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BUCHBESPRECHUNG/231: Markus Marterbauer, Martin Schürz - ...Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht (Klaus Ludwig Helf)


Markus Marterbauer, Martin Schürz

Angst und Angstmacherei. Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht

von Klaus Ludwig Helf, Februar 2023


Die Deutschen haben nach der repräsentativen Langzeitstudie des Infocenters der R+V Versicherung Die Ängste der Deutschen 2022 vor allem mit wirtschaftlichen und finanziellen Ängsten zu kämpfen: vor steigenden Lebenshaltungskosten (67 Prozent), vor unbezahlbarem Wohnraum (58 Prozent), vor einer Rezession (57 Prozent) und vor Steuererhöhungen wegen der Pandemie- und Kriegskosten (52 Prozent). Auch Umwelt- und Kriegsängste nahmen spürbar zu (42 bzw. 46 Prozent), während die Angst vor Zuwanderung gleichblieb. Diese existentiellen Ängste seien in allen Gesellschaftsschichten vorhanden, so Manfred G. Schmidt, Professor für Politikwissenschaften an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, bei der Vorstellung der Studie und sie würden bei anhaltender Krisenhaftigkeit zunehmen. Sie treffen die Menschen in Zeiten von Pandemie, Krieg, Klimawandel, Inflation, sozialer Kälte und Abbau von Sozialleistungen unvermittelt und werden verstärkt durch die ansteigenden sozialen Ungleichheiten und gesellschaftlichen Spaltungen in der Gesellschaft.

Zudem missbrauche eine seit Jahrzehnten praktizierte neoliberale Wirtschaftspolitik Angst als mobilisierenden Faktor, so die These des Ökonomen Markus Marterbauer und des Psychotherapeuten Martin Schürz in dem vorliegenden Band. Die wirtschaftliche Lage verschlechtere sich bei weitem nicht für alle, da es auch einige wenige gebe, die sehr viel gewinnen. Während die einen viel zu wenig hätten, um halbwegs leben zu können, hätten die anderen viel zu viel:

"Sie haben nicht nur zu viel an Gewinnen und Vermögen, sondern auch ein Übermaß an Macht, welche sie in Wirtschaft, Medien und Politik einsetzen, um die Gesellschaft zum eigenen Vorteil und zum Nachteil der großen Mehrheit zu lenken." (S. 9).

Die beiden Autoren entwickeln Konturen einer Wirtschaftspolitik ohne Armut und Überreichtum, ohne Angst und Angstmacherei mit dem Ziel, Hoffnung zu wecken, Freiheit schaffen und allen Menschen ein Leben ohne Angst zu ermöglichen. Sie stehen in der Tradition einer 'emanzipatorischen, gesellschaftskritischen Ökonomie', die sich nicht als Naturwissenschaft, sondern als Teilgebiet der Sozialwissenschaften begreift, die nicht legitimierte Herrschaft, Fremdbestimmung und Unterdrückung überwinden und sozialen Ausgleich schaffen will:

"Die deutliche Verringerung der Vermögensbestände der Reichen würde eine effektive Bekämpfung von Armut ermöglichen ... Gesellschaftskritische Ökonomie zielt ... auf konkrete wirtschaftspolitische Vorschläge, die Leid reduzieren und Ängste mildern, die die Lebensbedingungen der Armen und der arbeitenden Bevölkerung verbessern, die Sicherheit geben und Vertrauen schaffen, die einen angstfreien und solidarischen Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern und aus denen Hoffnung und Freiheit entstehen können" (S. 11).

Markus Marterbauer leitet seit 2011 die Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der Arbeiterkammer Wien, ist Lehrbeauftragter an mehreren Universitäten, Vorsitzender des Arbeitskreises Dr. Benedikt Kautsky (Arbeitskreis österreichischer Ökonomen) und Kolumnist der Wiener Stadtzeitung Falter. Zahlreiche Publikationen u.a. über Einkommenspolitik, Umverteilung und sozialdemokratische Wirtschaftspolitik.
Martin Schürz arbeitet als Psychotherapeut in Wien, ist Lektor an der WU Wien und forscht zur Vermögensverteilung in Europa.

Nach der Einleitung ("Hoffnung gegen Angst") folgen zehn Kapitel und ein ausführliches Literaturverzeichnis. Eingeflochten sind Gespräche mit sechs Personen mit ihren individuell unterschiedlichen Weltsichten, gesellschaftlichen Erfahrungen, ihren Ängsten, Hoffnungen und Perspektiven. Die gesellschaftspolitischen Ziele der beiden Autoren sind soziale Gerechtigkeit, Unantastbarkeit der menschlichen Würde, hohe Lebensqualität und mehr Freiheit für alle. Sie verorten sich in den sozialen Auseinandersetzungen auf der Seite des sozial Benachteiligten und der von Ängsten gequälten Menschen:

"Unser Ziel ist es, strukturelle, potentiell angstmachende Verhältnisse in der Gesellschaft offenzulegen und eine explizite Verbindung von den vielfältigen Ängsten der Menschen zu konkreten Maßnahmen der Wirtschaftspolitik zu ziehen. Wir achten auf jene sozialen Strukturen, die als angsteinflößend wahrgenommen werden können." (S. 24).

Dazu gehören vor allem Armut und soziale Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, Alters- und Kinderarmut, schlechte Arbeitsbedingungen, Niedriglöhne, mangelnde Gesundheitsversorgung, Pflegemisere im Alter und fehlende Bildungs- und Aufstiegschancen. Aber auch die "demokratiezersetzende Macht der Vermögenden und eine Politik, die den Interessen der Vermögenden und nicht dem Gemeinwohl dient, können Angst einflößen". Armut mache Angst, führe zur sozialen Ausgrenzung und Vereinzelung, produziere Aussichts- und Hoffnungslosigkeit, entpolitisiere und erschwere das Aussteigen aus einem Teufelskreis des sozialen und psychischen Abstiegs, stellen die Autoren anhand theoretischer Überlegungen und an vielen Beispielen aus dem Alltag mit Recht fest. Diese Entwicklung gefährde die Menschenwürde, die Freiheit und Selbstbestimmung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Kern einer Demokratie.

Mit dem Ziel einer gerechteren Gesellschaft entwickeln Markus Marterbauer und Martin Schürz Ideen, die sich am Reformzugang der US-Ökonom:innen Dani Rodrik und Stefanie Stantcheva und am Grundsatz inklusiver Prosperität orientieren, nach dem die Interessen aller Menschen Berücksichtigung finden müssen. Geld sei genug da. Der Sozialstaat, der wegen der vielfältigen Verwerfungen des Kapitalismus erkämpft und geschaffen wurde, könne stabil und solide finanziert werden. Dazu müssten die Finanzierungsstrukturen erheblich verändert und die dafür notwendigen Verteilungskämpfe geführt werden:

"Exzessiver Reichtum und exzessive Privilegien der Reichen sind kein unvermeidbares factum brutum. In einer funktionierenden Demokratie ist die Einigung auf eine Begrenzung des Reichtums denkmöglich. Ein die Ängste mildernder Sozialstaat für alle kann geschaffen und weiterentwickelt werden. Die Ohnmacht der vielen angesichts der exorbitanten Macht der wenigen ist verständlich, aber ein Naturgesetz ist sie nicht" (S. 14).

Die horrende Vermögensungleichheit wie z. B. in Österreich und in Deutschland werde durch eine "Vermögensverteidigungsindustrie" erfolgreich geschützt einerseits durch Besitz u.a. von Geld, Unternehmen, Luxusartikeln und Immobilien, andererseits durch Einfluss auf Politik, Medien und gesellschaftliche Debatten. Die Kümmernisse und Ängste armer Menschen würden durch ideologisch grundierte Rationalisierung abgewehrt:

"Arme sparen zu wenig, konsumieren zu viel, kaufen die falschen Produkte, haben nichts gelernt, sind zu wenig motiviert, sind nicht leistungsbereit, sind nicht mobil genug, wollen nichts vom Leben und neiden viel ... Eine abwertende und psychologisierende Ausprägung der Wirtschaftspolitik nährt eine tiefe Angst vor gesellschaftlicher Exklusion." (S. 53).

Die Angst vor Ausschluss verhindere die Entfaltung menschlicher Möglichkeiten und erzeuge Ohnmachtsgefühle. Der Gegenbegriff zur Angst sei daher zunächst Sicherheit, nicht Freiheit, denn je enger das Netz des Sozialstaates geknüpft sei und die Vermögenskonzentration begrenzt werde, desto grösser sei soziale und psychische Sicherheit als Voraussetzung für die Entfaltung von Freiheit, Hoffnung und Sinnsuche.

Die Autoren entwickeln verschiedene Vorschläge zur Begrenzung des Überreichtums: eine progressive Vermögenssteuer auf das gesamte Nettovermögen (Finanz- und Sachvermögen) ab einer Million Euro, eine progressive Erbschaftssteuer und höhere Steuern auf Immobilien und Bodenwerte und eine Vermögensobergrenze von einer Milliarde Euro. Die Mehr-Einnahmen durch die Steuern sollen zweckgebunden sein für den Ausbau von Kindergärten, Schulen und der sozialen Pflege und für die Armutsbekämpfung. Wer von seiner Arbeit lebe, solle keine höheren Abgaben leisten als jene, die von ihrem Vermögen ohne Arbeit leben können. Weitere Vorschläge darzustellen und zu bewerten, würde den Rahmen einer Besprechung sprengen.

Der Band ist trotz der Komplexität seiner Thematik und der reflektierten Tiefe der wirtschafts- und sozialpsychologischen Zusammenhänge verständlich und flüssig geschrieben. Viele Beispiele und Vorschläge sind auf Österreich konzentriert, lassen sich durchaus übertragen auf deutsche und europäische Verhältnisse. Einige davon sind nicht neu, aber in der zuspitzenden Radikalität und Zusammenschau von explosiver Wirkung. Wie das Meinungsklima und die politischen Mehrheiten für deren Umsetzung innerhalb des kapitalistischen Rahmens geschaffen werden können, bleibt leider vernachlässigt. Dennoch: Markus Marterbauer und Martin Schürz haben ein ermutigendes Buch geschrieben für die Schaffung eines dynamischen und ausgleichenden Sozialstaates mit begrenztem Reichtum, hohen sozialen Mindeststandards, ohne bewusste Angstmacherei und mit genügend Platz für die Entfaltung aller Menschen - eine Möglichkeits-Utopie im Sinne von Musil.


Markus Marterbauer, Martin Schürz: Angst und Angstmacherei. Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht. Zsolnay Verlag Wien 2022, gebunden, 384 Seiten, 26.00 EUR.

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Quelle:
© 2023 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 3. März 2023

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