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BUCHBESPRECHUNG/100: Reise nach Irgendwann (Sachbuch) (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 3/16 - März 2016

Physik
Reise nach Irgendwann

Rezension von Thorsten Naeser


Ein Astrophysiker schildert, was uns bei einer Tour in die Zukunft möglicherweise erwartet - und welche Gefahren sie birgt.


Was könnte die Welt in 100 Jahren von der heutigen unterscheiden? Beispielsweise, dass Menschen unter Wasser wohnen. Große Metropolen wie New York oder Hongkong erstrecken sich bis auf den Grund der angrenzenden Meere, erzwungen durch Überbevölkerung und Klimawandel. Die Menschen flanieren durch Unterwasserparks und Einkaufszentren, während über ihnen Fische schwimmen und Quallen treiben.

Dieses Szenario entwirft der Astrophysiker und Wissenschaftsautor Andreas Müller im vorliegenden Buch. Er erklärt darin die physikalischen Grundlagen der Zeitreise und schildert seine Visionen für die Zukunft. Zudem versetzt er den Leser in die Gemütslage der Menschen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten, und geht der Frage nach, ob diese sich eine vernünftige Vorstellung von unserer Gegenwart hätten machen können.

Müller ist kein Fantast. Bereits am Anfang des Buchs macht er dem Leser unmissverständlich klar: Es wird wohl niemals jemand in eine Zeitmaschine steigen. Technologien, um sich in der Zeit zu bewegen, erscheinen zwar nicht völlig unmöglich, doch die praktischen Hürden sind unüberwindbar. Um dies klarzustellen, erläutert der Astrophysiker gut verständlich, wie sich das physikalische Wissen über Licht und Zeit in den Relativitätstheorien Albert Einsteins bündelt. Müller gibt Einblicke in die Kosmologie, auf deren Größenskalen sich die meisten beobachtbaren Phänomene rund um Raumzeit und Licht abspielen. Sein Fazit: Menschen, die in einer »Raum-Turbokapsel« beinahe lichtschnell auf Schwarze Löcher oder Wurmlöcher zusteuern, um einen Zeitsprung zu wagen, hätten nicht den Hauch einer Überlebenschance. Entweder würden sie von tödlicher Strahlung erfasst oder von gigantischen Kräften zerquetscht.

Eine tonnenschwere Zeitreisekapsel auf beinahe Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen, verschlänge gigantische Energiemengen und führte zu riesigen Trägheitskräften

Als Katapult für eine Raum-Turbokapsel böte sich ein Ringbeschleuniger an. Er könnte die Kapsel im Prinzip auf beispielsweise 99,5 Prozent der Vakuumlichtgeschwindigkeit beschleunigen, ähnlich wie man es heute bereits mit kleinsten Teilchen praktiziert. Allerdings sind schon für diese gigantische Energiemengen notwendig, um sie auf das anvisierte Tempo zu bringen. Das mit einem tonnenschweren Gefährt zu realisieren, ist utopisch. Selbst wenn es gelänge, müsste man den riesigen Trägheitskräften entgegensteuern, die in dem Ringsystem wirken würden. Und das alles für einen bescheidenen Effekt: In einer entsprechend beschleunigten Kapsel würden Zeitreisende um rund zehn Prozent langsamer altern, verglichen mit Menschen außerhalb des Beschleunigers.

Wenn Müller darüber schreibt, wie die Menschen im Jahr 2100 leben könnten, tut er das mit einem Augenzwinkern. So sieht er die Enkelin des Schauspielers und Sängers Johannes Heesters (1903-2011), der 90 Jahre auf der Bühne stand, als dann älteste Frau mit 134 Jahren, und in Deutschlands Regierung vermutet er die Urenkelin von Karl-Theodor zu Guttenberg. Des Deutschen liebstes Kind, schreibt er, werde nach wie vor das Auto sein. Mit solchen Späßchen lockert er seine seriös-sachlichen Prognosen dazu auf, wie sich Technik und Klimawandel, Gesellschaft und Politik entwickeln werden.

Gegen Ende des Werks blickt der Autor auf die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurück. Dabei wird deutlich, wie sehr sich sowohl Technik und Naturwissenschaften, aber auch Mode und Freizeitbeschäftigungen gewandelt haben.

Zusammen mit Müller grübelt man als Leser darüber nach, ob die damaligen Menschen diese Entwicklung hätten ahnen können. Dem Autor zufolge nicht. Analog dazu können auch wir uns wahrscheinlich nur einen winzigen Teil von dem vorstellen, was in 100 Jahren sein wird.

»Zeitreisen und Zeitmaschinen« lässt sich leicht und flüssig lesen. Nur in den Kapiteln, die sich mit der zu Grunde liegenden Physik befassen, wird die Lektüre an manchen Stellen fordernd. Von naturwissenschaftlichen Zusammenhängen über Sciencefiction bis hin zu Zukunftsprognosen deckt das kompakte Werk ein breites Themenspektrum ab.


Rezensent Thorsten Naeser ist Diplomgeograf und arbeitet am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in München.


Andreas Müller
Zeitreisen und Zeitmaschinen
Heute Morgen war ich noch gestern
Springer Spektrum,
Berlin und Heidelberg 2016
179 S., € 14,99


Der Artikel ist als PDF-Datei mit Abbildungen abrufbar unter:
http://www.spektrum.de/pdf/88-93-sdw-03-2016-pdf/1400316


© 2016 Thorsten Naeser, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 3/16 - März 2016, Seite 92 - 93
URL: http://www.spektrum.de/pdf/88-93-sdw-03-2016-pdf/1400316
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2016

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