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REZENSION/016: Horst Stern - Klint (Kulturkritik) (SB)


Horst Stern


Klint - Stationen einer Verwirrung



Viele werden sich noch an das sorgendurchfurchte Gesicht mit den pessimistisch heruntergezogenen Mundwinkeln erinnern, das dem Fernsehzuschauer der siebziger Jahre als Markenzeichen von "Sterns Stunde" entgegenblickte und unmißverständlich klar machte, daß vieles in der kreatürlichen Welt im Argen liegt. Der Moderator und Namenspate dieser vieldiskutierten Tiersendung Horst Stern hatte sich einen Ruf als streitbarer Journalist verschafft, der auch vor unpopulären Themen wie Tierversuchen und grausamer Tierhaltung nicht zurückschreckte. Gemahnten seine Ausführungen auch manchmal an die anprangernden Philippiken eines zur Selbstgerechtigkeit neigenden Moralisten, so resultierten sie zumindest in erregten Diskussionen unter den Zuschauern. Daß das jedoch nichts an den Verhältnissen in Tier- und Menschenwelt geändert hat, liegt Horst Stern offensichtlich schwer im Magen, denn sein vorliegender Roman schildert die überbordenden Reaktionen eines in seiner Weitsichtigkeit und Eloquenz verkannten Publizisten, der es schließlich vorzieht, den Weg alles Vergänglichen noch etwas abzukürzen.

Der namentlich nicht genannte Ich-Erzähler fährt im Frühjahr 1986 nach Triest, um eine Reportage über die Stadt, ihren riesigen Friedhof Santa Anna und das Spital San Giovanni zu verfassen. In diesem ehemaligen Zentrum der antipsychatrischen Bewegung Italiens hört er zum ersten Mal von Klint, einem Journalisten aus München, der sich hier einige Tage aufgehalten hatte und schließlich in einer Höhle in den Bergen erfroren aufgefunden worden war. Der neugierig gewordene Erzähler wittert eine interessantere Story, sucht die Höhle auf und findet dabei ein Bündel handschriftlicher Notizen, die ihn so faszinieren, daß er die dort niedergelegte Reise Klints im Laufe eines Jahres nachvollzieht und die Menschen besucht, die in dessen Aufzeichnungen auftreten.

Bei der Zeichnung von Klints Person kommt man nicht umhin, Mutmaßungen über den autobiografischen Anteil Horst Sterns am Entwurf des Menschen anzustellen, dessen gequältes Innenleben fast der einzige Gegenstand des Romans ist:

Klint war Journalist gewesen, einer von der unspezifischen, dafür in Leinen gebundenen Sorte, die man Publizist nennt. (...) Mit zunehmenden Jahren schien sich seine von ihm zwar diskret, aber doch unübersehbar für andere zur Schau getragene Distanziertheit noch verstärkt zu haben, und bald trug er sie als einen von Gefühlen entleerten, Kälte abstrahlenden Raum um sich herum, so wie eine undressierte Raubkatze ihre Flucht- und Angriffsdistanz stets mit sich trägt: Überschreitet man die äußere Grenze eines solchen Individualraumes, so weicht das Tier aus, verletzt man die innere, attackiert es im Zorn. In dieser Entfremdung von den Menschen ist gewiß der Grund zu suchen für Klints späteren Rückzug in die Essayistik, wo die kühle Reflexion des mit feinsten Antennen Aufgenommenen herrscht, wo der Gedanke zählt und das abgewogene Wort. Ich fand eine diesbezügliche Randglosse in einem seiner Texte: 'Zum Greuel geworden ist mir die einem Interviewpartner abgewonnene direkte, meist banale Rede und die Vulgarität gedankenarmer, vor action keuchender Sätze, die sich meist auch noch an einer Interpunktion verschlucken, wie sie von manchen Redakteuren in sie hineingeworfen wird wie Fleischbrocken in einen hechelnden Hund.'

Vielleicht sollte man noch erwähnen, daß Horst Stern als Initiator und Herausgeber der Zeitschrift Natur auch über einschlägige Erfahrungen im Bereich der Print-Medien verfügt. Daß er damals die spröden Satzkonstruktionen eines Klint nicht abdrucken konnte, weil er sich den Zwängen einer unter kommerziellem Erfolgsdruck stehenden Zeitschrift beugen mußte, mag zu seinem Ausscheiden aus diesem Metier beigetragen haben. Das folgende exemplarische Zitat aus der Perspektive Klints über die "globale Verschmutzung der Erde" soll die vermeintlichen Grenzen redaktioneller Möglichkeiten aufzeigen, und mit ihm steckt Horst Stern den sprachlichen Rahmen einer Verfallsästhetik ab, die einmal mehr bestätigt, daß das Zelebrieren von Verwesung der kurze Weg zur dichterischen Inspiration zu sein scheint, da man sich nur an das anzupassen braucht, was ohnehin dominiert:

Komme ich an, wo ich noch niemals war, sehe ich, daß ich alles schon kenne. Es sind selbst die Orte mit den magischen Namen schon mit einem Schmutzfilm überzogen, der kein in Würde gealterter Firnis ist. Es faulen diese Orte von außen und haben ihre Fäulnis vom fauligen Denken, sind sie doch Gedankenorte, und keiner ist von der Fäulnis ausgenommen. - Nicht die capricornischen Joseph-Conrad-Orte mit den großen, sich träge drehenden Ventilatoren über den Kneipentresen. Wo früher von Malaria vergilbte, vom Tod abgemahnte, gleichwohl in rohseidenen Anzügen einhergehende Weiße den schlitzäugigen Barfrauen am hibiskusroten Abend in die Kleidausschnitte fielen (und am safrangelben Morgen in die Schmuddelbetten), da sitzen heute die Jogging-Shoe-Kids mit den Billigtickets von Hongkong Air und den Wegwerfkameras von Kodak und halten ihre halbsteife Lust auf curryfarbenes Fleisch mit Aidsängsten nieder. - Nicht die einst blauen Buchten mit den grün wogenden Schatten des Wasserfarns auf rosaquarzenem Grund. Es beißen ihn nun die rostigen Anker der Tankschiffe. Der schlierige Abschaum aus ihren Bäuchen ist Letzte Ölung für ein Wasser, das schon sein Leichenhemd trägt, eines, das bestickt ist mit braunblasigem Teerschaum und zersplitterten Paletten, mit leeren Whiskyflaschen und zerfledderten Tabak, mit Waschmitteltrommeln und Mennigeeimern, mit kopflastig schwimmenden Kondomen und fett eingeschwärzten toten Möwen. (...) Was die Kritiker solcher Texte anging, so sagte er von ihnen: Es seien dies Kollegen, die mutlos wurden im langen Sklavendienst an Lesern und Verlegern, bucklig geschliffen vom Strom trivialer Texte, der über sie hingeht und dem sie kein säuberndes Wehr mehr sind in einer Zeit jedweden Mülls, materiellen wie geistigen, und dessen rasch wachsende Halden vielen noch immer als die wahren Pegel von Fleiß und Wohlstand gelten. Das sei so, als nähme einer die sich mehrenden syphilitischen Schwären an seinem Leib für den Ausweis eines erfüllten Trieblebens und nicht als das, was sie in Wirklichkeit sind: Anzeichen heraufziehender Wüstungen in Körper und Seele.

Die Unterscheidung von natürlichen Verwesungsprozessen und forcierter Fäulnis zeigt, daß Horst Stern keinen grundlegenden Einwand gegen Zerstörung und Niedergang hat, es geht ihm lediglich um die Form, die doch bitte stilvoll und kultiviert zu sein hat. Daß die vermeintliche koloniale Idylle für die eingeborenen Statisten mindestens genauso grausam war wie die heutige Invasion durch Massentourismus, interessiert den Autor wenig, er hängt den Zeiten nach, in denen der weiße Sahib noch der unumstrittene Herr der Welt war und nicht jeder Hans und Franz den Fernen Osten bereisen konnte. Auch die Faszination, mit der die Zerstörung der Meere ausgeschmückt wird, weist Horst Stern als professionellen Untergangsapologeten aus, der erst recht Probleme bekäme, wenn der Gegenstand seiner literarischen Anstrengungen nicht die beklagenswerten Merkmale aufwiese, die sich so bunt verpacken lassen. So bleibt der kritische Impetus des Autors als bloßer Anspruch auf der Strecke, und es zeigt sich ein zutiefst beleidigter, die degenerierte Umwelt bezichtigender und damit eigene Geistigkeit überhöhender Individualist, der sich auf die Suche nach den Schuldigen begeben hat, denn Recht zu haben scheint die letzte mögliche Genugtuung in einer Welt zu sein, in der man nicht die Würdigung erfährt, die einem von Rechts wegen zusteht.

Daß sich ein Publizist nicht vorstellen kann, daß außerhalb des Spannungsbogens von Veröffentlichung und Publikumsreaktion als grundlegendem Bestätigungsmodus persönlicher Realitätsbewältigung noch andere Möglichkeiten der Lebensgestaltung und Einflußnahme existieren, ist verzeihlich, daß das Ausbleiben dieser Reaktion, die Umformung der Wirklichkeit im Sinne des Schreibers, diesen zum beklagenswerten Opfer der Umstände macht, zeigt allerdings die Selbstüberschätzung eines Medienarbeiters, der meint, das eigentliche Leben spiele sich im Reigen der Worte und Buchstaben ab. Und liegt es auch auf der Linie psychosozialer Verfügungsstrukturen, dem frustrierten Opfer vergeblicher Veränderungsbemühungen seinen Platz im Versorgungsstrang zuzuweisen, um die Reste möglicher Rebellion im Sinne einer Umkehr der vermeintlichen Zwangsverläufe zu unterbinden, so sollte doch gerade die selbsternannte Elite der Warner und Kritiker nicht den Verlockungen dieses Angebots anheimfallen.

Mit der kausalen Verknüpfung von Klints psychiatrischer Karriere und dessen Scheitern, durch journalistische Arbeit die Welt zu verändern, reduziert Horst Stern die Möglichkeiten tatsächlicher Veränderung auf Einschaltquoten oder Auflageziffern. Schuld ist die Ignoranz der dem elaborierten Feinsinn Sternscher Prägung unverständig und ablehnend gegenüberstehender Zeitgenossen, die offensichtlich nicht in der Lage sind, die tiefsinnigen Betrachtungen mit einer Veränderung ihrer lebensfeindlichen Einstellung zu honorieren. Doch auch eine Leserschaft aus begeisterten Klints, die sich in dessen Worten wiedererkannt und zutiefst verstanden fühlte, verbliebe in der Faszination über die schillernden Farben der Fäulnis befangen und verstiege sich bestenfalls zu hochfliegenden Untergangselogen.

Die Einleitung des Klint-Biografen, in der die alle Traumbilder und Phantasien dominierende Beschwerde der anschließenden Ich-Erzählung programmatisch festgeschrieben wird, endet mit einer vorauseilenden Entschuldigung:

Ich beginne jetzt, Klints Texte in der Reihenfolge, wie ich sie für wahrscheinlich halte, wiederzugeben. (...) Gleichwohl kann ich dem Leser Gedankensprünge nicht ersparen. Auf Chronologie kann er nicht immer rechnen. Auch Fragen nach Ort und Zeit von Klints Schreiben müssen gelegentlich ohne Antwort bleiben. Den einzelnen Texten gab ich knappe Überschriften, gedacht als Wegzeichen am dunklen Strom Klintscher Bilder und Gedanken.

Mit dem vermeintlichen Kunstgriff des journalistischen Rechercheurs, der die literarischen Fragmente einer am Leid der Welt, eigentlich jedoch am eigenen gestörten Lebensgenuß zugrundegegangenen Existenz lediglich in Form und Reihenfolge bringt, läßt Horst Stern die ohnehin distanzierte und spröde Erzählweise seiner Romanfigur noch weiter veröden. Die Mischung aus Außen- und Innensicht verhilft der Figur Klints nicht etwa zu mehr Transparenz, sondern unterbricht die ohnehin nur mühsam zustandekommende Aktualität und die kaum vorhandene gefühlsmäßige Verbindung zum Geschehen. Auch erreicht der assoziative Charakter des Romans nicht die durch diese Stilart angestrebte Authentizität in der Wiedergabe persönlicher Eindrücke und Empfindungen, er führt im Zusammenhang mit dem teilweise geradezu pedantischen Aufzählen von Handlungsabläufen und der emotionslosen und distanzierten Schilderung zu einer nur mit Mühe durchzuhaltenden Lektüre.

Vieles am gewundenen Charakter der Erzählweise mag dem Versuch zuzurechnen sein, die innere Physiognomie eines verstörten, psychiatrische Klischees repetierenden Menschen zu gestalten, doch gewinnt man zunehmend den Eindruck, daß der vorgeblichen Verwirrung eine tiefe Sehnsucht nach sicherer Orientierung und überschaubarer Ordnung in der Lebensgestgaltung zugrundeliegt. Wann immer eine Grenze berührt wird, mit der sich der Kokon angestrengter Umschreibungen und vielfacher Anleihen an literarische und historische Identifikationsmomente sprengen ließe, schreckt Klint zurück und ergeht sich in einem weiteren Lamento über den Verfall von Kultur und Natur.

Wenn Klint zu Beginn seiner Aufzeichnungen davon spricht, daß die "Zeichen meiner geistigen Verwirrung (...) kaum noch deutbar waren als die bloß phantastischen Produkte eines schillernden Intellekts und der Sensibilität einer wie linksgewendet getragenen Haut", dann drängt sich einmal mehr der Verdacht auf, daß hier das Alter Ego des Horst Stern spricht, der einen Prototyp des durch Um- und Innenweltzerstörung fragmentierten Menschen schafft, der den moralisierenden Ausführungen des Autors als Projektionsfläche dient. Dieses empfindsame und vergeistigte Individuum wähnt sich nicht nur gänzlich unschuldig an der Zerstörung von Welt und Wesen, es ist als klassischer Opfertypus auch noch dazu legitimiert, der Menschheit sein Leid vorzuhalten und schließlich an der genußvollen Schilderung desselben zu verenden.

Das eigentliche Thema des Romans liegt in der Rechtmäßigkeit der Bezichtigung, im tiefen Glauben an den Sinn einer Ordnung, vor der sich bereits kleinste Unregelmäßigkeiten als irritierende Verwirrung abheben. Denn was sich vor dem imaginativen Auge des Lesers entrollt, kann kaum die erforderliche Spannung für den im Klappentext versprochenen "Blitz", der "in unseren behäbigen Alltag schlägt", aufbauen oder auch nur zur kritischen Reflexion veranlassen. Horst Stern gibt sich alle Mühe, die "Stationen einer Verwirrung" zu nichts weiter gereifen zu lassen als zu Fußnoten seiner humanistischen Bildung und zur Kulissenlandschaft eines modernen Steppenwolfs, dessen magisches Theater sich als ausschließlicher Spiegel der eigenen Abscheu und der unbewältigten Verstrickung in die Belange der Welt präsentiert.

Die erste der drei Episoden, in die das Buch durch die geographischen Stationen Madrid, Rom und Arkadien grob eingeteilt ist, handelt vor allem von einer Astronomin, von der Klint sich angezogen fühlt und deren Beziehung zu einem dem Zölibat verpflichteten Priester Anlaß zu seitenlangen Überlegungen ob der Natur einer solchen Verbindung bietet. Die offensichtliche Verurteilung dieser Liaison hält Klint nicht von einem Besuch im Bordell ab, wo er seiner voyeuristischen Moral treu bleibt und sich voller Abscheu und Verachtung für die Frauen des Hauses abwendet. Die allen Schilderungen zugrundeliegenden Selbstreflexionen bemühen sich zwar um den Anschein des Zweifels an der eigenen Person, dieser gerät jedoch als allzu offensichtliches Produkt äußerer Umstände zur Schaltstelle umfassender Bezichtung.

Neben den üblichen niederen Profit- und Triebinteressen werden alle geistigen Einstellungen und Haltungen für das Leid der Welt zur Verantwortung gezogen, die der postulierten Dünnhäutigkeit und Empfindsamkeit Klints konträr gegenüberstehen. Daß dieser inmitten mundaner Verirrungen ein guter Mensch und bemitleidenswertes Opfer geblieben ist, wird bei der Betrachtung des Triptychons von Hieronymus Bosch im Madrider Prado deutlich, wo Klint denjenigen Teil des Bildes kommentiert, der für den Schutzumschlag des Buches ausgewählt wurde:

Zwar sagte ich mir, daß ich neugierige Blicke nur wegen meines Stockstuhls auf mich zog, doch war ich mir nicht sicher, ob nicht doch der eine oder andere in mir jenen Mann wiedererkannte, dessen Gesicht mondgleich ruhig und bleich aus der Mitte des Pandämoniums hervorleuchtet, groß wie kein anderes unter den unzähligen auf der Tafel, und auch so menschlich wie keines. Es gibt wirklich eine Ähnlichkeit der Nase, des Mundes und des länglichen Kinns zwischen meinem Gesicht und dem des Mannes inmitten des Gemäldes: wissende, alles sehende dunkle Augen und ein kleines Lächeln um den breiten, dabei schmallippigen Mund, das ebenso dem Mitleid des Artgenossen entsprungen sein kann wie der traurigen Genugtuung des Augurs, der längst alles hat kommen sehen.

Die hehren Charakterzüge seines Protagonisten hindern Horst Stern nicht daran, diesen auf die Frau seiner Träume offensiv zugehen zu lassen und sie mit der Androhung moralischer Verdammnis zu konfrontieren. Er verleiht seinen sexuellen Phantasien ziemlich grob Ausdruck und erweist sich dabei als aufdringlich und penetrant. An dieser Stelle offenbart sich das aggressive Potential einer Haltung, die erhaben alles andere beurteilt und dabei nichts bestehen läßt außer der Einzigartigkeit des eigenen Geistes. Die vorgetragene Empfindsamkeit erweist sich als der gegen sich selbst gewandte Stachel eigener Begierden und Obsessionen, das moralische Klagelied als Versuch, die eigene Beteiligung am Zerstörungswerk an der Natur zu verbergen und zu vergessen. Es hätte der Romanfigur gut angestanden und sie in ihrer Betroffenheit glaubwürdiger erscheinen lassen, wenn sie grundlegende Überlegungen über das Wesen der Moral und ihrer Funktion im Rahmen menschlicher Bezichtigung angestellt hätte, so verbleibt sie jedoch in der ungebrochenen Selbstgerechtigkeit genau der Menschen, die immer wieder zur Zielscheibe Klintscher Verurteilung werden.

Der vermeintliche Konflikt zwischen eigenen Ansprüchen und dem abstoßenden Gebaren der Menschen, die Klint umgeben, dominiert auch die nächste Episode, in der Klint sich in Rom aufhält. Dort besucht er ein Haus, in dem durch technische Tricks als Kentauren präsentierte Menschen und Pferde dazu benutzt werden, von gesellschaftlich hochstehenden Männern Samenproben zu bekommen, die zur künstlichen Befruchtung und für genetische Experimente verwendet werden. Dabei kommt es zum Mord an einer von Klint begehrten Frau, und zunächst wird er selbst als Täter verdächtigt, nach einem demütigenden Gefängnisaufenthalt aber entlastet.

Die Geschichte von den Kentaurn mit der hochgestellten Kundschaft wird ihm jedoch nicht geglaubt, stattdessen lädt man ihn zu einer psychiatrischen Untersuchung vor. Damit ist ein weiterer Bezichtigungsbogen gespannt, der Klints zunehmende Flucht in Träume und Phantasien begründet, denn die Gesellschaft ist offensichtlich nicht in der Lage, das Böse im Menschen, das er ausgemacht hat, zu erkennen. Das Leitthema des verkannten Warners und Untergangspropheten, dessen Worte nicht gewürdigt und dessen Empfindsamkeit nicht berücksichtigt wurde, mündet in die ausgiebige Beschreibung zunehmender Regression mit immer deutlicheren Hinweisen auf die finale Selbstzerstörung.

In diesem Sinne führt die dritte Episode, eine Reise auf den Peleponnes nach Arkadien, "in den Kopf des Vergil", in eine bizarre Mischung aus Anleihen an klassischer Hirtendichtung und poetisch verbrämten Auszügen aus Biologiebüchern. Klint soll die Reise nie vollzogen, sondern in Rom als ausschließliches Phantasieprodukt zu Papier gebracht haben. In einer erneuten Begegnung mit den Kentaurn diesmal in mythischer Originalgestalt durchreitet er Arkadien und kontrastiert den Zerfall der modernen Welt mit antiker Hirtenidylle:

Mit dem rechten Vorderfuß scharrte sie vorsichtig das weißliche Bodenmedium auf. Es entstand nach und nach ein großes kraterähnliches Loch, dessen Ränder bald aussahen wie die zusammengeschobenen Hautränder einer übergroßen Wunde. Ich beugte mich zur Seite und sah auf ein Meer von Organismen hinunter, in dem ich staunend den Mikrokosmos der Gene erkannte: Moleküle und Chromosomen, Enzyme, Proteine und Nukleotide, Ribosomen, Viren und Vektoren. Die Gewißheit, am Ende langer quälender Überlegungen endlich den richtigen Gedanken gefunden zu haben, wärmte mich: Die vermeintliche Nebeldecke war ein Kontinuum aus blasig aufgeworfenen und miteinander verwachsenen Eiweißhäuten lebender Zellen, die mitsamt ihren Kernen ins Riesenhafte gewuchert waren. Das erklärte auch die Behutsamkeit, mit der Melanippe bei der Eröffnung des Lochs ans Werk gegangen war. Ich war mir jetzt sicher: Wir standen auf der nacktgeschundenen Haut der Welt. (...) Und als die Mutterschlange dieser Genwelt erkannte ich die in jeder Zelle nistende Crix-Watsonsche Doppelhelix: ein mehrmeterlanges, um die eigene Längsachse gewundenes Gebilde aus zwei Fadenholmen mit Sprossen dazwischen, was ihm das Aussehen einer in sich verdrehten Strickleiter gab.

Hier zeigt sich das Dilemma einer hintergründigen Vision, bei der sich der Autor biologischer Termini bedient, die er erst noch in geläufigen Bildern erklären muß, um seine Phantasien plausibel werden zu lassen. Die explizite Schilderung der Genstruktur, der man den modellhaften und konzeptionellen Charakter ansieht, bricht mit der Poesie einer an und für sich interessanten Illustration, an deren Ende das "Tal der Chimären" steht, der eigentliche Anlaß für den Exkurs in die Welt der Mikrobiologie. Auch die Paralellen zur Mythologie wirken unverknüpft und nicht zu Ende geführt, denn ein Kentaur als antikes Pendant zur genetisch erzeugten Chimäre oder der bloße Vergleich des Schlangensymbols mit dem Modell spiralförmig gewundener Eiweißkörper ohne weitere Einbindung in die klassischen Vorlagen gibt nichts her.

Was im Klappentext als "ergreifende, erschreckende Bilder" angekündigt wird, ermüdet eher durch die aufwendig konstruierten und gewollt wirkenden Szenarios. Horst Stern gelingt es nicht, dem Leser etwas vom abgründigen Schrecken nahezubringen, der ihn zweifelsohne beschäftigt. Seine Romanfigur verbleibt in der Erstarrung eines professionellen Beobachters, der die eigene Beteiligung am Geschehen nie zum Thema erhoben hat, sondern sich in seiner distanzierten Position gleichsam unberührbar wähnt.

So endet Klints Leben denn auch in der Meditationsposition des halben Lotussitzes, in der er erfroren aufgefunden wird. Mit diesem Arrangement gestaltgewordener Isolation interpretiert Horst Stern die Sitztechnik des Zen als Endpunkt tödlicher Versteinerung und letzte Fluchtmöglichkeit. Zuvor äußert sich Klint bewundernd über einige Zen-Mönche, die den Strahlentod in Hiroshima im Lotussitz erwartet hätten und später in dieser Position mumifiziert aufgefunden worden sein sollen - anders als in nekrophilen Farben scheint sich der Buddhismus à la Stern nicht malen zu lassen. Die Parallele Tschernobyl-Hiroshima wird deutlich gezogen, und der Autor vermittelt den Eindruck, als sei die Reaktorkatastrophe der i-Punkt auf der Belastbarkeitsskala Klints gewesen, die letztgültige Bestätigung, daß Selbstzerstörung im stilvollen Gestus einer Meditationsposition einem Weiterleben in den Widersprüchen der Welt vorzuziehen sei.

Der Autor bleibt der Anpassung an den großen Niedergang treu, und seine Romanfigur unterscheidet sich in nichts von den Menschen, die sich resigniert in Innerlichkeit zurückziehen oder mit der "Jetzt-erst-recht"-Attitüde einer kompromißlosen Egozentrik huldigen. Der Abgesang eines vormals im Rahmen publizistischer Möglichkeiten engagierten Streiters für die Überlebensmöglichkeiten von Tier und Mensch lohnt die Lektüre nicht, es sei denn, man möchte dem verkannten Rufer in der Wüste beweisen, daß die Adressaten des Klagelieds menschlicher Unzulänglichkeit doch nicht so ignorant sind, wie es den Anschein hat. Oder geht es Horst Stern, der offensichtlich ein über das reine Autorenhonorar hinausreichendes Anliegen verfolgt, um die Resonanz aller Klints dieser Welt, die ihre Krokodilstränen vielleicht einen eigenen Klub vergießen wollen? Doch ist schwer vorstellbar, daß sich bei soviel Selbstbezogenheit etwas finden läßt, das über die Suche nach Adressaten für die Last der Bezichtigung hinausgeht. Die deutsche Literatur ist als Transportmittel für Klagen aller Art jedenfalls längst überfrachtet.


Horst Stern
Klint - Stationen einer Verwirrung