mai nach seiner überaus erfolgreichen Familiengeschichte "Die Bachs" in seiner jüngst erschienenen Romanbiografie "Martin Luther. Prophet der Freiheit", den Lesenden auf eine Entdeckungsreise in Luthers Leben und Zeit mitzunehmen, die überraschende Perspektiven auf Heutiges eröffnet. Im Spiel mit Fiktion und Authentizität, dabei immer genau recherchierend, wird Luthers Leben plastisch und präzise in seiner Zeit verortet und von diesem Standort aus neu erzählt. Mit einer bestechenden Logik entwickelt Mai aus der biografischen Erzählung Luthers theologisches Denkgebäude, das - man begreift es plötzlich - unweigerlich zu seinen 95 Thesen und zur Reformation führen musste. Dabei erweist sich sein Weg von der Scholastik zur geistigen Freiheit als ein kontinuierlicher Prozess, getrieben von der Frage, wie man in der Welt leben soll, nicht als plötzliche Erleuchtung, wie im Mythos des Turmerlebnisses überliefert. Mai fragt konsequent nach den Prägungen durch Elternhaus, Schule, nach historischer Hintergrundfolie und Zeitgeist und wagt eine Psychologisierung des Menschen Luther, das heißt, eine Annäherung an seine Gedanken- und Gefühlswelt, aus deren Blick heraus die Welt des Reformators entsteht. Indem er den Menschen Luther näher bringt, seine Ängste und Zweifel, sein Ringen mit sich und der Welt reflektiert, wählt er einen neuen, ungewöhnlichen Zugang.

Im Elternhaus in volkstümlicher Frömmigkeit erzogen und geprägt von seinem Vater, der es wagte, in der gerade entstehenden Montanindustrie als freier Unternehmer sein Glück zu suchen und es mit glücklicher Hand fand, wurde Martin Luther als ältestem Sohn ein Bildungsweg eröffnet, der ihn letztlich als Jurist wieder in den Dienst der Familie zurückführen sollte. Bildung bedeutete für den Vater gesellschaftlicher Aufstieg. So kommt Martin nach Magdeburg zu den Brüdern vom gemeinsamen Leben, um Bildungsrückstände aufzuholen. Letztlich werden in dieser Zeit die Grundlagen für Luthers theologisches Denken gelegt, erwirbt er in Magdeburg doch das Rüstzeug für seinen später konsequent angewandten philologischen Zugriff auf Quellen und Bibeltexte. Es folgen als Stationen Eisenach und schließlich Erfurt als Studienstätte. Nachdem er der Welt "erstirbt", ins Kloster geht, um Augustinermönch zu werden und sich damit dem Willen des Vaters widersetzt, beginnt Luther seinen Weg zum intellektuellen Glauben, der geradezu atemberaubend und rasant ist. Luther ist ein akademischer "Durchstarter" und damit eine Provokation für die Gemeinschaft der Mönche. Somit kann es nicht verwundern, dass er die Auswüchse der Diktatur des Mittelmaßes, die ungeahnte Blüten treiben, erlebt.

Die Kernfrage, mit der sich Luther zunächst auseinandersetzt, lautet: "Was kann ich wissen und was muss ich glauben?" Wissenschaft und Religion gehen eine Symbiose ein, in der sich letztlich das Subjekt in "einer berstenden Welt" aus allen Fesseln des konventionellen Denkens befreit. Die Frage nach dem richtigen Leben kulminiert schließlich in der Erkenntnis, dass Freiheit bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Die Gnade Gottes, aus dem Glauben heraus und durch ihn gerechtfertigt zu leben, bedeutet frei zu sein gegenüber allen weltlichen Autoritäten, bedeutet eine Emanzipation, die Luther auch nach außen in der Veränderung seines Namens sichtbar macht: Aus Martin Luder wurde im November 1517, wenige Tage nach dem Thesenanschlag in Wittenberg, Martin Luther, vom griechischen eleutheros - der Freie - abgeleitet. Die Wahrheit war in Gott und nicht in Rom, dem neuen Babylon, zu finden. Seine Reise in das Machtzentrum der Kirche, in dem Laster und Sünde eine Heimstatt hatten, bedeutete insofern eine Initialzündung: Reformen taten Not. Der "Ablass-Schabernack" brachte schließlich das Fass zum Überlaufen, war es doch aus Luthers Sicht nicht mehr als eine "Lizenz zum Sündigen", denn nicht die Sünde, sondern die Angst vor der Strafe hatte man zu fürchten. Das war mit Luthers Theologie, mit seinem Glauben und seinen Wertvorstellungen, nicht vereinbar. Dass das Geschäft mit dem Ablass dazu diente, die Kassen Roms zu füllen, dass anstatt theologischer Grundsätze hier rein wirtschaftliche Interessen bedient wurden, konnte er nicht durchdringen, wodurch er die Explosivität und Brisanz der Frage verkannte und vor allem unterschätzte. Damit sind Dreh- und Angelpunkte benannt, die Mai in den Mittelpunkt seiner Biografie stellt. Es ist nicht der Familienmensch oder Ehemann Luther, um den es geht, sondern dem jungen, dem politisch denkenden und rebellierenden Luther und seinem Bildungsweg zum Reformator wird nachgefragt. Klaus-Rüdiger Mai zeichnet sensibel und glaubhaft nach, dass Luther in Worms keineswegs heroisch seine Interessen und seinen Standpunkt vertrat, sondern zweifelnd und im vollen Bewusstsein der Gefahr, als Ketzer auf dem Scheiterhaufen zu landen, es ablehnte zu widerrufen. Die Kraft dazu fand er in seinem Wissen, in seiner genauen Kenntnis der Bibel, denn er hatte den Mahnspruch des Theologen und Philosophen Hugo von Sankt Viktor befolgt: "Lerne alles; später wirst du einsehen, dass nichts überflüssig ist. Beschränktes Wissen bringt keine Freude." Es machte Luther wütend, dass Männer ohne Bildung und Wissen Macht ausüben durften. Bei alledem kommt Luther jedoch nicht als Rebell daher. Mais Reformator ist vielmehr ein mitteldeutscher Querkopf, ein nach Erkenntnis Suchender und insofern ein moderner Mensch, der erstarrte Denkmuster hinterfragt und aufbricht. Indem Mai dieses Infragestellen, diesen Erkenntnisprozess nachzeichnet, zwingt er gleichermaßen zum Überprüfen heutiger Normen und Wertvorstellungen.

Beschränktes Wissen bringt keine Freude! Wer sich darauf einlässt, dem wird Klaus-Rüdiger Mais "Luther" zum Lektüreerlebnis. Seine Romanbiografie lebt durch das akribische Beschreiben von kirchlichen Zeremonien und Ritualen ebenso wie durch die Vielzahl literarischer und historischer Bezüge, die Kunstgrößen von Boccaccio bis Vergil einschließt. Natürlich dürfen auch Hinweise auf Bach und Donato Bramante, den ersten Bauleiter am Petersdom in Rom, über den sein 2010 erschienener Roman "Die Kuppel des Himmels" erzählt, nicht fehlen. Insofern breitet seine Romanbiografie ein vielfältiges kunst- und religionsgeschichtliches Geflecht aus, das über Luthers Begegnungen und Berührungen weit hinausreicht. Damit fügt sich der "Luther" harmonisch in das Oeuvre des Autors, das neben Sachbüchern über die Bachs oder Benedikt XVI., religions-historische Bände wie "Der Vatikan. Geschichte einer Weltmacht im Zwielicht" oder "Die Geheimen Religionen" umfasst. Dass er unter zwei Pseudonymen (Sebastian Flemming und Nicholas Lessing) spannende historische Romane und Krimis verfasst, lässt auch sein Luther-Buch erahnen. Nach dem Einstiegskapitel, Luthers letzte Reise erzählend und eine politische Mission, die ihn nach Eisleben führt, wo er schließlich stirbt, das schwere Kost und für den Lesenden eine Zumutung im besten Wortsinn, nämlich im Sinne einer unerhörten Herausforderung, ist, entwickelt er einen Spannungsbogen im Netz von Intrigen, Verschwörungen und Ränkespielen aus denen der Stoff für erfolgreiche Thriller gemacht ist.

Bleibt die Frage, was uns dieser Luther im Zeichen des Reformationsjubiläums 2017 zu sagen hat. Luther lebte in einer Zeit, in der Weltliches und Christliches noch eine Einheit bildeten, jede kirchliche Tat zugleich eine politische war. Hier setzt Mai an und lädt ein, zu den Quellen zu gehen, so wie Luther es einst tat. Indem er sich mit den Quellen, Luthers Schriften, auseinandersetzt, kann er aus dem historischen Wissen heraus, einen hochaktuellen, unseren Luther erstehen lassen, der - im digitalen Zeitalter, das dem Menschen jedwede Individualität zu rauben droht und Informationen zur einzigartigen Gewinnquelle macht, in Zeiten des Konsumterrors, der sich anschickt, die Suche nach dem Ich im Mainstream versanden zu lassen, in einer Zeit, die Korruption systematisch hoffähig macht und die Globalisierung zum Schwert werden lässt, mit der sich jedwede sozialen Einschnitte sanktionieren lassen - die Frage nach Gott oder Götzen stellt. Es geht um nicht weniger als um die Verteidigung menschlicher Verantwortung und Humanität, die aus der Freiheit des Subjekts ebenso ersteht wie aus der Vielfalt der Regionen in einem Haus Europa, das aus seiner kulturgeschichtlichen Tradition heraus, also von Dante, Vergil, Bach, Bramante, Luther oder Cervantes, zu begreifen ist. Mai widersetzt sich einer musealen Auseinandersetzung, die Luther des Antisemitismus verdächtigt, anstatt seine Haltung gegenüber den Juden als das zu begreifen, was sie war: eine antijudaistische, die fernab jeder rassistischen Nuance, auf die Religionszugehörigkeit zielte und jedwede Verfolgung Andersdenkender oder besser -glaubender ausschloss. Insofern ist Mais erstes Romankapitel, das die Aufmerksamkeit auf die Begegnung Luthers mit den Juden von Rißdorf lenkt, eine Kampfansage und eine Mahnung, den Weg zum Luther-Jubiläum 2017 als gedanklichen Erneuerungsprozess zu nutzen, das heißt, Luther jeder musealer und historisierender Sicht zu entziehen und ihn als modernen Denker zu begreifen. Dieser Intention ist auch sein sorgfältig ausgewähltes, umfangreiches Literaturverzeichnis verpflichtet. Mais Luther ist ein menschlicher, ein dem Leben zugewandter Reformator, der uns nachdrücklich auffordert, über uns und unsere Stellung in der Zeit nachzudenken. Die Biografie ist insofern eine Provokation, so wie Luther in seiner Zeit eine Provokation war. Nehmen wir sie an, auf dass unser "Herz einen Sprung" macht!

19. Dezember 2014

Klaus-Rüdiger Mai
Martin Luther - Prophet der Freiheit
Romanbiografie
KREUZ VERLAG, Freiburg im Breisgau, 2014
447 S.
22,00 Euro
ISBN 978-3-451-61226-8

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Quelle:
© 2014 by Dr. Christiane Baumann
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2014


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