Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → FAKTEN

BERICHT/016: Wissen zum Nulltarif? - Lexika und Internet (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2008

Wissen zum Nulltarif?
Lexika und Internet

Von Rudolf Walther


Im Februar kündigte die Firma F. A. Brockhaus an, dass die 2005 präsentierte 21. Auflage des Brockhaus vorerst die letzte gedruckte sein wird. Am 15. April sollte das Lexikon vollständig und gratis ins Internet gestellt werden. Diese Entscheidung hat der Verlag inzwischen zurückgenommen, weil sich offenbar neue geschäftliche Perspektiven ergeben haben. Doch ob die gedruckte Ausgabe nun eingestellt wird oder nicht - es ergeben sich ein paar grundsätzliche Fragen zur Zukunft der Lexika im Internet-Zeitalter.


*


Angefangen hat das Jahrhundertunternehmen klein. 1808 kaufte Friedrich Arnold Brockhaus (1772-1823) für 1.800 Thaler das "Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten", mit dem Renatus Gotthelf Löbel und Christian Wilhelm Franke 1796 begonnen hatten. Drei Jahre später verlegte Brockhaus das Geschäft von Leipzig nach Altenburg, wo er - seit 1814 unter den Namen "F.A.Brockhaus" - Konversationslexika druckte. Aus den zunächst sechs Bänden wurden schnell zehn. Bereits von der 5. Auflage (1818/20) verkaufte Brockhaus 32.000 Exemplare. Das Bildungsbürgertum schuf sich mit den Lexika von "Brockhaus", "Meyer", "Pierer" und "Herder" seine Bildungsmonumente - im Guten wie im Schlechten.

Einige Beispiele: Die erste Auflage von Meyer (1839-1855) umfasste 46 Bände, war demokratisch inspiriert und hatte eine riesige Auflage. Mit komplizierter Syntax und in Watte verpackten Begriffen (z.B. "Grundgewalt" statt "Volkssouveränität") schmuggelten Meyer und Brockhaus Kerngehalte der Französischen Revolution an den Zensurbehörden vorbei in die Köpfe vieler Bildungsbürger. Über Bern berichtete Meyer damals, dass man "dort schon im Jahre 1836 einen Juden, den als Anatom ausgezeichneten Valentin aus Breslau, an der Universität angestellt und ihm kürzlich (1850) das Bürgerrecht erteilt" habe. Zwischen 1936 und 1942 erschien in neun Bänden die 8. Auflage des jetzt tiefbraun eingefärbten Lexikons von Meyer, in dem z.B. Heinrich Heine bezichtigt wurde, "traditionelle und blutmäßige Gebundenheit" durch "jüdisch-orientalische Artung" ersetzt zu haben. Für den Brockhaus von 1952 existierte die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 nicht.

Das Konversationslexikon verdankt seine Entstehung einer historischen Konstellation, die sich heute im Zeichen von Internet und elektronischer Revolutionierung der Kommunikation zu wiederholen scheint. Jetzt wächst das Wissen noch schneller. Das gedruckte Konversationslexikon könnte endgültig verschwinden. Auch die Konstellation in der Entstehungszeit des Konversationslexikons um 1810 war geprägt durch ein ökonomisches Kalkül und ein konzeptionelles Dilemma. Ökonomisch gesehen sind die Konversationslexika des 19. Jahrhunderts die Erben der Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts. Diese Universallexika waren bereits von ihrem Umfang, intellektuellen Anspruch und Preis her nicht für ein breites Publikum bestimmt. Sie beanspruchten, das gesamte verfügbare Wissen ihrer Zeit zu sammeln. Aus diesem enzyklopädischen Geist entstand Johann Heinrich Zedlers 68 Bände starkes 'Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste' (1732-1754). Denis Diderot und Jean Le Rond d'Alembert brachten die 35 Bände der 'Enyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers' (1751-1780) in 29 Jahren heraus. Dieses Werk, das den Anspruch alles Wissen zu versammeln bei weitem nicht erfüllte, war ein Riesengeschäft - zwar nicht für Diderot und seinen Mitarbeiter Louis de Jaucourt (1704-1780), aber für die Drucker.

Ein konzeptionelles Dilemma dieser Enzyklopädien entstand, weil sich das Wissen durch wissenschaftliche und technische Fortschritte - viele verbunden mit der industriellen Revolution - extrem schnell veränderte und vermehrte. Als Zedlers Universallexikon aktualisiert werden sollte, merkten die Lexikografen bald, dass sich das Wissen viel schneller vermehrte und veränderte, als sie arbeiten und drucken konnten. Ehrgeizige Unternehmen wie die 'Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste' wurden mit dem 167. Band beim Buchstaben P eingestellt.

Das Projekt der Enzyklopädisten, alles gültige Wissen aktuell zu bündeln und zu drucken, erwies sich als praktisch und ökonomisch unausführbar. Es gab zwei Auswege aus diesem Dilemma: Man konnte den umfassenden enzyklopädischen Anspruch aufrechterhalten, aber sich auf einzelne Fach- bzw. Wissensgebiete beschränken. Diesen Weg ging die 'Oeconomische Encyclopädie (1773-1858). Aber auch dieser Ausweg endete in einer Sackgasse: Mit dem 242. Band erreichte sie den Buchstaben L und wurde abgebrochen.

Einen anderen Ausweg beschritt der Kaufmann Brockhaus mit seinem Lexikon. Er wollte, nicht anders als seine Konkurrenten, nicht mehr alles Wissen sammeln, sondern nur das für gepflegte Gespräche unter gebildeten Zeitgenossen notwendige Wissen - daher der Name "Konversationslexikon". Und Brockhaus machte auch eine einfache ökonomische Rechnung auf: von den 100 Millionen deutschsprachigen Europäern waren ihm zufolge 75 Millionen Frauen, Kinder, Arme und Alte. Sie wurden als mögliche Käufer nicht in Betracht gezogen. Von den übrigen 25 Millionen sollte ein Viertel - also gut 6 Millionen Bildungs- und Besitzbürger - ein Lexikon kaufen, um "eine Art von Schlüssel" zu erwerben, mit dem sie sich "den Eingang in gebildete Zirkel" verschaffen konnten.

Die schwierige Frage, was zum Notwendigen gehörte und was nicht, wurde von den Konversationslexika zunächst ebenso fahrlässig beantwortet wie moralische und ästhetische, aber auch medizinische und politische Fragen, nämlich bieder-hausväterlich, vorurteilstrunken, dem Zeitgeist verhaftet. Leidenschaft zum Beispiel war für Brockhaus noch 1875 ein "nicht berechtigter Trieb", auch "etwas Krankhaftes, Unnormales, welches von der sittlichen Charakterbildung und der überlegenen Vernunft bekämpft werden muss". Während Männer, "stark im Handeln, Mitteilen und Befruchten", das Recht repräsentierten, galten Frauen jahrzehntelang als "Repräsentanten der Liebe, stark im Dulden, Empfangen und Gebären". Friedrich Engels, der weltläufige und gebildete Grandseigneur des Sozialismus, nannte Konversationslexika wegen solcher Abstürze "Eselsbrücken des deutschen Bildungsphilisters".

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Konversationslexika langsam, aber kontinuierlich, auf populäre Vorurteile und Zeigefinger-Pädagogik zu verzichten. Sie wurden wissenschaftlicher im Anspruch, sachlicher in der Diktion, orientierten sich an Aktualität, Objektivität, Selektivität und Präzision als den wichtigsten Grundanforderungen. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg sind aus den Konversationslexika, die das verfügbare Wissen zu popularisieren versuchten, wissenschaftlich fundierte Nachschlagewerke geworden. Dabei sind die erwähnten Grundanforderungen nicht immer leicht miteinander vereinbar. Die Aktualität kann die Objektivität gefährden, die Auswahl tangiert Aktualität und Objektivität, die Präzision ist mit Objektivitäts- und Auswahlproblemen verknüpft. Lexikografie war und ist somit ein Jonglierakt mit diesen vier Kugeln und auch ökonomisch ein riskantes Unterfangen.

Wissen vermehrt und verändert sich auch heute immer schneller. Die Erarbeitung der 19. Auflage des Brockhaus dauerte volle acht Jahre von 1986 bis 1994. Für die 20. Auflage wurden erstmals Computer und Datenbanken eingesetzt, was die Bearbeitungszeit auf dreieinhalb Jahre verkürzte. Die im Herbst 2005 erschienene 21. Auflage wurde in etwas mehr als einem Jahr hergestellt.

Trotzdem meinte der 'Zeit'-Redakteur Dieter E. Zimmer schon vor acht Jahren, gedruckte Enzyklopädien hätten ausgedient und setzte auf elektronische Lexika, die stündlich aktualisiert werden könnten. Angesichts von Wikipedia hat sich solche Cyber-Euphorie allerdings nachhaltig relativiert. Das Online-Lexikon ist zwar unendlich viel schneller und umfangreicher als Brockhaus; aber Wikipedia organisiert nicht Wissen, sondern zerstückelt es in ein ebenso wirres wie verwirrendes Labyrinth von Wissenspartikeln und Verweisen, während die Lexikografen bei Brockhaus das unübersichtlich-chaotische Expertenwissen zu konsistenten Informationseinheiten verdichten.

Im Vergleich mit Brockhaus sind viele Beiträge bei Wikipedia orthografisch, grammatisch und stilistisch eine Zumutung. Diesem Missstand wird jetzt zwar begegnet, aber die Vielzahl von Verweisen wurde nicht angetastet. Auch Zuverlässigkeit und Objektivität von Wikipedia stehen immer wieder zur Debatte. Viele Artikel enthalten tendenziöse, schlicht falsche oder nicht überprüfbare Informationen.

Natürlich muss man den Brockhaus nicht bis ans Ende der Zeiten in Buchform im Regal stehen haben. Aber auch der Gratis-Online-Brockhaus muss aus der Masse des täglich neu entstehenden Wissens das Wichtige auswählen, benutzerfreundlich ordnen und das veraltete Wissen so behutsam eliminieren, dass keine kulturellen Brüche entstehen. Das kostet Geld und kann nicht Gratis-Mitarbeitern überlassen werden, wenn das Qualitätsniveau von Brockhaus gehalten werden soll.

Nur eine aberwitzige Ideologie kann glauben machen, kompetent organisiertes Wissen sei dauerhaft zum Nulltarif zu haben. Solange die Finanzierung von Gratis-Online-Lexika durch Werbung nicht funktioniert, ist mit Qualitätsverlusten zu rechnen, d.h. mit einem Schmalspur-Brockhaus. Wenn der gedruckte Brockhaus verschwindet, drohen nicht Weltuntergang oder barbarische Ignoranz. Aber kulturell wie politisch erstrebenswert ist nicht eine Angleichung von Brockhaus und Wikipedia, sondern die Gleichzeitigkeit zweier Medien: eines auf dem Niveau von Wikipedia und ein Online-Lexikon von brockhauswürdigem Format. Es geht nicht nur um die schnellste Registrierung des neuesten Wissens, sondern auch um die zuverlässige Sicherung des vergangenen und veralteten Wissens. Das Überleben einer kulturellen Institution wie Brockhaus zu sichern, kann nicht privatwirtschaftlicher Initiative allein überlassen werden, es ist eine kulturpolitische Aufgabe von Gewicht.


Rudolf Walther (*1944) ist Historiker und freier Publizist. Er arbeitet für schweizer und deutsche Zeitungen und lebt in Frankfurt/M.
rudolf.walther@t-online.de


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2008, S. 68-71
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 93 58-19, -20, -21
Telefax: 030/26 93 58-55
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de

Die NF/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2008