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BUCHBESPRECHUNG/226: Christian Baron - Schön ist die Nacht (Klaus Ludwig Helf)


Christian Baron

Schön ist die Nacht

von Klaus Ludwig Helf, Dezember 2022


In seinem neuen Band schreibt Christian Baron über das Leben der Generation seiner Großeltern, das er fiktional aufbereitet: "Dieses Buch ist ein Roman. Obwohl ich darin die Lebensgeschichten meiner Großväter und weiterer Familienmitglieder verarbeitet habe, sind alle Figuren in diesem Text erfunden" (Klappentext). Im Kern geht es um die wundersame, aberwitzige und abstruse Hass-Freundschaft zwischen Willy und Horst, die beide verbissen und vergeblich um Glück und um einen angemessenen Platz im Wohlstand der 70er Jahre kämpfen. Willy Wagners Leitmotiv ist "anständig bleiben", das bereits in der NS-Zeit eine große Rolle gespielt hat. Sein Traum von einem normalen Leben mit Familie im eigenen Häuschen wird immer wieder heftig gestört. Sein Job als Zimmermann auf dem Bau reicht bei weitem nicht aus, um seine beiden Töchter und seine Frau Rosi zu ernähren, die depressiv und alkoholkrank ist. Sein größtes Verhängnis ist aber seine Freundschaft mit Horst Baron, der ihn immer wieder durch seine kleinkriminellen Geschäfte und Geldforderungen in eine Abwärtsspirale mitreißt:

"Ich bin ein Donnermagnet, dachte er. Manche Leute ziehen Gewitter an. Saugen sie auf wie Katzen den Atem der Neugeborenen. Manche Menschen sind negativ gepolt, andere positiv. Manche glimmen im Dunkeln, andere verlöschen. Willy wusste, zu welcher Art er gehörte" (S. 34).

Christian Baron (geboren 1985 in Kaiserslautern) ist freier Autor und Journalist, war bis 2021 Politik-Redakteur bei der Wochenzeitung Der Freitag, davor Feuilleton-Redakteur der Tageszeitung neues deutschland, sein Erstlingsroman Ein Mann seiner Klasse (2020) wurde mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis für das beste deutschsprachige Debüt und 2021 mit dem Literaturpreis "Aufstieg durch Bildung" ausgezeichnet. (Rezension: SCHATTENBLICK - BUCHBESPRECHUNG/193: Christian Baron - Ein Mann seiner Klasse (Roman) (Klaus Ludwig Helf)). Weitere Veröffentlichungen u.a. Klasse und Kampf (2021 zusammen mit Maria Barankow).

Der Roman beginnt im Januar 1944 als Horst Baron eine für ihn folgenschwere Begegnung mit Willy Wagner hat. Er träumt beim Betrachten der vom Fliegerangriff zerstörten Villa des Apothekers Jansohn am Museumsplatz:

"Am Abend war die Hoffnung da... In nicht ganz neun Wochen würde er elf Jahre alt werden, und in einem solchen Haus, das nahm Horst sich in diesem Moment vor, würde er später einmal leben" (S. 5).

Doch es sollte völlig anders kommen. Horst und Willy kommen aus dem Arbeitermilieu. Horsts Vater war als arbeitsloser 'Asozialer' im KZ, Willys Eltern agitierten als überzeugte Kommunisten. Sein Vater starb in einem Strafbataillon, seine Mutter Hulda überlebte und kommentiert im Roman das Zeitgeschehen aus ihrer klassenkämpferischen Sicht. Das erste Kapitel führt uns nach einem Zeitsprung in das Jahr 1973. Der nunmehr vierundvierzigjährige Zimmerer Willy Wagner macht sich an einem klaren Frühlingstag Anfang März, fein herausgeputzt, auf den Weg zu einem Richtfest seines Bautrupps für das Schützenhaus auf der Kaiserslauterner Neumühle, die als "Räuberdorf, Zigeunernest und Revolversiedlung" berüchtigt war. Ausgerechnet dort trifft er wieder auf Horst, der den Grillmeister mit dem Gerücht provoziert, dass dessen Frikadellen aus Hundefleisch seien. Horst, der vom rasend-wütenden Grillmeister am Kragen gepackt wird, denunziert einen unschuldigen, am Rande stehenden dunkelhäutigen "Pilzkopf" als Informanten. Woraufhin sich einige Männer mit Gebrüll auf diesen stürzen und auf ihn eindreschen:

"Der Ärmste winselte wie ein Hund, und als endlich auch der Grillmeister hinübergelaufen war, schnappte Horst sich die Kasse, drückte sie Willy in die Hand und schrie: 'Lauf! Lauf um dein Leben! Und um meins!'. Willis Schockstarre währte nur Sekundenbruchteile. Unwesentlich länger dauerte es, bis die Neumühler die Verfolgungsjagd aufnahmen. Willy hetzte Horst hinterher, hinein in den Wald, die Kasse klingelte, das Gebrüll kam näher, die Hunde bellten... und bald schon wähnte sich Willi in einer Nacht ohne Morgen" (S. 25).

Es folgen noch viele krumme, schräge Geschichten aus dem Leben der beiden Protagonisten z.B. die Sprengung von Getränke- und Zigarettenautomaten, um schnell an viel Geld zu kommen, aggressive Auseinandersetzungen und fast sentimental rührende Momente. Es ist eine Achterbahn mit vielen Hochs und Tiefs im prallen Leben zweier Freunde, die aneinandergekettet sind, sich trennen und dann doch wieder zusammenfinden. Willy lachte verächtlich:

"Unsere Freundschaft war immer eine Einbahnstraße. Du hast mich ausgenommen, das war nie anders, und ich hab's mit mir machen lassen. Aber irgendwann ist halt Schicht im Schacht.... Du bist ein böser Mensch, und ich will mit dir nichts mehr zu schaffen haben" (S. 355).

Der Streit zwischen den beiden eskalierte in der Sylvester-Nacht 1979/80 so weit, dass Willy nach der Axt griff, um Horst einen Kopf kürzer zu machen:

"Die Hand, die in der die Axt lag, zitterte, der immer so friedliche Willy stand mit entsetzlicher Mordlust vor Horst, den sie immer alle für den Bösen hielten. Und jetzt sahen sie, wie es wirklich war. Willy war ein Feigling, immer schon gewesen... Willy befreite sich aus Jackies Griff, donnerte die Axt in den Holztresen und stieß die Tür auf... Halb drehte er sich zu Horst um, fixierte ihn mit einem müden Blick, dann schüttelte er den Kopf und verschwand in der ersten Nacht der Achtzigerjahre" (S. 370).

Am Ende des Romans (November 2011) erfahren wir, dass Willy während der Fußball-WM 2002 am Sterbebett von Horst Wache gehalten, dessen Sohn Kalle es aber nicht fertiggebracht habe, seinem sterbenden Vater zu verzeihen. Kalle zu Willy:

"Ich werd mir das bis ans Ende meiner Tage vorwerfen. Dass ich es als erwachsener Mann nicht fertiggebracht hab, meinem krepierenden Vater zu verzeihen... Du hast aus der Logik heraus alles sehr anständig gemacht mit meinem Vater. Und ganz zum Schluss warst du für ihn da, als er dich am meisten gebraucht hat. Letztlich zählt doch vor allem, wie man eine Sache zu Ende bringt" (S. 378).

Auch Willy hatte sich mit seinem Sohn Ottes heillos zerstritten. Willys Enkel Christian, "der Studierte", hat das Grab seines am Suff gestorbenen Vaters gesucht und ausfindig gemacht und einen Familienrat einberufen. Diese Episode kennen wir aus dem Ende des ersten Romans. Der zeitgeschichtliche Hintergrund sind die siebziger Jahre mit Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Alfred Tetzlaff und der Rappelkiste, die aufkommende Konsumgesellschaft mit ihren Licht- und Schattenseiten, das schwierige Alltagsleben der Arbeiter und ihrer Familien, der soziale Druck auf den Baustellen mit streikwilligen türkischen 'Gastarbeitern', Alkohol, Drogen und Gewalt, toxische Männlichkeit, Fußball, sozialer Abstieg, aber auch Lebensfreude, Witz und Humor.

Kritische Kommentare zur aktuellen politischen Situation geben Horsts Mutter Hulda, eine überzeugte und aktiv- aufklärerische Alt-Kommunistin und auch der junge Bank-Manager Bernie, "ein blonder Lulatsch mit Wuschelkopf". Seit Brandts erzwungenem Abgang aus dem Kanzleramt würden sie den Arbeitsmarkt immer stärker liberalisieren:

"Die Regierung erlasse ein Gesetz nach dem anderen, das die Arbeitnehmer belaste und die Arbeitgeber entlaste... Bernie kam jetzt richtig in Fahrt, aufgekratzt wie ein Kind vorm Kettenkarussell... Er müsse ihm mal eine alte Frau vorstellen, sagte Horst, eine beinharte Kommunistin, die sei schon zu Zeiten des Dritten Reichs gegen Hitler gewesen und wisse alles über Geschichte und Politik" (S. 316).

Viel Lokalkolorit aus Kaiserslautern wird in die Episoden eingewoben: Ausdrücke wie Brunzkachel (lustiges Schimpfwort für eine Frau/ Nachttopf), der junge Dudderer (Halbstarker), Zores (Ärger), Verzählchers (Geschichten), Labbeduddel (Einfaltspinsel) oder auch deftige Wortwechsel im westpfälzischen Dialekt, der legendäre Heimsieg des 1. FC Kaiserslautern gegen Bayern München im Jahr 1973 (7:4, nach anfänglichem Rückstand), die langen Kneipenabende:

"Wenn Willi was Realistisches haben wollte, dann ging er in die Goldmine, dort war das Elend der Welt auf wenige Quadratmeter geschrumpft, garantiert in Farbe" (S. 17).

Die Goldmine war eine klassische Lauterer Kneipe der 70er Jahre: Häkeldeckchen auf den Tischen, vergilbte Gardinen, ein langer Tresen aus einem Holzbrett, hinter dem Zapfhahn Dutzende von Gläsern und diversen Spirituosen, pfälzische Landschaftsmalereien an den Wänden, eine Dartscheibe, eine Jukebox, Fernseher, Jugendfotos der Stammgäste, rauch-, schweiß- und alkoholgeschwängerte Luft, überall Holzfurnier-Gelsenkirchner Barock. Willy hauste mit Frau und seinen beiden Töchtern in einer schmutzigen Bude in der Talstraße:

"Zwei Zimmer ohne Wohnungsklo, alle Wagners in einem Raum. Wenn Willi und Rosi mal so richtig für sich sein soll wollten, blieb ihnen nur eine Nacht im Hotel, für die er zuvor monatelang was vom Lohn beiseitelegen musste" (S. 29).

Der Roman-Titel bezieht sich auf einen Text aus einem Tango, den Willy und Rosi getanzt hatten. Einfühlsam und rührend wird sein Abschied an ihrem Totenbett geschildert. Er legt die Tangoplatte auf und setzt sich in einen Sessel:

"Rosi lag da, ihren tief in den Höhlen liegenden Augen war längst jeder Ausdruck entwichen. 'Schön ist die Nacht, am Himmel erwacht der strahlende Mond, die Liebe sich lohnt für ein Glück nuuur zu zwaaait.' Willy stand auf, öffnete das Fenster und schrie hinaus" (S. 343/344).

Christian Baron hat einen brutal realistischen und schockierenden Roman über die 70er Jahre geschrieben. Er erzählt einfühlsam und intensiv, schonungslos offen und warmherzig das Leben der Menschen aus dem Arbeitermilieu, ohne voyeuristisch, belehrend oder ironisch-distanziert zu sein. Die Dialoge sind erfrischend lebendig, die Sprache wechselt zwischen spröder Lakonie und fast romantischer Poesie:

"Das Licht der Morgendämmerung ergoss sich über die Häuserreihen. Die Schatten verkürzten sich. Ein rascher Blick nach oben. Es würde ein schöner Herbsttag werden, keine einzige Wolke zog am Himmel. Bald wären die Nächte länger, und Willys Weg zur Arbeit würde wieder schöner sein. Die Dunkelheit der Nacht öffnete seinen Blick fürs Tiefe, Ferne, Unendliche" (S. 87).

Ein wunderbarer Roman über die 70er Jahre aus einem Blickwinkel 'von unten', spannend zu lesen und sensibilisierend für die aktuellen sozialen und politischen Probleme.


Christian Baron: Schön ist die Nacht. Claasen-Verlag Berlin 2022, 384 Seiten, gebunden, 23 Euro.

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Quelle:
© 2022 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 9. Dezember 2022

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