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BUCHBESPRECHUNG/183: Jean Ziegler - Was ist so schlimm am Kapitalismus? (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Jean Ziegler

Was ist so schlimm am Kapitalismus?
Antworten auf die Fragen meiner Enkelin

Von Klaus Ludwig Helf, Februar 2020


Der international bekannte Kapitalismus- und Globalisierungskritiker Jean Ziegler habe sich - wie er selbst berichtet - in einer Fernsehdiskussion über Peter Brabeck-Letmathe, den Präsidenten des transkontinentalen Nahrungsmittelkonzerns wütend geärgert. Der habe dort behauptet, dass der Kapitalismus die gerechteste Organisationsform sei, die die Erde je gesehen habe, da er die Freiheit und das Wohlergehen der Menschheit garantiere. Aber das Gegenteil sei der Fall! Die kapitalistische Produktionsweise trage die Verantwortung für unzählige Verbrechen, für das tägliche Massaker an Tausenden von Kindern durch Unterernährung, Hunger und Hungerkatastrophen, für Epidemien, die schon längst von der Medizin besiegt seien. Für 2 der 7 Milliarden Menschen auf der Erde gebe es keine Freiheit und sie lebten in extremer Armut, ihre einzige Sorge sei ihr Überleben. Die übelsten Auswirkungen der Unterentwicklung seien Hunger, Durst, Epidemien und Krieg. Für die Völker der Dritten Welt habe der "Dritte Weltkrieg" längst begonnen. Diese Wut in der Fernsehdiskussion habe ihn zum Schreiben des vorliegenden Bandes beflügelt. Die Idee eines Enkel-Dialogs über den Kapitalismus verdanke er den Eltern kleiner Kinder; gewidmet ist der Band deshalb auch "allen meinen Enkelkindern".

Jean Ziegler (*1934) ist ein Schweizer Soziologe, Politiker und Sachbuch- und Romanautor, einer der international bekanntesten und profiliertesten Kritiker des Kapitalismus und der Globalisierung, war jahrelang Abgeordneter im Schweizer Nationalrat für die Sozialdemokratische Partei, von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, bis 2002 Professor für Soziologie an der Universität Genf und Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Er ist Autor zahlreicher Publikationen.

Mit seiner Enkelin Zohra (Alter wird nicht genannt) führt Jean Ziegler einen fiktiven Dialog über Geschichte, Ideologie, Funktion und Folgen des Kapitalismus und was man alternativ dagegen unternehmen könne. Das schmale Bändchen hat neun unsystematisch aufgebaute Kapitel, eingeleitet von einem Auszug aus Brechts "Die Horatier und die Kuriatier", dem einzigen Lehrstück aus seinen Jahren im Exil, am Schluss ein Dank an alle Unterstützer.

Jean Ziegler erklärt Zohra und der jungen Generation in einer einfachen und klaren Diktion das seiner Meinung nach effektive und gleichzeitig unmenschliche System des Kapitalismus, warum dieser nicht reformierbar sei und deshalb zerstört und ersetzt werden müsse durch eine "neue soziale und wirtschaftliche Weltordnung". Der Kapitalismus mit dem Kern des Privateigentums habe eine "kannibalische Ordnung" geschaffen: "Überfluss für eine kleine Minderheit und mörderisches Elend für die große Mehrheit" (S. 11). Er sei nicht nur eine wirtschaftliche Produktionsweise, sondern auch eine gesellschaftliche Organisationsform, deren Grundprinzip der Profit sei und zu einer unerbittlichen Konkurrenz zwischen allen Individuen und Völkern führe:

"Die Logik des Kapitals gründet auf Konfrontation, Vernichtung des Schwachen, auf Krieg. Krieg durch Zerstörung, Wiederaufbau und Waffenhandel ist eine unerschöpfliche Quelle des Profits. Wir müssen den Oligarchen die Arme brechen, ihre Macht zerschlagen." (S. 120) 

Jean Ziegler sieht die Vernunft beleidigt durch die "Dummheit des neoliberalen Wahns, die Erhebung der Marktkräfte zum Naturgesetz, die Manipulation der Konsumenten." (S. 124) Die Umweltzerstörung, der Raubbau unserer natürlichen Ressourcen, das langsame Sterben des Planeten seien "einfach monströs". Die sei nur möglich durch einen Prozess der Entfremdung, der durch die Beherrschung und Lenkung von Bewusstsein und Denken der Menschen herbeigeführt werde. Der Neoliberalismus wirke - in Anlehnung an Bourdieu - wie Aids, er zerstöre die Abwehrkräfte seiner Opfer, lähme sie, indem er sie von deren Ohnmacht überzeuge. Entfremdung sei ein geheimnisvoller Prozess, der dazu führe, dass Frauen und Männer freiwillig und gegen ihre eigenen Interessen denken und handeln. Aufgabe der Entfremdung sei, die besondere Identität des Individuums zu zerstören, seinen freien Willen zu rauben, ihm die Fähigkeit zu nehmen, unvoreingenommen zu denken und Widerstand zu leisten und ihn auf seine Funktion als Produzent und Konsument zu reduzieren. Diese Entfremdung funktioniere als Hauptwaffe der Kapitalisten für die Beherrschung von Bewusstsein und Denken:

"Der größte Triumph der Kapitalisten ist, dass sie uns erfolgreich eingeredet haben, die Ökonomie sei nicht dem Willen der Menschen, sondern den 'Naturgesetzen' unterworfen. Die Kräfte des Marktes seien vollkommen autonom und unkontrollierbar. Den Menschen bleibe nichts anderes übrig, als ihnen zu gehorchen." (S. 104/105) 

Die Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals bilden die eigentliche Weltregierung - so Ziegler - und diese stehe dem Glück der großen Mehrheit der Menschen im Wege: "Daher hat jeder Mensch um seiner selbst willen die Pflicht zur Revolte, sie wird kommen. Sie ist nahe" (S.119). Jean Ziegler fordert eine kraftvolle Utopie einer profit- und gewaltfreien Gesellschaft, an deren Verwirklichung aktuell bereits Millionen Menschen auf allen Kontinenten arbeiten würden in einer breiten, weltweiten und vielschichtigen Widerstandsbewegung von Jung und Alt, als internationale Zivilgesellschaft mit unzähligen Widerstandsformen.

Ob Jean Ziegler mit dieser Einschätzung der aktuellen politischen, soziokulturellen und vor allem der wirtschaftlichen Kräftepotenziale in der Welt richtig liegt, mag bezweifelt werden. Doch hat er mit seinem "Enkel-Buch" treffende Analysen und streitbare Thesen pointiert und nachvollziehbar an vielen praktischen Beispielen zu einer kraftvollen, visionären und ermutigenden Streitschrift zusammengestellt. Sicher, es fehlen viele Details und Nuancen, neue Entwicklungen auf dem Weltmarkt wie das Erstarken Chinas oder die Variante des digitalen Kapitalismus, aber dennoch wird der Kern des Kapitalismus in vereinfachter und treffender, manchmal etwas unterkomplexer Weise herausgeschält. Es ist ein gut lesbares und verständlich geschriebenes Buch vor allem für junge, aber auch jung gebliebene Menschen, die einen prononcierten ersten Einblick in die komplexe und komplizierte Welt des Kapitalismus haben möchten.

Jean Ziegler
Was ist so schlimm am Kapitalismus?
Antworten auf die Fragen meiner Enkelin.
C. Bertelsmann Verlag, München 2019
gebunden
128 Seiten
15,00 EURO

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Quelle:
© 2020 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2020

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