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BERICHT/027: Das Papier und die moderne Welt (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2011

Stiller Teilhaber
Das Papier und die moderne Welt

Von Lothar Müller


Im Stimmengewirr medialer Prognosen tauchen refrainartig einige Begriffspaare auf: "Print" und "Online", "Buch" und "Netz", "analog" und digital". Diese Paare sind einander in herzlicher Opposition verbunden, absolvieren einen öffentlichen Auftritt nach dem anderen, und wenn man sie fragt, was sie so auf Trab hält, dann sagen sie: "die tiefgreifendste Medienrevolution seit Gutenberg". Leicht wird dabei die Rolle des Papiers übersehen.


Warum eigentlich löst, wenn der Lautsprecher des Computers eingeschaltet ist, das Verschieben einer Textdatei in den Papierkorb ein deutlich hörbares Rascheln aus? Und warum heißt der Papierkorb, in dem die elektronische Datei verschwindet, überhaupt Papierkorb? Die naheliegende Antwort ist: weil neue Technologien dazu neigen, Mimikry mit den älteren zu betreiben, die sie ersetzen. Das elektronisch erzeugte Rascheln hört sich jedenfalls an wie eine Reverenz an das Zusammenknüllen von analogem Papier. Doch wie höflich die akustische Maske sich auch gibt, dass das elektronische Papier sie aufsetzt, ist wohl eher eine Geste der Verabschiedung. Sie hilft dem Monitor oder Display, zum neuen Vertrauten des Schreibenden zu werden. Das weiße Blatt, das er noch vor einer Generation in die Schreibmaschine einspannte, überlebt als Icon in der Befehlsleiste des Textverarbeitungsprogramms.

Tagtäglich hören und lesen wir derzeit von solchen Verabschiedungen, großen und kleinen. An Zukunftsprognosen, düsteren wie euphorischen, herrscht kein Mangel. Sie handeln vom Aussterben der gedruckten Zeitungen oder vom Verschwinden der Handbibliotheken im iPad. Sie beschreiben, wie die ehemals analogen Speichermedien ihre feste Gestalt verlieren und wie sich die Software der Texte und Töne, Fotos und Filme auf einer stetig wachsenden Palette multifunktionaler Hardwaregeräte abrufen lässt.

Ob derzeit einer die mediale Zukunft begrüßt oder ob er vor ihr warnt - das Bild der medialen Vergangenheit bleibt davon unberührt. Sie heißt: Gutenberg-Welt, trägt also den Namen des Mannes, der den Druck mit beweglichen Lettern im fein tarierten technologischen Zusammenspiel von Holz, Metall, Pergament oder Papier in die Welt gebracht hat. Der perspektivische Fixpunkt, von dem aus wir die Medienrevolution der Frühen Neuzeit wahrnehmen, ist das gedruckte Buch. Die Bibeln, die in der Werkstatt Gutenbergs entstanden, haben im 15. Jahrhundert die neue Erfindung mit dem Prestige des Buches der Bücher umgeben. Und die in allen möglichen Formaten gedruckten Bibeln in der Übersetzung Martin Luthers haben im 16. Jahrhundert, als die Heilige Schrift zur Berufungsinstanz des Protestantismus wurde, zur kulturellen Durchsetzung der neuen Technologie beigetragen. Das gedruckte Buch, der moderne Autor und die ins Unendliche anschwellende Universalbibliothek stehen im Zentrum unserer Wahrnehmung der Gutenberg-Ära. Die Flugschriften, die Kalender, der viele Alltags- und Kleinkram des Gedruckten, der das Buch umspülte, hat ihm seine Rolle als Zentralgestirn der Gutenberg-Welt niemals streitig machen können.

Auch Gutenberg betrieb Mimikry mit dem alten Medium, das er herausgefordert hatte. Die Seiten seiner Bibeln sahen, ob auf Pergament oder Papier gedruckt, den handgeschriebenen Bibeln der hoch entwickelten mittelalterlichen Schreiberkultur täuschend ähnlich. Für den Takeoff massenhafter Reproduktion der Bücher war aber entscheidend, dass die Druckwerkstätten nicht auf den aus dem Mittelalter überkommenen Schreibstoff Pergament beschränkt blieben, sondern auf das modernere Papier zugreifen konnten. Die von der Erfindung Gutenbergs in Gang gesetzte Medienrevolution war also, recht besehen, eine Medienfusion. Sie schloss das Papier und die Druckerpresse so eng zusammen, dass ihre beiden Elemente fortan meist als Einheit wahrgenommen wurden. Und zwar so gründlich, dass das eine Element, das Papier, irgendwann kaum mehr als eigenständiges Medium, sondern lediglich als Diener der Druckerpresse, galt.

So spielt im Werk des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan, der den Begriff der "Gutenberg-Galaxis" in die Welt setzte, das Papier nur eine Nebenrolle. Es ist für ihn vor allem das Benzin der Druckerpresse, das deren Karriere befeuert und sich vor allem dann bemerkbar macht, wenn der Nachschub ausbleibt. Nur die Druckerpresse entfaltet in McLuhans Welt mentalitätsprägende Kraft. Sie bringt den "typographic man", den Menschen des typografischen Zeitalters hervor, in den, was immer er auch liest, vor allem die Uniformität des Satzspiegels eingeht und damit auch der Geist der Rationalität. Das von Alphabet und Schrift konditionierte Auge dieses modernen Menschen entwickelt sich zum Zentralorgan der Weltwahrnehmung - und zum Einfallstor der Abstraktion.

Was aber, wenn wir mit Blick auf die Gutenberg-Welt den perspektivischen Fixpunkt austauschen und an die Stelle der Druckerpresse das Papier setzen? Dann ergibt sich sogleich ein anderes Bild. Denn dann treten die Druckerpresse und das Papier auseinander, der Blick löst sich von der Maschine, die ihren spezifischen Zweck auf ingeniöse Weise erfüllt, und fällt nicht mehr auf ein Ding, ein Gerät, sondern auf eine Substanz, die mit der Maschine nur gemein hat, dass auch sie Menschenwerk ist, kein Rohstoff, der auf Bäumen oder in der Erde wächst, sondern Produkt einer Technologie, der Stampfwerke und Bütten der europäischen Papiermühlen. Die Frühgeschichte des Papiers ist die eines Surrogats, das sich unentbehrlich zu machen versteht. Das Alphabet, die Schrift, das Buch, der Brief, die Schuldverschreibung, das Testament - all das war längst da, als das Papier seine Dienste anzubieten begann. Es begünstigte die Innovationen, denen es sich zur Verfügung stellte, eher, als dass es sie erzwang und wurde als stiller Teilhaber zu einer kulturellen Großmacht, einem Grundstoff der modernen Welt.

Als dereinst das Papier mit der Druckerpresse fusionierte, hatte es seinen Siegeszug längst angetreten: in der doppelten Buchführung der Kaufleute, aber auch in ihren weitgespannten Korrespondenzen, aus denen die handgeschriebenen Zeitungen erwuchsen, schon ehe sie zum Printmedium wurden; in den kommunalen Verwaltungen und den kaiserlichen Kanzleien, in denen das papiergestützte Aktenwesen das pergamentgestützte Urkundenwesen zu überwuchern begann, in den Kopierstuben der spätmittelalterlichen Universitäten und den Skriptorien der Klöster. Das Papier schloss im 15. Jahrhundert sein epochales Bündnis mit der Druckerpresse, aber es beschied sich weder zuvor noch danach damit, dem Alphabet und der Verschriftlichung zu dienen. Es bot sich erfolgreich den grafischen Künsten an, verband durch den Kupferstich Buch und Bild, nahm als Notenpapier die Notenschrift auf und wirkte so in die Musik hinein, stellte sich dem Formular und dem Telegramm, dem Theaterzettel und dem Plakat als Partner zur Verfügung. Und - was für die Herausbildung der modernen Welt nicht minder wichtig war als der Buchdruck - dem Geld und den Aktien. Ohne ein zentrales Element der europäischen Papiertechnologie, ohne die Kunst der Wasserzeichen, hätten die Notenpressen zur Produktion fälschungssicheren Papiergeldes nicht angeworfen werden können.

Kurz, das Papier war in der industriellen Moderne des Westens das multifunktionale, für jede Innovation zu habende Vernetzungsmedium zwischen Politik, Verwaltung, Ökonomie und Kultur. Weil wir durch die Standarderzählung über das Gutenbergzeitalter daran gewöhnt sind, das Papier allein aus der Zentralperspektive der Druckerpresse wahrzunehmen, neigen wir dazu, die aktuelle Medienrevolution in die Opposition von Buch und Netz zu zwängen, statt zu erkennen, dass viele Techniken der Digitalisierung in den Papiertechnologien der analogen Welt ihre Vorläufer haben. Man erkennt sie freilich erst, wenn man dem Zettel und Notizblock die gleiche Aufmerksamkeit zuwendet wie dem gebundenen Buch. Denn dann entpuppen sich Zettel und Notizblock als überaus leistungsstarke kleine Arbeitsspeicher, deren Bedeutung im Alltag nicht dadurch geringer wird, dass die meisten eher gelöscht als überliefert werden. Ähnelt nicht das Auge des exzerpierenden Gelehrten, der einem Begriff nachspürt und den Text dabei eher flüchtig scannt als Wort für Wort liest, einer Suchmaschine? Und gehört nicht die Kulturtechnik des Exzerpierens, die die gedruckten Bücher in ungebundenes Papier, in Handschriften zurückverwandelt, zur Vorgeschichte des Herunterladens von Dateien oder Dateifragmenten? Von den Hekatomben ungedruckter und ungebundener Papiere, die seit Jahrhunderten durch sie hindurchgegangen sind, ist die moderne Welt nicht weniger geprägt als von der Druckerpresse.

Wir würden sowohl unsere Übergangszeit wie die Mediengeschichte, auf die wir zurückblicken, besser begreifen, wenn wir uns von der starren Opposition von Buchkultur und Internet lösen. Und stattdessen beginnen würden, den Verbindungslinien nachzuspüren - zwischen den Kulturtechniken der Digitalisierung und denen der Papiertechnologie. Denn vorerst sind wir ja noch Zwitterwesen, die das Rascheln des analogen Papiers noch im Ohr haben, wenn sie das elektronische in den Papierkorb schieben. Wir sind diese Zwitterwesen, weil der "typographic man" schon immer einen Zwilling hatte: den Papiermenschen.


Lothar Müller (* 1954) ist Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung mit Sitz in Berlin und Honorarprofessor an der Humboldt Universität zu Berlin. Zuletzt erschien von ihm: Die zweite Stimme.
(lothar.mueller@sueddeutsche.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2011, S. 64-66
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2011