Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → MEINUNGEN

BUCHBESPRECHUNG/010: "Bedingungslos für Israel?" (Arn Strohmeyer)


"Bedingungslos für Israel?"

Sophia Deegs und Hermann Dierkes Nahost-Buch zeigt das Dilemma der deutschen Linken angesichts der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern auf

Von Arn Strohmeyer, April 2010


Die Parteiführung der Linken in Berlin erhielt in letzter Zeit des Öfteren Post aus Israel von der dortigen Linken - geharnischte Briefe zumeist, die es in sich haben. Fordern die israelischen Genossen von ihren deutschen Parteifreunden mit Nachdruck doch nicht mehr und nicht weniger als eine nachhaltige Unterstützung ihres Kampfes gegen die israelische Besatzung in den Palästinenser-Gebieten. In einem Schreiben vom 27.3.2010 appellieren etwa hundert Aktivisten der israelischen Linken an die deutsche Linkspartei, die "richtigen" Konsequenzen aus der deutschen Geschichte zu ziehen und zu den Vorgängen im Nahen Osten nicht zu schweigen. Die israelischen Linken äußern ihr völliges Unverständnis, dass führende Mitglieder der LINKEN im Januar 2009 bei Demonstrationen die weitere Bombardierung des Gaza-Streifens gefordert hätten. Auch die Tatsache, dass es in der Linken eine Jugendorganisation (BAK Shalom) gebe, die jedes militärische Vorgehen Israels unterstütze und militaristische und nationalistische Propaganda für Israel betreibe, können die israelischen Linken nicht nachvollziehen. Dass den israelischen Genossen die offizielle deutsche Nahost-Politik nicht gefällt, versteht sich von selbst: Sie machen der schwarz-gelben Bundesregierung in Berlin den Vorwurf, durch ihre diplomatischen und militärischen Aktivitäten einer der Akteure zu sein und für die von Israel begangenen Verstöße gegen das Völkerrecht und die israelischen Kriegsverbrechen mit verantwortlich zu sein.

Und natürlich steht da ganz besonders die Frage im Raum: Wie steht es da mit der Verantwortung der deutschen Linken? Wo bleibt ihr solidarischer Protest? Einer der Unterzeichner des Briefes, der Israeli Yossi Wolfson, hatte schon zuvor ein Schreiben an die "wahre deutsche Linke" formuliert. Er berichtet darin von dem Schock, den er bei seinem letzten Besuch in Deutschland erlebte, als ihm klar wurde, dass es in der deutschen Linken eine lautstarke Gruppe gebe, die die Solidarität mit seinem Kampf gegen die Besatzung, Unterdrückung, Völkerrechtsbruch und Kriegsverbrechen als Position eines mit "Selbsthass" infizierten Juden bezeichne. Israelische Politiker der äußersten Rechten, die für diese Politik verantwortlich seien, würden von deutschen Linken als "Helden" verehrt. Fassungslos fragt Yossi Wolfson: "Wie kann es sein, dass diejenigen, die sich in der Nachfolge von Marx, Luxemburg und Adorno wähnen, einen Krieg unterstützen, die wahllose Tötung von Zivilisten, wirtschaftliche und politische Ausbeutung und Unterdrückung, Apartheid und Kolonialismus!" Auch Yossi Wolfson sieht eine Instrumentalisierung des Holocaust, bei dem viele seiner Verwandten ermordet worden seien. Er klagt die deutsche Linke direkt an: "Diese neue Rechte, die vorgibt, eine Linke zu sein, missbraucht die Opfer der Naziherrschaft, angeblich für mein Leben und für meine Zukunft. Mir graust es. Und ich will rufen: 'Nicht in meinem Namen!'"

Yossi Wolfsons Brief ist in dem von Sophia Deeg und Hermann Dierkes herausgegebenen Buch "Bedingungslos für Israel? Positionen und Aktionen jenseits deutscher Befindlichkeiten" abgedruckt. Dierkes, der Oberbürgermeisterkandidat der Linken in Duisburg war, hatte öffentlich Boykottaktionen gegen Israel befürwortet, um so mit politischem Druck die israelische Regierung zur Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten zu bringen. Daraufhin starteten gewisse Presseorgane (etwa die WAZ) eine regelrechte Rufmordkampagne gegen Dierkes und warfen ihm "Antisemitismus" vor. Denn die Aufforderung, Israel zu boykottieren, erinnere an die NS-Parole: "Kauft nicht bei Juden!" Auch aus der eigenen Partei kam dieser Vorwurf, und Dierkes trat von seiner Kandidatur zurück.

Der Fall Dierkes hatte - so frustrierend und enttäuschend er sicher für ihn selbst war - aber auch seine gute Seite: Machte er doch mit aller Klarheit das Dilemma der deutschen Linken insgesamt (nicht nur der Linkspartei) mit der israelischen Politik deutlich. Und dieses Dilemma heißt: Ist Kritik an dem Vorgehen Israels gegen die Palästinenser "antisemitisch" - dem Vorgehen eines Staates, der seit mehr als vierzig Jahren palästinensische Gebiete unter einer drückenden (um nicht zu sagen: brutalen) Besatzung hält, die Bevölkerung dort unterdrückt und tagtäglich demütigt, systematisch Operationen ethnischer Säuberungen durchführt, die palästinensische Infrastruktur zerstört und immer wieder auch regelrechte Massaker anrichtet? Dies alles geschieht unter klarer Verletzung des Völker- und Kriegsrechts, der Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen und vieler UNO-Resolutionen. Was ist - die Verbrechen der Nazis an den Juden immer im Blick - die richtige Antwort auf Israels völkerrechtswidriges Vorgehen? Aus Furcht vor dem Vorwurf des Antisemitismus schweigen, in staatspolitische Ausflüchte von der angeblichen "Staatsräson" gegenüber Israel ausweichen und so die deutsche Mitverantwortung für Israels Tun leugnen oder die Dinge offen beim Namen nennen und Druck auf Israel auszuüben?

Es versteht sich von selbst, in welche Richtung die Antwort von Deeg und Dierkes in dem Buch geht. Aber die beiden Herausgeber haben es sich nicht leicht gemacht und bieten keine vorschnellen Schlussfolgerungen an. Sie bieten über zwanzig kompetente Autoren auf - darunter auch viele Juden und Israelis - , die zu der oben genannten Frage Fakten anbieten und Stellung nehmen. Herausgekommen ist dabei ein Kompendium, das den Nahost-Konflikt von so gut wie allen Seiten beleuchtet und den Verteidigern der israelischen Politik das Argumentieren schwer macht. Denn wer die Einhaltung von humanitärem Völkerrecht und Kriegsrecht, Menschenrechtscharta und UNO-Resolutionen rundweg ablehnt und für Israel eine Sonderstellung fordert, auf welcher Basis soll man mit dem noch debattieren? Der Fall Dierkes, der mit seinen unseligen Folgen den Streit ausgelöst hatte und sicher der Anlass für die Abfassung des Buches war, spielt in dem Gesamttext aber nur eine Nebenrolle.

Was also bieten die Autoren des Buches als Antworten auf das deutsche Dilemma an: Bedingungslos für Israel oder bedingungslos für das Völkerrecht und die Menschenrechte?

Der Frankfurter Publizist Volkhard Mosler tritt Gregor Gysis These entgegen, dass vor allem der arabische Antisemitismus eine Friedenslösung im Nahen Osten verhindere. Mosler hält dagegen, dass es im Islam nie wie im Christentum einen Antijudaismus gegeben habe. Er sieht das entscheidende Hindernis für ein Ende der Gewalt im Vorgehen der zionistischen Bewegung: "So lange die jüdische Kolonisierung Palästinas weiter geht und keine Grundlage für ein gleichberechtigtes Zusammenleben und Miteinander beider Völker geschaffen ist, wird Israel weiter 'kulturell Europa (oder Amerika) im Nahen Osten' sein." Dass die Zionisten das im Übrigen genau so sahen und sehen, belegt er mit einem Zitat des Staatsgründers und ersten israelischen Ministerpräsidenten Ben Gurion, der 1938 schrieb: "Wenn wir sagen, dass die Araber uns angreifen und wir uns verteidigen, so ist das nur die halbe Wahrheit. Was unsere Sicherheit und unser Leben angeht, verteidigen wir uns. Aber das Kämpfen ist nur ein Aspekt des Konfliktes, der seinem Wesen nach ein politischer ist. Und politisch gesehen sind wir die Aggressoren und sie verteidigen sich:"

Es gibt unzählige Zitate von den zionistischen Führern, die die Realitäten in Palästina genauso klar aussprechen. Etwa diese Sätze, die Ben Gurion in einem Brief an Nahum Goldmann, den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, schrieb: "Wenn ich ein arabischer Führer wäre, würde ich niemals eine Einigung mit Israel anstreben. Das ist ganz natürlich: Wir haben ihr Land in Besitz genommen. Sicher, Gott hat es uns versprochen, aber was haben sie damit zu tun? Unser Gott ist nicht der Ihre. Wir kommen von Israel, das ist wahr. Aber 2000 Jahre ist das her, was geht sie das an? Es hat Antisemitismus gegeben, die Nazis, Hitler, Auschwitz, aber war das ihre Schuld? Sie sehen nur das Eine: Wir sind hierher gekommen und haben ihr Land gestohlen. Warum sollten sie das einfach hinnehmen?"

Mosler sieht im Gegensatz zu Gysi den Schlüssel zur Lösung des Konfliktes allein in der Einstellung der Gewalt Israels gegen die Palästinenser. Israel müsse aufhören, sich als 'weißer Siedlerstaat' zu verhalten, denn das heiße, die Palästinenser weiter als Untermenschen zu betrachten ("Tiere auf zwei Beinen", wie der frühere israelische Regierungschef Menachem Begin die Araber zu bezeichnen pflegte.)

Die Mitherausgeberin Sophia Deeg fragt in ihrem Beitrag, wie es möglich sei, dass die Armee einer "westlichen Demokratie" und eines "Rechtsstaates" wie Israel Zivilisten abschlachte und andere schwere Verbrechen begehe und auch die Intellektuellen und die Funktionsträger dort sich durch Schweigen oder Gleichgültigkeit "menschenverachtend" oder "barbarisch" aufführten. In allen westlichen Demokratien würde über diese Frage intensiv geforscht und publiziert, in Deutschland aber kaum. Deeg sieht in dieser Gedankenlosigkeit die Grundlage eines neuen oder wieder auflebenden alten Antisemitismus, der sich als Reaktion auf Israels Verbrechen zeige.

Felicia Langer, die Jahrzehnte lang in Israel Palästinenser vor den Gerichten verteidigt hat, also die Verhältnisse aus eigener Anschauung bestens kennt, prangert die Instrumentalisierung des Holocaust dort an. Die nun schon über vierzig Jahre währende Herrschaft über ein anderes Volk habe die moralischen Werte in Israel pervertiert und erodieren lassen. Die ständige zionistische Propaganda, dass die Palästinenser und die Araber einen neuen Holocaust gegen Israel planten, habe ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Missbrauch des Holocaust spiele in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die Propaganda stilisiere das Land und das Volk als ewiges Opfer, obwohl das wirkliche Opfer die Palästinenser seien. Sie appelliert an die Deutschen, die in ihrer Geschichte schon einmal mehrheitlich geschwiegen hätten, die richtige Lehre aus dem Holocaust zu ziehen. Und die heiße: Menschlichkeit und Solidarität zu üben. Oder anders gesagt: Sich überall dort einzumischen, wo Menschenrechte verletzt würden.

Der deutsche Jude Hajo G. Meyer (Jahrgang 1924), der aus Bielefeld stammt, Auschwitz überlebte und heute in Holland lebt, erinnert die Politiker des Westens und vor allem der EU an die vielen Verträge, die sie mit Israel geschlossen haben, in denen stets von gemeinsamen Werten die Rede sei - im Besonderen von Demokratie, Anerkennung der Menschenrechte und der Einhaltung des Humanitären Völkerrechts. Warum fordere man dies von Israel nicht ein? Die stillschweigende Duldung des permanenten Rechtsbruchs durch Israel komme einer Kollaboration gleich und könne natürlich keine Änderung der israelischen Politik herbeiführen. Meyer macht eine propagandistische Begriffsverwirrung dafür verantwortlich, dass heute Kritik an der israelischen Politik mit Antisemitismus gleich gesetzt werde, ohne das mit rationalen Argumenten nachweisen zu müssen.

Meyer stellt klar: Antisemitismus geht immer davon aus, "dass Jude-Sein eine dem Menschen immanente, wesentliche (natürlich äußerst negative) Eigenschaft ist, die also durch Blut und Rasse bestimmt und per definitionem nicht zu ändern ist." Beim Antizionismus, der die israelische Politik kritisiere, weil sie internationalem Recht, den Menschenrechten und dem Humanitären Völkerrecht zuwiderlaufe, handele es sich aber um eine völlig andere Art der Ablehnung: Sie erfolge nicht aufgrund eines angenommenen unveränderlichen Wesens von Menschen oder einer Gruppe von Menschen, sondern wegen einer bestimmten Art von Politik, die aber veränderbar sei.

Der Brite Michael Klug von der Organisation "Independent Jewish voices" versucht eine Antwort auf die Frage, warum Israel permanent fordere, sein "Existenzrecht" anzuerkennen. Die ganze Debatte sei eher kurios, denn von den 192 auf der Welt existierenden Staaten stelle allein Israel die Akzeptierung dieser Bedingung. Wenn aber Israel ein Staat im Sinne der UNO-Charta sei (was ja zweifellos der Fall ist, denn Israel verdankt seine Entstehung einem UNO-Beschluss), dann setzten diese Rechte die Existenz des Staates voraus, denn ein nicht existierender Staat könne auch keine Rechte haben. Klug sieht in der "unerlässlichen Bedingung" der Anerkennung des "Existenzrechtes" denn auch lediglich ein propagandistisches Mittel der Verwirrung: "Die Aussage 'Israel hat ein Existenzrecht' ist in jedem ihrer Teile und als Ganzes so vage wie eine Wolke - und so glitschig wie ein Aal."

Denn, fragt Klug, was bedeute es zu sagen, ein Staat habe ein 'Existenzrecht', wenn dieser auch nach 60 Jahren Existenz immer noch keine festen Grenzen habe? Solle man also sagen: "Israel hat irgendwo zwischen Mittelmeer und Jordan ein Existenzrecht?" Und: "Was ist Israel - ein "jüdischer Staat" oder der "Staat der Juden" oder der "Staat des jüdischen Volkes"? Wer oder was aber gelte als jüdisch? Auch die meisten Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die auch nach rabbinischer Auffassung gar keine Juden seien? Klug folgert: "Die Unterstützung des 'Existenzrechts' Israels ist die Unterzeichnung eines Blankoschecks, weil die Formulierung so unklar ist." Mit dem Akzeptieren der Formel vom "Existenzrecht" mache man sich im Grunde die umfassende politische Ideologie des jüdischen Nationalismus zu eigen, der sich in seinem Anspruch auf ganz Palästina beziehe.

Und Klug warnt. Die ständige israelische Rhetorik vom "Existenzrecht" unterstelle, dass das Land andauernd unter der Bedrohung seiner Existenz stehe, was aber nur die isolationistische Haltung Israels in der Region und die militaristische Denkweise verstärke - nach dem Motto: Die existenzielle Bedrohung rechtfertigt jede unserer militärischen Maßnahmen. Uns ist alles erlaubt. Klug: "Wenn Israel diese kriegerische Haltung nicht ändert, werden die Konsequenzen für Israel ebenso fatal sein, wie sie für andere tödlich sind. Die israelische Rhetorik von der 'Existenz', die Teil seiner kriegerischen Haltung ist, gefährdet genau dies, seine Existenz."

Der israelische Anthropologe und Menschenrechtsaktivist Jeff Halper erinnert daran, wie sehr Israel seine eigenen Geschichte verdrängt. Die tragische Vertreibung der Palästinenser 1948 und die Enteignung ihres Besitzes sei nie ein Thema gewesen. Wer bis zu den Oslo-Verträgen 1993 das Wort "Palästinenser" in den Mund genommen habe, sei gleich als "Antisemit" gebrandmarkt worden. (Nur zur Ergänzung: Die Regierung von Benjamin Netanjahu hat gerade ein Gesetz durch das Parlament gebracht, das jede öffentliche Erwähnung der "Nakba" - der palästinensischen Katastrophe von 1948 - unter Strafe stellt. Den Palästinensern soll also neben ihrem Land auch die Erinnerung an ihre eigene Geschichte genommen werden!) Da war es nur konsequent, dass Israel die Palästinenser nur als "Nicht-Existente" oder als "Terroristen" wahrgenommen hat oder wahrnimmt, schreibt Halper. Auch heute werde das Wort "Besatzung" in Israel nicht benutzt, man spreche nur vom "Kampf gegen den Terror". Mit "Nicht-Existenten" oder "Terroristen" führt man natürlich auch keine Friedensverhandlungen. Halper erkennt in dem so genannten "Friedensprozess" aus israelischer Sicht auch nur eine einzige Absicht: jede Lösung aufzuschieben, die Israel Zugeständnisse abfordern würde und die politische Deckung nutzen, um unumkehrbare Fakten zu schaffen - etwa mit dem Bau der Siedlungen im Westjordanland, in Ost-Jerusalem und auf den Golanhöhen.

Halper sieht in Israels Umgang mit den Palästinensern ein völlig neues Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das als solches genau wie andere massive Verstöße gegen Menschenrechte der universellen Rechtsprechung der internationalen Gerichte unterliegen sollte. Mit der kanadisch-jüdischen Wirtschaftswissenschaftlerin Naomi Klein teilt er die These vom "Entsorgen" oder "Zwischenlagern" der "überflüssigen Teile der Menschheit", die diese in ihrem Buch "Die Schockstrategie" dargelegt hat: "Israel hat ein System von Freiluftgehegen für Millionen Menschen geschaffen, die man als überflüssig eingeordnet hat. Die Palästinenser sind nicht die einzige Bevölkerung, die unter diese Kategorie fallen (...) Diese Art der Entsorgung von 25 bis 60 Prozent der Menschheit war das Markenzeichen des Kreuzzugs, den einst die (wirtschaftwissenschaftliche, neoliberale) 'Schule von Chicago [von afrika, Russland und New Orleans etwa verbarrikadieren sich die Reichen hinter Mauern. Israel hat diesen Entsorgungsprozess noch einen Schritt weiter getrieben. Es hat um die gefährlichen Armen eine Mauer gezogen."

"Zwischenlagerung" und "Entsorgung" in ummauerten Gefängnissen oder Bantustans, so sehe für Israel die "Lösung" für die Palästinenser in den besetzten Gebieten aus, die dann mit Hilfe einer kollaborierenden palästinensischen Führung international als "Zweistaatenlösung" verkauft werden solle und in ihrem Trend voll im globalen kapitalistischen Trend der "Entsorgung" des überflüssigen Teils der Menschheit liege.

Breiten Raum nimmt in dem Buch von Sophia Deeg und Hermann Dierkes der Themenbereich "Israel und das Völkerrecht" ein. Norman Paech, der für die LINKE als Außenpolitischer Sprecher im Bundestag saß, und seine Mitarbeiterin Kerstin Seifer legen im Einzelnen dar, wie weder die Besatzung, der Mauer- und Siedlungsbau noch der Raub der Ressourcen durch Israel in den besetzten Gebieten mit dem Völkerrecht in Einklang stehen. Ausführlich gehen die beiden Experten für internationales Recht auch auf den Gazakrieg 2008/09 ein. Sie bestreiten Israel das Recht auf "Selbstverteidigung" und belegen das mit der Vorgeschichte des Krieges. Denn erstens habe die Hamas sich an den vereinbarten Waffenstillstand gehalten und zweitens habe die israelische Regierung zugegeben, dass sie den Angriff auf den Gazastreifen von langer Hand vorbereitet habe, was belege, dass die Qassam-Raketen nicht der Anlass für den Angriff gewesen sein.

Paech und Seifer konstatieren in Übereinstimmung mit UNO-Kommissionen und Menschenrechtsorganisationen in diesem Krieg vielerlei Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht durch Israel. Vor allem sei sein Vorgehen - gemessen an dem Kriegsziel, die Hamas zu schwächen und den Raketenbeschuss zu unterbinden - völlig "unverhältnismäßig" gewesen. Paech nennt die 23 Tage diese Krieges "barbarisch" und fordert weitere Untersuchungen, um die völkerrechtliche und strafrechtliche Verantwortung festzustellen. Die beiden Völkerrechtler ziehen folgende Bilanz: "Israel hält weiterhin an der Besatzung der palästinensischen Gebiete fest und verletzt trotz aller Appelle die Gebote und Verbote des Völkerrechts. Besatzungsregime sind aber nicht nur nach dem geltenden Völkerrecht als Dauereinrichtung verboten, sondern auch nach den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts ein Anachronismus der Politik. Sie ermöglichen nicht den Übergang vom Krieg zum Frieden, sondern schaffen zunehmend Widerstand und Gewalt, die immer wieder in offenen Krieg umschlagen.

Wie Israel mit solchen Vorwürfen umgeht, schildert das Vorstandsmitglied der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem Eyal Weizmann. Israelische Völkerrechtsexperten - so der Autor - arbeiteten daran, die Gewalt im Völkerrecht zu legalisieren: "Sie suchen nach Wegen, die Strategie groß angelegter Zerstörung so einzuführen, dass sie in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Humanitären Völkerrechts erscheint." Wie man das macht, erklärt Weizmann so: Das Humanitäre Völkerrecht unterliegt nach Ansicht der israelischen Experten ständigen Auseinandersetzungen um seine Auslegung. Mit anderen Worten: Durch die Praxis der militärischen Gewalt ließen sich die Gesetze "dehnen" und könnten - unterstützt von den nötigen juristischen Expertisen - schließlich neues Recht werden. Gewalt soll also Recht setzen. Der israelische Völkerrechtler und Militärberater Daniel Reisner erläutert das so: "Internationales Recht entwickelt sich durch seine Verletzung (...) ein Akt, der heute verboten ist, wird zulässig, wenn ihn genug Länder begehen." Man mag sich nicht ausdenken, was diese Rechtsauffassung - übertragen auf das zivile Leben bedeuten würde: Es müssen nur genug Leute Morde begehen, dann ist Mord eben kein Verbrechen mehr. Dieselbe Strategie, Unrecht zu Recht machen zu wollen, verfolgt Israel im Übrigen auch mit den Siedlungen: Die völkerrechtswidrige Praxis der Besetzung und des Siedlungsbaus muss nur so lange aufrechterhalten werden, bis sie nach einem angemessen langen Zeitraum eben völlig "normal" und "legal" ist.

Weizmann schließt aus diesem inhumanen Umdenken des Völkerrechts in Bezug auf den Gaza-Krieg: Man habe die Bevölkerung dort in zweierlei Hinsicht zum Gegenstand eines Experiments gemacht: "Erstens wurden alle möglichen neuen Geschosse und Kriegstechniken erprobt und vermarktet". Und: "Zweitens werden gewisse Grenzen getestet und ausgelotet: die Grenzen des Legalen, die Grenzen des Ethischen, die Grenzen des Tolerablen, die Grenzen dessen, was man im Namen des 'Kriegs gegen den Terror' Menschen antun kann."

Alle diese Beiträge aus dem Buch von Sophia Deeg und Hermann Dierkes, von denen hier nur eine kleine Auswahl vorgestellt wurde, belegen, dass das Dilemma des deutschen Verhältnisses zu Israel sehr real ist, gerade auch wegen der deutschen Vergangenheit und den Schlussfolgerungen, die man daraus zieht. Die Frage der Kritik an Israel oder des Boykotts mit der Absicht, von diesem Staat die Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten durchzusetzen, lässt sich eben nicht mit der Keule des Antisemitismus oder dem Ruf nach der "Staatsräson" aus der Welt schaffen. Dass eine Partei, die die universalen und emanzipativen Werte der Aufklärung hoch hält, hier eine besondere Verantwortung hat, versteht sich von selbst. Die Menschenrechte sind unteilbar - auch für Israel darf es davon keine Freistellung geben. Das Buch von Deeg und Dierkes gibt besten Anschauungsunterricht, dass gerade die LINKE sich an dieser wichtigen Frage nicht vorbeimogeln darf. Denn dieses Buch macht klar: Die Realitäten im Nahen Osten sind das Eine und die deutschen Befindlichkeiten das Andere. Man sollte sie nicht verwechseln.


Sophia Deegs/ Hermann Dierkes (Hg.):
Bedingungslos für Israel?
Positionen und Aktionen jenseits deutscher Befindlichkeiten
ISP-Verlag Köln/Karlsruhe 2010, 19,80 Euro


*


Quelle:
© 2010 Arn Strohmeyer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2010