Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/151: Marlene Groihofer, Gertrude Pressburger - Gelebt, erlebt, überlebt (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Gertrude Pressburger
Gelebt, erlebt, überlebt.

Klaus Ludwig Helf, April 2018


Die damals 89-jährige Holocaust-Überlebende Gertrude Pressburger wurde im November 2016 mit ihrem Videoclip im Wahlkampf um das Amt des österreichischen Bundespräsidenten weltweit bekannt (3,7 Millionen Clicks). Sie verurteilte darin scharf die aggressive Rhetorik der FPÖ und ihres Kandidaten und grenzte sich vehement gegen dessen Rechtspopulismus und Rassismus ab. Sie forderte dazu auf, Alexander Van der Bellen zu wählen. Rechtzeitig zum 80sten Jahrestag des "Anschlusses" von Österreich an Nazi-Deutschland erschienen nun Gertrude Pressburgers Erinnerungen, die von der Journalistin Marlene Groihofer in einem Radioportrait für "radio klassik Stephansdom" aufgezeichnet und verschriftet worden sind. Es ist ein lebendiges und authentisches Porträt einer Wiener Handwerkerfamilie, die trotz katholischer Taufe Opfer von Rassismus und Antisemitismus wurde - Gertrude überlebte als Einzige den Holocaust. Nach jahrzehntelangem Schweigen hat sie sich mit diesen Erinnerungen erstmals öffentlich zu Wort gemeldet und will damit einen Beitrag dazu leisten, "ein Gespür dafür zu vermitteln, welch zerbrechliches und kostbares Gut der Frieden ist. Dass der Wohlstand, in dem wir leben, nicht selbstverständlich ist" (S. 195).

Der Band hat acht Kapitel; es folgen Epilog, Danksagung und ein Nachwort von Prof. Dr. Oliver Rathkolb, Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien. Bereits unmittelbar nach dem "Anschluss" an Hitlerdeutschland 1938 wurde die Familie Pressburger heftigen Repressalien ausgesetzt, die zuletzt lebensbedrohlich wurden. Mit ihren Eltern und den zwei jüngeren Brüdern floh sie aus Wien vor dem Zugriff der deutschen Nazis. In den folgenden sechs Jahren erlebte sie eine wechselhafte Odyssee zwischen Jugoslawien und Italien. Im März 1944 - nach dem Einmarsch der Deutschen in Italien - wurden sie in Caprino am Gardasee aufgegriffen, mit dem Lastwagen und später eingepfercht im Viehwagen nach Auschwitz-Birkenau verbracht. Dort wurde die Familie ohne Möglichkeit der Verabschiedung getrennt - Mutter und die beiden kleinen Brüder auf einen Lastwagen geschafft (der diese dann in die Gaskammern brachte), Vater zu den Männern und sie zu den Frauen eingeteilt:

Noch nie in meinem Leben war ich so allein, so ganz allein unter lauter Fremden. In einiger Entfernung von uns verläuft ein Zaun. Graue Figuren gehen dahinter entlang, sie bewegen sich gebeugt vorwärts, sind ausgemergelt und dreckig. Ich beobachte sie und rätsle, ob es sich um Menschen handelt? Ich habe nicht mehr das Gefühl, auf der Welt zu sein. (S. 84) 

Gertrude Pressburger erzählt ausführlich, authentisch und mit klarem Blick über das sieben Monate dauernde Lagerleben, über die Reglements des Lagers, die Schindereien bei der Arbeit, das karge Essen, die katastrophalen hygienischen Zustände und vor allem über die grausame und unberechenbare Brutalität des Wachpersonals bis zu den lageröffentlichen Bestrafungen und Hinrichtungen mit zynischer Musikbegleitung. Gertrude selbst musste einmal den toten Hund einer SS-Wärterin aus dem elektrischen Zaun klauben; ihre Wiener Bekannte wurde wegen Krankheit ins Gas geschickt und ihre Mutter ließ sich deshalb aus Verzweiflung erschießen.

Zynismus und brutale Menschenverachtung waren an der Tageordnung. So wünschte sich die Braut eines KZ-Offiziers zum Anlass Ihrer Hochzeit eine Kutschenfahrt mit Pferden durch das Vernichtungslager. Als sie in ihrem weißen Brautkleid neben ihrem Ehemann an den Baracken vorbeifuhr und die abgemagerten, verlausten und kahlgeschorenen Insassen sah, habe sie voller Abscheu gerufen: "Pfui, sind die grauslich". Gertrude fühlte sich ausgeliefert und schutzlos: "Beim Weckruf frühmorgens weiß man nie, ob man fürs Gas ausgewählt wird. Trotzdem mache ich mir vor und während der Aussortierung nie Gedanken darüber, ob als Nächstes auf mich gezeigt werden könnte. Es wird sich schon ergeben, denke ich. Dann wäre es eben soweit" (S. 91).

Wie kann man eine solche Hölle überleben? Gertrude baute sich einen eigenen Schutzpanzer, durch den nichts durchdringen konnte: "Er ist aus Stahl und sitzt heute noch in meiner Brust" (S. 95). Gertrude verliert den Sinn für das Morgen: "Auschwitz-Birkenau ist mein Hier und Jetzt. Ich habe mich innerlich damit abgefunden. Als ich im Juli 1944 siebzehn Jahre alt werde, habe ich aufgehört an morgen zu denken. Momente des Durchatmens gibt es nicht. Ich suche auch nicht danach." (S. 100). Freiwillig meldete sie sich zur Zwangsarbeit und kann Auschwitz-Birkenau verlassen und erlebte die Befreiung durch die Alliierten in Dänemark. Sie verbrachte die Zeit danach zunächst in Schweden bei Verwandten und kann über die Vermittlung von Bruno Kreisky, dem späteren österreichischen Bundeskanzler, nach Wien ausreisen. Dort erlebte sie nicht eine "Stunde Null" einer demokratischen Wiedergeburt, sondern das muntere und für sie zum Teil widerliche Weiterleben nationalsozialistischer Ideen und Machtträger: "Jüdische Heimkehrer wie ich sind ungern gesehen. Widerwillig händigen mir ehemalige Nazis meine Papiere aus" (S. 151).

Heute empfinde sie keinen Hass gegen diese Menschen, aber Verachtung. Gertrude Pressburger ermahnt vor allem die jüngeren und kommenden Generationen, an die Folgen des Nationalsozialismus in Österreich und Deutschland zu denken. Im Epilog des Bandes warnt Gertrude Pressburger vor der aufgeheizten aktuellen politischen Stimmung und fühlt sich an die 1930er Jahre erinnert; sie sei nicht zurückgekommen, um dasselbe noch einmal zu erleben:

Politiker schüren Ängste und Hass vor dem Fremden und missbrauchen Religion zum Stimmenfang. Kann die Politik sich überhaupt noch durchsetzen, ohne die Schuld für Missstände irgendeinem Sündenbock zuzuschieben? Diesmal wird es kein Hitler sein, der kommt. Aber irgendjemand anderer, der den Unmut der Menschen ausnützt, irgendjemand anderer, auf den zu viele hereinfallen. (S. 195) 

Der Band ist ein wichtiges Zeitdokument mit einer zupackenden und lebhaften Erzählerin, die auch einige Anekdoten zum Besten gibt und sich auch in lebensbedrohen Situationen nicht unterkriegen lässt: "Seit Auschwitz lasse ich mir nichts mehr befehlen. Und alles, was ich erreiche, schaffe ich aus eigener Kraft." (S. 190)

Gertrude Pressburger
Gelebt, erlebt, überlebt
Aufgezeichnet von Marlene Groihofer
Mit einem Nachwort von Oliver Rathkolb
(3.Auflage)
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018
Hardcover
schwarz-weiß Fotos
208 Seiten
19,00 Euro

*

Quelle:
© 2018 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang