Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/234: Sven Regener - Glitterschnitter (Klaus Ludwig Helf)


Sven Regener

Glitterschnitter

von Klaus Ludwig Helf, Mai 2023


Im sechsten Roman der "Lehmann-Serie" treffen wir wieder alte Bekannte rund um Frank Lehmann aus Bremen, der bereits in Sven Regeners Bestseller-Roman von 2001 und im gleichnamigen Film zur Kulturfigur wurde. Um was geht es? Frank will endlich Karriere als Theker machen und kämpft mit der Kaffeemaschine um einen ordentlichen Milchkaffee. Die Nachwuchsmusiker Ferdi, Raimund und Karl Schmidt (genannt Charlie) wollen mit ihrer Band Glitterschnitter berühmt werden und sich daher am Musikfestival Wall City Noise beteiligen. Doch um den Einsatz einer Bohrmaschine beim Auftritt der Band wird heftig gestritten. Erwin Kächle macht sich Sorgen um seine Kneipe und um seine künftige Rolle als Vater, seine Nichte Chrissie wehrt sich heftig gegen ihre übergriffige Mutter Kerstin und die vermeintlichen Hausbesetzer P. Immel und Kacki aus Österreich müssen sich gegen die Punker aus ihrem Hinterhaus verteidigen. Es geht auch darum, ob man mit einer Bohrmaschine, mit Eierwerfen auf das Publikum oder mit einem Eierschneider kreative Kunst-Akte gestalten kann und es geht um Freundschaft, Liebe, Hoffnung und Melancholie.

Sven Regener gründete 1985 die Band 'Element of Crime' (Text, Gesang und Trompete), ist Schriftsteller und Drehbuchautor, Mitgründer des PEN Berlin, war 2012 Erstunterzeichner beim Aufruf 'Wir sind die Urheber' als Protest gegen Angriffe auf das Urheberrecht und gegen den Diebstahl geistigen Eigentums, kritisierte deswegen scharf die globalen Internetunternehmen, veröffentlichte neben seinen Liedertexten Bücher, Hörbücher und Drehbücher, erhielt verschiedene Preise und Ehrungen (u.a. Deutscher Hörbuchpreis, Carl-Zuckmayer-Medaille, Jonathan-Swift-Preis). Sein Berlin-Kreuzberg-Roman Herr Lehmann (2001) und das Drehbuch zum gleichnamigen Film waren ein großer literarischer und filmischer Erfolg. Weitere Romane über den 'Frank-Lehmann-Kosmos' folgten: Neue Vahr Süd, Der kleine Bruder, Magical Mystery, Wiener Straße und zuletzt Glitterschnitter.

Der Roman hat fünf Kapitel: Das wird super! / Nichtraucher / Shakespeare / Soundcheck und Glitterschnitter. Zusätzlich zum Roman ist ein Hörbuch mit zwei MP3-CDs im Digipack als ungekürzte Autorenlesung erschienen. Der Roman spielt nur an wenigen Tagen des Jahres 1980 im Kiez um die Wienerstrasse in Berlin-Kreuzberg, den der Autor (und auch der Rezensent) mit allen Sinnen hautnah selbst erlebt, geatmet und beobachtet hat. Der Plot des Romans ist wenig stringent, die Handlung schlicht und spannungsarm, aber dafür wird sehr viel geredet, herrlich bizarre und irrwitzige Dialoge werden durch innere Monologe ergänzt, die Erzählperspektiven wechseln ständig - auch mitten in einer Szene - und erzeugen damit eine innere Dynamik und Spannung.

Wir erleben den Aufstieg von Frank Lehmann von der Putzkraft zum Theker des Café Einfall in der Wienerstrasse. Dieses gehört dem geschäftstüchtigen Exil-Schwaben Erwin, der noch zwei weitere Läden in Schönberg besitzt und bald Vater werden wird. Wegen der Treffen der Schwangerschaftsgruppe seiner Gefährtin Helga gibt es ein temporäres Rauchverbot in seinem Café, sehr zum Ärger der Gäste: "'Was wollt ihr trinken?' fragte Erwin. 'Lass mal eben, Erwin', sagte Ferdi. 'Nein, nichts lass mal eben! Das hier ist keine Hotellobby, ihr Knalltüten! Das ist eine Kneipe und da bestellt man sich was, wenn man da abhängen will!'. 'Ha! Kneipe! In der man nicht rauchen darf! Wie soll ich einen Kaffee trinken, wenn ich dazu nicht rauchen darf, das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!' sagt Ferdi" (S. 190).

Indessen kämpft Frank als Aushilfe hinter der Theke um Anerkennung als Experte für Milchkaffee, der gerade in Berlin zum Modegetränk avanciert. Das Café Einfall ist der Hot-Spot des Romans, hier trifft sich eine recht bunte Truppe aus dem Kiez: Die Bandmitglieder von Glitterschnitter, die mit der Bohrmaschine ihre Demotapes aufnehmen, die österreichischen Hausbesetzer P. Immel und Kacki von der ArschArt-Galerie, der Konzept-Künstler H. R. Ledigt, der eine Ikea-Musterwohnung aufbaut, sein Manager Wiemer, der verliebt ist in Kerstin, Schwester von Erwin, die angereist ist aus Stuttgart in Sorge um ihre Tochter Chrissie, die im Berliner Kiez Fuß fassen will und von ihrer Mutter genervt wird, der Kontaktbereichsbeamte, der fast eine Massenschlägerei mit Punks verursacht, Lisa, die Saxophon spielt und ihre Freundin Leo: "Im Café Einfall fühlte Leo sich nicht unwohl, ein Scheißname zwar, aber der Laden ganz okay, wenn man von den vielen Hippie-Punks mal absah, die sich da drin breit machten, und mittendrin die Glitterschnittertypen mit Lisa, und gleich Hallihallohallöle, na ja, das war dann ja wohl dieses Kreuzberger-Nächte-sind-lang-Ding, sie wusste schon, warum sie das scheiße fand!" (S. 435).

Sowohl die beiden "Alpenrepublikchauvinisten" 'Kacki' und 'Jürgen 3' als auch Frank Lehmann aus Bremen haben es in Berlin nicht leicht. Was sollen sie denn auch machen in dieser Stadt, "... die jetzt, Anfang Dezember, immer kälter und kälter und immer dunkler und dunkler wurde, deren Luft als gelber Nebel unbeweglich in den Straßen stand und die Lungen und Gemüter verpestete" (S. 13). Freddy, der als Versuchskaninchen für ein neues Psycho-Medikament in einem Kudamm-Hotel wohnt, klärt seinen jüngeren Bruder Frank darüber auf, wie Berlin tickt: "... in Bremen bist du entweder immer schon da und dann geht's oder du brauchst ewig, damit die Leute dich akzeptieren. Hier ist das anders, hier kann jeder gleich mitmachen, kein Schwein denkt über dich nach und keiner nimmt dich ernst oder nicht oder nicht ernst, ernstgenommen zu werden spielt ja überhaupt keine Rolle. Hier sind alle irgendwie gleich unwichtig oder gleich unernst oder wie auch immer" (S. 280).

Auch die Hausbesetzer der ArschArt-Galerie diskutieren ihre Identität und streiten ernsthaft in ihrem Plenum darüber, wer ein ganzer und wer nur ein halber Österreicher sei. Ihr Wortführer und Diskussionsleiter P. Immel fragt sich verwirrt: "... wo ist meine Kontrolle hin, nein, nicht Kontrolle, ich denke zu viel wie ein Deutscher, rief sich P. Immel gedanklich selbst zur Ordnung, obwohl, zur Ordnung, nein, nicht Ordnung, dachte er, Ordnung falsch, nicht Ordnung, Schlamperei, ich muss wie ein Österreicher denken, die Verwirrung war komplett und er gab das Denken ganz auf, das bringt doch nichts, dachte er, das muss doch mal aufhören!" (S. 61).

Sven Regener hat wieder einmal einen herrlich durchgeknallten, hintersinnigen und atmosphärisch dichten Roman geschrieben mit aberwitzigen, absurden Dialog-Feuerwerken (im Wechsel berlinerisch, wienerisch, hochdeutsch), schrägen und liebenswerten Figuren und schrillen Einfällen.


Sven Regener: Glitterschnitter. Galiani Verlag, Berlin 2021. Taschenbuch, 480 Seiten, 24 Euro.

*

Quelle:
© 2023 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 12. Mai 2023

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang