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BUCHBESPRECHUNG/067: Klaus Theweleit über das »Lachen der Täter« von Oslo bis Ostkongo (Ingolf Bossenz)


Breivik und seine Brüder

Klaus Theweleit über das »Lachen der Täter« von Oslo bis Ostkongo

von Ingolf Bossenz, Juni 2015


Der Kindermord des Herodes

Da Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, ward er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder zu Bethlehem töten und an seinen ganzen Grenzen, die da zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er mit Fleiß von den Weisen erlernt hatte. Da ist erfüllt, was gesagt ist von dem Propheten Jeremia, der da spricht: »Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört, viel Klagens, Weinens und Heulens; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Matthäus 2,16-18


Drei junge Frauen kriechen unter einem Berg Leichen hervor, von Kopf bis Fuß voller Blut. »Sie erzählten uns, wie die Angreifer riefen, dass sie zum Töten und Getötetwerden da seien, während sie alle Männer erschossen «, berichtet ein Sanitäter. Den Frauen sagen sie lachend, sie dürften im Blut baden. »Sie spielten noch eine Weile herum, genossen ganz offenkundig den Todesrausch.« Dann ziehen die Mörder weiter ...

Unter der Überschrift »Zynische Scherze vor dem Morden« verbreitete die Nachrichtenagentur AFP diese Details über ein Massaker der islamistischen Shabaab-Miliz auf dem Campus der Universität im kenianischen Garissa, bei dem kurz vor Ostern 147 Menschen starben.

Bestialischer Atavismus einer religiös-ideologisch aufgeheizten Mörderbande? Die Renaissance des Unmenschen im 21. Jahrhundert? War dieser je im Verschwinden begriffen? Und überhaupt: Un-Mensch? Gehörten und gehören das Schlagen, das Quälen, das Foltern, das Morden, das Massakrieren nicht zur unvermeidlichen, unvergänglichen Grundsubstanz alles Menschlichen?

Für den niederländischen Ethologen Nikolaas Tinbergen (1907-1988) war der Mensch ein aus den Fugen geratener Mörder. Fehlen dieser Spezies doch jene installierten Instinkthemmungen, die das Tier daran hindern, Artgenossen zu töten. Diese biologische Vakanz, so der Medizin-Nobelpreisträger, müsse der Mensch durch Vernunft und entsprechende soziale Maßregeln erst ausfüllen.

Doch, so ist zu ergänzen, nicht nur Bereitschaft, Drang und Wille zum Töten der Artgenossen sind dem Menschen eigen, sondern auch - was ihn definitiv von jedem (anderen) Tier abgrenzt - die Lust am Töten.

»Psychogramm der Tötungslust« nennt denn auch Klaus Theweleit (geboren 1942) im Untertitel sein jüngstes Buch, dessen Thema das »Lachen der Täter: Breivik u. a.« ist. Dass der Norweger Anders Behring Breivik, der am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya insgesamt 77 Menschen umbrachte, von denen er 69 aus nächster Nähe erschoss, titelgebend fungiert, überrascht zunächst. Denn Breivik hatte sich selbst von der ihn umgebenden Gesellschaft separiert, um seinen Verschwörungs- und Vernichtungsfantasien zunächst ein komplex-bizarres theoretisch-ideologisches Fundament zu geben, das er dann mit planvoller Präzision in eine grausame Maßlosigkeit überführte.

Was verbindet diesen megalomanen Massenmörder mit jenen Akteuren des kollektiven Massakrierens, die Theweleit aus den Tiefen und Untiefen medialer Berichterstattung der jüngeren und jüngsten Vergangenheit zutage fördert? Ostfront und Ostkongo, Vietnamkrieg und Irakfeldzug, Srebrenica und Ruanda, Abu Ghraib und Charlie Hebdo ... An Mord- und Gewaltplätzen, wo die Täter mit Lust, Laune und auch Lachen ihr Werk verrichteten und verrichten, war nie Mangel. Ku Klux Klan und Islamischer Staat, Wehrmacht und Rote Khmer, Kindersoldaten und GIs - der Tod ist ein Meister, der keine Nachwuchssorgen kennt.

»Das Heimweh nach der Barbarei ist das letzte Wort einer jeden Zivilisation.« Das genuin Anthropologische, das der Philosoph Emile Cioran (1911-1995) in diesem Diktum ebenso betont wie der Kultursoziologe Theweleit in seinen Büchern, mag marxistisch Orientierte irritieren. Indes: Krieg, Terror, kollektive Gewalt - der Kampf der Klassen, Schichten und Gruppen, ob staatlich oder korporativ organisiert, bleibt eine prägende Kraft für das Gewaltpotenzial jeder Gesellschaft.

Doch gerade die Einbindung des Einzelnen in dieses Gefüge einer überindividuellen Struktur entkleidet die gegenmenschliche Gewalt, das böse Bedrängen des Nächsten, der Profanität des gemeinen Verbrechens - »solange man sich als Teil einer Macht zeigen kann, über der keine andere ist auf Erden«, so Theweleit. Und für solche »Übertretung ins göttlich Kriminelle« stehen der »Tempelritter« Breivik ebenso wie die Folterknechte von Abu Ghraib, die Menschenzerhacker in Ruanda ebenso wie die SS-Einsatzgruppen an der Ostfront, die Kopfabschneider des IS ebenso wie die Lynchkommandos weißer Rassisten in den USA.

Das Berufen auf staatliche und/oder militärische Befehle, auf religiöse, rassische oder andere angeblich rechtfertigende Prämissen kann ein Potenzial freisetzen, dessen destruktive Dimensionen zwar differieren, denen aber ein Ziel zugrunde liegt: die Vernichtung des als Feind ausgemachten Anderen. Dass sich die Legitimität des Exekutierens und die Freude am Vollstrecken des selbst verhängten Todesurteils auch aus Fiktionalem speisen können, zeigt Breivik mit seiner Berufung auf eine angebliche weltweite, die christlichabendländische Kultur verteidigende »Bruderschaft«, in deren Namen er das Massaker an jungen norwegischen Sozialdemokraten verübte.

Und was Breivik als Einzeltäter und Ausnahmefall »erledigte«, »erledigen« in Krieg und Kriegszeiten Hunderte und Tausende als Normalfall. Denn, so Theweleit, »es sind immer ganz normale Männer, die das Killing übernehmen«.

Der Autor nimmt mit diesem Diktum Thema und Motiv seines 1977 erschienenen Monumentalwerks »Männerphantasien« auf, in dem er anhand von Freikorps-Literatur der 1920er Jahre faschistische Männlichkeits- und Gewaltfantasien psychoanalytisch, politisch, literarisch untersuchte. Dass ihn dieser Gegenstand nicht loslässt, ist angesichts des dazu tagtäglich wachsenden Materialberges wenig verwunderlich. Was die anthropologisch-ontologische Wucht des auch in seinem neuen Buch präsentierten Befundes verstärkt.

Theweleit verweist auf die Abgründe des Maskulinen unter den Bedingungen struktureller Gewalt. Abgründe des Möglichen, mit denen real zu rechnen ist, wenn der zivilisatorische Firnis abblättert. »Die zwischen >ganz normalen Männern< und >wilden Massenmördern< eingezogene Trennwand ist schlicht abzubauen. Es ist eine reine Selbstschutzwand. Das Morden und Massenmorden gehört zum >ganz normalen< Mann-Typ dazu - immer dort, wo die Schleusen geöffnet sind.«

Und nie sind die Schleusen weiter geöffnet als in Zeiten und an Orten, da exzessive Gewalt, Tod und Töten Alltag sind, da, wie Friedrich Nietzsche (1844-1900) über den »unentbehrlichen« Krieg notierte, »jener tiefe unpersönliche Hass, jene Mörder-Kaltblütigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisierende Glut in der Vernichtung des Feindes« regieren. Denn dann und dort ist laut Theweleit der erlaubte Mord »nicht der Ausnahmefall, er ist der diesen Gesellschaften zugrunde liegende Normalfall, der nur nicht ständig gilt. Der Normalfall des Tötens muss ausgerufen werden. Er ist dann sogleich und ohne alle Hemmungen da. ... sei das der Ostkongo, Afghanistan, Indien, das zerfallende Jugoslawien, Argentinien, Guatemala, Ruanda, Syrien, Irak, die Gefängnisse und Straflager der britischen wie amerikanischen Armee oder ihrer Geheimdienste; seien es Deutschland und Österreich, die bis vor siebzig Jahren einen Spitzenplatz in den erlaubten Ermordungs- und Ausrottungsaktionen einnahmen - exzessiv lachend; dann entspannt lächelnd.«

Dass Männer die Orgien der Gewalt, ob als Einzelpersonen oder kollektiv, dominieren, ist evident. Das faktisch völlige Ausblenden von Frauen innerhalb dieser Thematik geht indes auf die durch Theweleit und seine »Männerphantasien« geprägte Sicht auf die männliche Körperlichkeit und ihre Implikationen zurück. Was zu Erklärungen führt, die im weit gespannten Themenspektrum (Judenerschießungen im Zweiten Weltkrieg, Massaker an Kommunisten in Indonesien, Völkermord in Kambodscha u. a.) bisweilen merkwürdig banal-deplatziert wirken. Gewiss: Nicht nur das Böse ist oft banal, auch die Wege, die zu ihm führen, sind es nicht selten. So seien beispielsweise »insbesondere junge Männer mit der Empfindung einer gesellschaftlichen Ortlosigkeit, die im adoleszenten Alter immer mit einer körperlichen Unsicherheit einhergeht, ... massiv davon bedroht, in diesem Zustand körperlich zu fragmentieren. Wenn dann die Unsicherheit über den eigenen sexuellen Status hinzukommt, wenn noch eine Freundschaft bricht, eine Liebesbeziehung oder eine Vereinszugehörigkeit misslingt und bei der Gelegenheit noch >Du gehörst ja nicht hierher< ins Spiel gebracht wird, geht der schwache Boden unter den Füßen womöglich ganz weg.« Und das Fazit: »Diesen Zustand aufzufangen und zu bearbeiten, stehen offenbar >Prediger< bereit.«

Eine Variante, ein Weg, um in radikalen Zusammenhängen zu landen. Ein Fragment eines Gesamtbildes. Wie sich Theweleits Schrift insgesamt aus Fragmenten zusammensetzt, aus Versatzstücken, die verstellt, verschoben, ab- und umgebaut werden können. Ein heterogenes Text-Bild, aus dem sich ein ebensolches Welt-Bild schält. Ein Verfahren, das den Lesern - wie im »wirklichen Leben« - die eigene Formierung des Faktischen ermöglicht.

Das betrifft auch die Rolle des Religiösen bei der Genesis der Gewalt. Theweleit weist der Religion, namentlich dem Islam, zwar eine fördernde Funktion zu, relativiert diese aber deutlich: »Dass mit >Allahu Akbar< auf den Lippen gemordet wird, muss keineswegs mit >Religiosität< zu tun haben; so viel ist klar. Entscheidend ist vielmehr: dass die Täter damit nicht als Einzelverantwortliche morden, sondern in Berufung auf die übermächtige, schuldübernehmende >Großorganisation<.« Eine Sicht, die einzunehmen sich auch mit Blick auf die Funktion anderer »schuldübernehmender Großorganisationen« lohnt, in deren langen Autoritätsschatten übergriffige Gewalt geschieht. Auch hierzulande, wie jüngst gemeldete Attacken gegen Migranten durch Bundespolizei und Wachpersonal belegen.

Theweleit beschränkt sich auf eine durchweg deprimierende Diagnose. Therapievorschläge sind seine Sache nicht. Immerhin, seine finale Lakonik würde wohl, käme sie vom Dalai Lama, weise genannt werden: »>Lösungen< zeichnen sich nur da ab, wo die Haut der Andern - grundsätzlich und selbstverständlich - geachtet und verschont wird.«

Klaus Theweleit: Das Lachen der Täter:
Breivik u. a. - Psychogramm der Tötungslust.
Residenz Verlag St. Pölten.
248 S., br., 22,90 EUR.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Juni 2015
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 20./21.06.2015
https://www.neues-deutschland.de/artikel/975122.breivik-und-seine-brueder.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2015

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