Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/233: Anjuska Weil - Begegnungen. Geschichten über den Befreiungskampf der Menschen Vietnams (Gerhard Feldbauer)


Begegnungen

Geschichten über den Befreiungskampf der Menschen Vietnams

von Gerhard Feldbauer, 25. April 2023


"Nichts ist wertvoller als Unabhängigkeit und Gerechtigkeit." Diese Worte Ho Chi Minhs sind der Leitfaden des Buches "Begegnungen" von Anjuska Weil, das Einblick gibt in den Befreiungskampf gegen das 1946 wiedererrichtete französische Kolonialjoch und das 1965 folgende Besatzungsregime der USA im Süden Vietnams, der von einem Volk geführt wurde, das seine Kraft aus der Geschichte schöpfte, in der es sich "über die Jahrhunderte immer wieder aus Fremdherrschaft freikämpfen musste". So die Autorin. Die 1946 geborene Tochter einer Schweizerin und eines Jugoslawen, der in der Partisanenarmee Titos kämpfte, ist seit 1994 Präsidentin der Vereinigung Schweiz-Vietnam. 2006 wurde sie von Vietnam für 25 Jahre Engagement für die Leprakranken sowie 50 Jahre Vietnam-Solidarität mit der Freundschaftsmedaille ausgezeichnet.

Das Buch ist eine Frucht ihrer langjährigen Begegnungen mit den Menschen Vietnams. Die Autorin erzählt, was sie in schweren Zeiten des Landes erlebt und erlitten haben, wie sie sich engagierten, was ihr Beitrag war und welchen Blick sie auf die Ereignisse jener Zeit hatten. Auf einer dieser Reisen notierte sie im Januar 1986:

"Aus dem Flugzeug sehe ich deutlich die Bombenkrater,
Wunden des Krieges auf der Erde Vietnams,
Wasserlachen, wie tote Spiegel.
Ob sich eines Tages Fische darin tummeln?
Ob die Jahre des Friedens sie dem Reisfeld wiedergeben?
Ob Kinder eines Tages Blüten auf die Narben streuen?"

Die Erzählungen spiegeln Lebenswege ohne Pathos in der bescheidenen Art jener wider, die Großes geleistet und das, was sie getan haben, einfach als ihre Aufgabe gesehen haben und noch heute so sehen. Es sind Geschichten über die Befreiung Vietnams, über den Umgang mit menschlichem Leiden und einem Alltag der Entbehrungen, die durch Portraits ergänzt werden. Anjuska Weil knüpft daran an, dass Gedichte-Schreiben in Vietnam eine alte Tradition als Ausdrucksform für Gefühle ist, die heute noch in der Schule gelehrt und gelernt wird, und das hat, wie sie meint, "in schweren Zeiten und Situationen immer wieder geholfen, mit der Realität umzugehen".

Die Gedichte in diesem Buch sind nicht von bekannten Dichtern verfasst, sondern von "Alltags-Poetinnen und -Poeten" wie dem Cyclo-Fahrer Bui Huu Tran in Hué, der über sein Leben schrieb:

"Wie ein Salzkorn sich im Wasser
Löse ich mich auf in diesem Leben
Trete in die Pedale meines Cyclo
Tag für Tag
Transportiere Überzeugungen
Orangen und Lachen."

Gleich zu Beginn steht das Wiegenlied, das die Großmutter ihrem Enkelkind vorsingt:

"Schlaf ein mein Kleines, sorg dich nicht
Siehst du den Mond?
Er scheint auch auf den Dschungelpfad
Dort wo deine Mutter ist
Dort wo dein Vater ist
Schlaf mein Kleines, sorg dich nicht."

Die Lehrerin Ho Thi The Tan erzählt: "Wir hatten keinerlei Unstimmigkeiten mit den Kommunisten, der Patriotismus stand im Vordergrund. Meine Onkel waren keine Kommunisten, sie verstanden sich als Intellektuelle, die immer an der Seite von Ho Chi Minh waren, vereint in der Sache für das Land, und es war gut so".

Die Mitarbeiterin der französischen Kolonialbehörden Ho Dac Diem erzählt, wie sie 1946, als Frankreich sich anschickte, die von Ho Chi Minh im September 1945 ausgerufene Demokratische Republik Vietnam zu beseitigen, vor der Entscheidung stand, im "komfortablen Abwarten zu verharren und zu schauen, wie die Ereignisse sich entwickeln würden" oder dem Aufruf Ho Chi Minhs zu folgen und die Unabhängigkeit zu verteidigen. "Doch ich bin", schreibt sie, "wie viele andere im Dezember 1946 aufgebrochen, um mich dem Widerstand der Viet Minh anzuschließen und meine Pflicht gegenüber meinem Land zu erfüllen". Und sie fährt fort: "Wenn ich zurückdenke, danke ich dem Schicksal jedes Mal dafür, dass es mir erlaubt hat, diese Zeit des Widerstandskampfes zu erleben."

Erzählt wird von "Zeiten des Mangels", in denen jeder ein "Reisbüchlein", wie die Lebensmittelkarten genannt wurden, hatte. 13 kg Reis war die Mindestration für einen Erwachsenen ohne Qualifikation. Bergarbeiter, Schmiede, Lkw-Fahrer und andere Schwerarbeiter kamen auf bis zu 21 kg.

Am 9. August 1964, nachdem die USA den Luftkrieg gegen Nordvietnam begonnen hatten, erließ der kommunistische Jugendverband einen Appell "Die drei Bereitschaften", die besagten, noch nicht zu heiraten und keine Kinder zu haben, das Elternhaus nötigenfalls zu verlassen, um die Kämpferinnen und Kämpfer des Südens mit Nachschub zu versorgen oder an ihrer Seite am Kampf gegen die US-Invasoren teilzunehmen." Schon in den ersten Tagen meldeten sich 26.000 junge Menschen, "um kundzutun, dass sie bereit waren, alles zu geben, um der amerikanischen Aggression entgegenzutreten".

Wenn Anjuska Weil im Vorwort schreibt, "diese Menschen haben es verdient, vom Alltag nicht überrollt und vergessen zu werden", dann steht dafür auch das Gedicht "Für meine gefallenen Genossen", in dem es heißt:

"Mein Gott, so viel verdanken wir ihnen!
Das Herz voller Poesie
Erkaltet über die Zeit
Ergriffen denke ich an sie, meine gefallenen Genossen."


Anjuska Weil: Begegnungen. Geschichten in der Geschichte Vietnams. Zürich 2022, 200 S., ISBN 978-3-033-09524-3

*

Quelle:
© 2023 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 28. April 2023

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang