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BUCHBESPRECHUNG/147: Mathilde Franziska Annekes Briefe an Franziska und Friedrich Hammacher 1860-1884 (Gerhard Feldbauer)


Zum 200. Geburtstag

Mathilde Franziska Annekes Briefe an Franziska und Friedrich Hammacher 1860-1884

von Gerhard Feldbauer, 22. Dezember 2017



Am 3. April dieses Jahres war der 200. Geburtstag von Mathilde Franziska Anneke, einer leidenschaftlichen Teilnehmerin an der deutschen Revolution 1848/49 und danach ebenso herausragenden Persönlichkeit der amerikanischen Demokratie- und Frauenbewegung. Zum Jubiläum erschienen ihre Briefe an ihre Freundin und Kusine Franziska Hammacher und ihren Ehemann Friedrich, einen bürgerlichen Revolutionär von 1848/49. Mathilde schrieb sie 1860-65 während eines Aufenthaltes aus der Schweiz und nach der Rückkehr bis 1884 aus den USA. Herausgeber Erhard Kiehnbaum ist durch zahlreiche Publikationen über die Frühgeschichte der Arbeiterbewegung und Akteure der Revolution 1848/49 bekannt, darunter der über Mathilde Franziska Anneke 2004 erschienene Band "Bleib gesund, mein liebster Sohn Fritz..."


Porträt - gemeinfrei via Wikimedia

Mathilde Franziska Anneke (1817-1884)
Zeichnung aus: Der Märker, 1840 - gemeinfrei via Wikimedia

Nach der Scheidung von ihrem gewalttätigen Ehemann lebte sie als alleinerziehende Schriftstellerin mit einer kleinen Tochter unter schwierigen sozialen Verhältnissen. 1847 heiratete sie Fritz Anneke, einen ehemaligen preußischen Artillerieoffizier, der wegen seiner politischen Gesinnung als Mitglied des Bundes der Kommunisten aus der preußischen Armee ausgestoßen wurde. Mit ihm nahm sie vom Mai bis Juli 1849 an den Kämpfen der Badisch-pfälzischen Revolutionsarmee teil. Fritz befehligte die pfälzische Artillerie, Mathilde war als Ordonanzreiterin bei mehreren Gefechten dabei und traf im Freikorps von Oberst August Willich auch dessen Stabschef Friedrich Engels. Nach der Niederlage am 28./29. Juni unterhalb der Festung Rastatt flohen Mathilde und Fritz in die USA, wo sie sich zunächst in Milwaukee/Wisconsin niederließen. 1853 erschienen in New Jersey ihre "Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Kriegszug", Nachdruck Bochum 1976. Fritz kämpfte später, wie viele aus der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee, im amerikanischen Bürgerkrieg als Oberst in der Unionsarmee.

Mit politischem Weitblick sah Mathilde, dass die meisten ihrer demokratischen Ideale letzten Endes auch in den USA scheiterten. Die demokratische Bewegung, die im Bürgerkrieg gipfelte, blieb unvollendet. Die Sklaverei wurde nur formell aufgehoben, die schwarze Bevölkerung erhielt keine volle staatsbürgerliche Gleichheit und wurde durch den Ku-Klux-Klan-Terror wieder entrechtet. Schon 1862 hatte Mathilde Lincolns "fehlerhafte weichherzige Politik" kritisiert, darunter, dass er "die verrufenen Kerle der Korruption an die Spitze" ließ (S. 119). Ihre Worte: "Ich gestehe, die Herrschaft der fluchwürdigen 'Demokratie' dieses Landes macht mich betrübt" (S. 140), hat Kiehnbaum den Briefen vorangestellt.

Sie arbeitete dennoch aktiv, um Veränderungen zu bewirken. Im November 1865 berichtete sie über ein Mädchen-Internat, das sie mit der Schweizer Lehrerin Cäcilie Kapp gegründet hatte. Orientiert an Friedrich Fröbels Pädagogik wurde eine Lebenssicht vermittelt, die aus dem Kreis "Kinder, Kirche, Küche" herausführen sollte. Das angesehene Institut zählte bis zu 65 Schülerinnen. "Wir sind jetzt so weit, dass wir nach den furchtbarsten Anstrengungen sagen können, das Unternehmen ist ein gelungenes und wird im ersten Jahr schon ein hübsches Resultat aufweisen" (S. 230).

Sie hielt Vorträge über die deutsche Revolution, über Literatur des Vormärz (Heine, Herwegh, Freiligrath), engagierte sich in fortschrittlichen und politisch radikalen Gruppierungen, trat der Gemeinde der Freidenker bei und wurde später Gründungsmitglied der Frauensektion der I. Internationale. Ab 1852 gab sie die "Deutsche Frauenzeitung" heraus, die sie zweieinhalb Jahre leitete und zu einer für diese Zeit erstaunlichen Auflage von 2.000 Exemplaren brachte. Nicht nur Historiker oder Literaturwissenschaftler, sondern auch allgemein Interessierte lernen in diesen Briefen auf spannende Weise eine große Zahl ihrer Freunde und Bekannten kennen. So die Aktivistinnen der US-amerikanischen Frauenrechtsbewegung Susan Brownell Anthony, die sie "eine der größten Frauen unsers Jahrhunderts, meine geliebte und sehr verehrte Freundin" nennt, und die Bürgerrechtlerin Elizabeth Cady Stanton. "Die Namen dieser beiden Frauen gehören der Geschichte an, Du wirst Dich erfreuen an ihrem Klange, aber an ihren Werken erst wird die ganze Frauenwelt sich erheben", schreibt sie im März 1883 an ihre Kusine Franziska (S. 307-308).

Sie äußert sich sachkundig, auch mit manchem kaum oder nicht bekannten Detail. Zu nennen ist der Kampfgefährte aus der Revolutionsarmee Carl Schurz, der in den USA wie kein anderer der 1848/49er Revolutionäre eine steile politische Karriere machte. Im Bürgerkrieg Generalmajor, 1869-75 Senator und schließlich 1877-81 Innenminister, was nicht ohne Kompromisse von statten ging. Des Lobes voll über den "Sprung eines talentvollen und kühnen Plebejers" vermerkt Mathilde denn, auch General Schurz sei "seiner Lorbeeren schnell bar geworden" (S. 63, 177).

In Georg Herwegh, der in vielen Briefen erwähnt wird, hat sie "einen sehr lieben Freund", der für sie als "Poet dennoch so gewissenlos faul ist", was sie darauf zurückführt, dass er ein "reiches Weib" geheiratet hat. Im Nachruf nach seinem Tod am 7. April 1875 ergreift sie aber Trauer und Wehmut und sie schreibt nun, "ich hielt ihn für unsern größten Genius" (S. 267.)

Erstaunt teilt Mathilde ihrer Freundin mit, dass der am 4. August 1877 verstorbene, in die USA emigrierte Anhänger der deutschen Sozialdemokratie, der ostpreußische Landwirt Ferdinand Lingenau, ihr in seinem Testament zusammen mit August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Karl Marx "eine angemessene Summe vermacht hat" (S. 269).

Viele Namen wären zu erwähnen: August Willich, der im Bürgerkrieg ein Regiment kommandierte, der Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Ferdinand Lassalle, Wilhelm Rüstow, Teilnehmer an der März-Revolution 1848, später Stabschef in der Revolutionsarmee Giuseppe Garibaldis, Gräfin Sophie von Hatzfeld, die deutsche Schriftstellerin Ludmilla Assing, der deutsche jüdische Philosoph Moses Heß, Mitbegründer der "Rheinischen Zeitung".

Fritz Anneke verstarb, wie Kiehnbaum richtig stellt, am 8. Dezember 1872, Mathilde am 25. November 1884 in Milwaukee. Zu einer großen Zahl von Nachrufen gehörte auch der in der "New Yorker Zeitung", den die "Hattinger Zeitung" ihrer Heimatstadt unter der Überschrift "Eine berühmte Deutsch-Amerikanerin" abdruckte. Dass Mathilde eine ehemalige Bürgerin der Stadt war, geriet jedoch bald wieder in Vergessenheit. Erst ein Jahrhundert später änderte sich das.


By Morty (Own work) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) or CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)], via Wikimedia Commons

Gut Oberleveringhausen, Geburtshaus von Mathilde Franziska Anneke
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Lange Zeit in Deutschland ignoriert fand sie seit dem Nachdruck ihrer Memoiren 1976 in Bochum auch in ihrem Geburtsland Aufmerksamkeit. Am Geburtshaus Gut Overleveringhausen in Sprockhövel erinnert eine Gedenktafel an sie. 1988 gab die Bundespost über sie eine Briefmarke in der Reihe "Frauen in der deutschen Geschichte" heraus. In den 1980er Jahren fand sie Aufnahme in das Figurenprogramm des Kölner Rathausturms. Die von der Bildhauerin Katharina Hochhaus gestaltete Figur wurde 1995 an der Ostseite des Turmes aufgestellt. Eine eindrucksvolle Biografie "Von vielem Geist und großer Herzensgüte" hat die Leiterin des Archivs von Sprockhövel, der Geburtsstadt Mathildes, 2012 vorgelegt. Auskunft über ihr Leben und Wirken gibt auch das 1986 eingerichtete Stadtarchiv von Sprockhövel, dessen Grundstein mit Kopien des Nachlasses der Familie Anneke aus den USA gelegt wurde.


Erhard Kiehnbaum:
"Ich gestehe, die Herrschaft der fluchwürdigen 'Demokratie' dieses Landes macht mich betrübt...". Mathilde Franziska Annekes Briefe an Franziska und Friedrich Hammacher 1860-1884.
Argument Verlag 2017. ISBN 978-3-86754-684-3.

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Quelle:
© 2017 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2017

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