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REZENSION/029: Herbert W. Franke - Zentrum der Milchstraße (SciFi) (SB)


Herbert W. Franke


Zentrum der Milchstrasse

Ein grundlegender Irrtum der Naturwissenschaften ...



Für Fans des Science Fiction ist es immer wieder spannend, wissenschaftliche Vorstellungen weiterzuentwickeln, bloße Theorien mit Leben zu füllen oder einfach Welten zu erschaffen, die sich fernab dessen befinden, was einem bekannt und vertraut ist. Science Fiction-Stories sind Geschichten, die unter anderem auf gängigen naturwissenschaftlich-technischen Wissenschaften basieren.

Der Schriftsteller Herbert W. Franke, 1927 in Wien geboren, gilt als Fachkundiger in vielen Wissenschaftsgebieten. Er studierte Physik, Mathematik, Chemie, Psychologie und Philosophie, promovierte an der Universität Wien mit einem Thema aus der theoretischen Physik zum Doktor der Philosophie. Seit 1957 ist er freier Schriftsteller und hat in seinen Science Fiction-Romanen bereits zahlreiche wissenschaftliche Themen auf spannende Weise abgehandelt.

Mit `Zentrum der Milchstraße' hat Franke einen Roman verfaßt, der sämtliche Vorstellungen von Natur und Technik, der Entstehung des Menschen und der Welt an sich über Bord wirft. Er entwickelt ein weltumstürzendes Modell, das jeden wissenschaftlichen Fortschritt zunichte macht und die Fundamente des Glaubens erschüttert. Allerdings ist die Menschheit geistig noch nicht reif genug, um mit diesem Wissen konfrontiert zu werden ... Ähnlich wie vor vielen hundert Jahren, als sich die Naturwissenschaft gegen die Religion durchsetze, so steht jetzt wieder eine neue Ära bevor, und vielleicht wird unsere Vorstellung von Natur und Technik, die wir heute für wahr halten, ebenso als vorsintflutlich abgetan, wie wir es mit dem Denken der Menschen aus dem Mittelalter tun.

Und daß eine solche Ära nicht ohne Schmerzen und Verluste zu Ende geht, läßt sich unschwer erahnen. Erinnern wir uns nur an die Geschichte von Galileo Galilei, der verzweifelt versuchte, mit einfacher Logik seine Theorien durchzusetzen und dafür vor Gericht als Ketzer verurteilt werden sollte. Ob auch bei diesem Wechsel die Menschen nicht bereit sind, Veränderungen zu akzeptieren und sich von Altbekanntem und Vertrautem zu verabschieden?


Ein Kloster mitten in der Milchstraße ...

Man schreibt das Jahr 2007. Im Zentrum der Milchstraße befindet sich ein Kloster. Es ist für Außenstehende nicht zugänglich. Wenige wissen überhaupt etwas von seiner Existenz. Nur ausgewählte Mönche, Wissenschaftler und Eingeweihte dürfen es betreten. Ihre Forschungen sind so geheim, daß nicht einmal alle innerhalb des Klosters das gesamte Forschungsprojekt durchblicken: Es geht darum, die etablierten Naturwissenschaften zu widerlegen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. "Wenn es nicht so ist, wie man es in der Schule gelernt hat, wenn die Naturgesetze gar nicht richtig sind, wie ist es dann?" Darüber erfährt der Leser einiges in dieser Geschichte, die zu einem großen Teil aus Lehrgesprächen und Dialogen der Mönche und einer spannenden Hintergrundgeschichte besteht.

Daß das ganze überhaupt an die Öffentlichkeit gelangt, hat der Leser nur zwei Personen zu verdanken: Alwin Katz, einem Informatiker, der von einem Institut auf recht skrupellose Weise in dieses Kloster eingeschleust wird, und einer jungen Wissenschaftlerin, Mona, die aufgrund ihrer Neugierde Nachforschungen über den Verbleib ihres ehemaligen Lehrers Katz anstellt.

Es begann so: Ein heruntergekommener Mann wird von der Straße aufgelesen, in ein Auto gezerrt und wacht in einem Kloster wieder auf. Seine Erinnerungen an die eigene Vergangenheit sind größtenteils verworren und ungenau. Es ist Alwin Katz, ein bekannter Informatiker. Was ist mit ihm geschehen?

Systematisch hatte das Institut, für das Alwin Katz arbeitet, das Leben des Informatikers zerstört, hatte durch Intrigen alle privaten Beziehungen zu anderen Leuten zunichte gemacht, ihn sein ganzes Geld in ein aussichtsloses Projekt investieren lassen - bis der einst so erfolgreiche Computerfachmann schließlich in der Gosse landete. Das alles war nötig, damit Alwin Katz in dieses geheimnisvolle Kloster aufgenommen werden konnte ...

Und dann gibt es noch Mona. Mona ist eine junge Wissenschaftlerin, deren sehnlichster Wunsch es ist, an einer Expedition in den Weltraum teilzunehmen. Eher zufällig erkundigt sie sich im Institut nach ihrem ehemaligen Lehrer Alwin Katz und erzeugt damit derart merkwürdige, geradezu bedrohliche Reaktionen, daß sie anfängt, den Werdegang des Informatikers einmal näher zu erforschen.

Alwin vermutet, daß alle seine Erinnerungen ausgelöscht wurden. Er lebt nur in der Gegenwart im Kloster mit den Mönchen und versucht, herauszufinden, was mit ihm los ist, wer er ist, warum er hier ist. Und dabei muß er feststellen, daß dieses Kloster nicht das ist, was es nach außen hin vorgibt zu sein.

Schritt für Schritt gelingt es ihm, in Gesprächen mit den Mönchen herauszufinden, was sie vorhaben. Sie forschen, und zwar mit modernster Technologie. Tief unten in den Gewölben des alten Gemäuers befinden sich supermoderne Computer- und Forschungsanlagen. Intensiv wird hier gearbeitet. Nachdem Alwin sich bereits eine ganze Weile in diesem Kloster aufhält, erfährt er auch einiges über die Zusammenhänge.

Hier wird eine solch weltumstürzende Grundlagenforschung betrieben, daß sie scheinbar die Grundfesten des Glaubens zu erschüttern geeignet ist. Dabei werden Verbindungen zwischen altehrwürdigen Überzeugungen und Erkenntnissen der modernen Informatik und Physik hergestellt. Und ganz besonders interessiert die Mönche, ob sich die Naturwissenschaften mit ihrem Glauben vereinbaren lassen. Natürlich sind sie diesbezüglich längst nicht alle einer Meinung, viele innovative Ideen werden von konservativeren Mönchen als reine Blasphemie aufgefaßt. Und plötzlich geschehen merkwürdige Morde ...

Alwin Katz findet heraus, daß der Täter aus metaphysischen Gründen, nicht aus Mordlust tötet. Mit akribischer Detektivarbeit sammelt er Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen und fügt es zu einem Bild zusammen. Er entdeckt, daß die einzelnen Mönche ihre Arbeit so ernst nehmen, daß eine starke Konkurrenz unter ihnen entstanden ist. Sie wird auch noch dadurch geschürt, daß Mönch Benedikt den Auftrag erhält, sich für nur ein Forschungsprojekt zu entscheiden, an dem alle weiterforschen sollen. Ihre bisherigen Studien hatten sich nämlich in die unterschiedlichsten, nicht mehr zu vereinbarenden Richtungen gespalten.

Allmählich deckt Alwin Katz das Mysterium um seine Vergangenheit auf: Er ist ein kleines Rädchen im Getriebe, der Teil eines Plans, mit dem das Geheimnis der Mönche gelüftet werden soll. Und während Mona dem Schicksal ihres ehemaligen Lehrers nachspürt, wird Katz tatsächlich Zeuge einer Entdeckung, die geeignet ist, die Fundamente des Glaubens zu erschüttern ...


Spannend: die wissenschaftliche Auseinandersetzung

Weniger die Rahmenhandlung selbst ist es, die den Leser in sei- nen Bann zieht, als die unkonventionelle Idee, die etablierten Naturwissenschaften in Frage zu stellen und demgegenüber ein völlig neuartiges Erklärungsmodell zu entwickeln.

Allen geht es darum, die Wahrheit herauszufinden. Mönch Benedikt behauptet sogar, daß man vor der Entstehung der Naturwissen- schaften der Wahrheit näher war als heutzutage, wo man meint, sich in allem und jedem auszukennen. Die wissenschaftlichen Methoden verblenden eher, als daß sie Wissen fördern. Seinen kritischen Standpunkt erläutert er folgendermaßen:

Es geht um die Wahrheit. Vielleicht war man ihr früher, vor zweitausend Jahren schon sehr nahe gekommen, doch dann verirrte man sich mehr und mehr in ein Labyrinth der Verblendung. Eine Philosophie, die das Ganze aus den Augen verliert. Es war die aufkommende Naturwissenschaft, die begann, die großen Dinge in winzige Einheiten zu zerlegen. Atome, Elementarteilchen, Quanten - für die Physiker in ihren Laboratorien ist der Prozeß noch nicht abgeschlossen. Sie verwenden immer größere Maschinen, um die kleinsten Teile ein weiteres Mal in noch kleinere Bestandteile zu zerlegen. Sie merken gar nicht, daß sie bereits im Absurden gelandet sind. (S. 24)

Bedenkt man einmal, wie elementar die wissenschaftliche Herangehensweise ist, das Objekt der Forschung in immer kleinere Einzelteile zu zerlegen, um hierin schließlich eine Antwort auf die Frage nach der Funktion und dem wahren Wesen der Dinge zu erhalten, so kann man Benedikts Schlußfolgerung, die Wahrheit im Zusammenhang zu suchen, gut nachvollziehen. Er erklärt weiter:

Nicht daß das Zutagegeförderte falsch wäre! Alle diese Formeln stimmen, alle diese Details ... Und doch liegt ein tragischer Fehler darin. Der Fehler des Menschen, der glaubt, die Welt bestünde aus dem, was er mit den Händen greifen, mit den Augen sehen, mit den Ohren hören kann. Daran ändert sich auch nichts, wenn er die von Gott gegebenen Sinnesorgane mit den Instrumenten der wissenschaft- lichen Photographie erweitert. Was sie ihm zeigen, ist wieder nichts anderes als ein belangloser Ausschnitt, der Zusammenhang mit der übrigen Welt unterbrochen. Die Fiktion des Massenpunkts - den es nicht geben kann! Das Rechnen mit endlich kleinen Zahlen, Irrfahrten durch eine unwirkliche Zeit! Die Experimente der Naturwissenschaftler, die glauben, auf den Folterbänken ihrer Geräte der Welt Geheimnisse abpressen zu können! Schon Goethe wußte es: Newton zerlegte das herrlich-bunte Licht in ein Gewirr ineinander verschlungener Wellen, kalt, ungreifbar, farblos. (S. 24)

Zu teilen und zu zählen ist eine Methode, die aus den gängigen Wissenschaften nicht wegzudenken ist. Wollte man anders als auf diese Weise verfahren, so hätte man zunächst einmal kaum eine Handhabe - alles, was man kennt, ist das Teilen und Zählen. Eine Blume wird, um sie zu untersuchen, aufgeteilt in ihre Blätter, Blüten, ihre Funktion, sie wird in ein bestimmtes Ordnungsgefüge einsortiert. Man arbeitet mit Zahlen und Formeln, die natürlich in sich schlüssig und logisch und somit auch wahr sind. Aber was hat man davon? Die Blume wird innerhalb eines Kataloges ähnlichen Pflanzen zugeordnet, mit ihnen verglichen, ins Verhältnis gesetzt, und der Wissenschaftler weiß doch nichts über sie. Was nützen einem komplizierte mathematische Formeln als Antworten auf elementare Fragen? Man erlangt bestenfalls eine Art Wissen, dessen praktischer Nutzen fraglich bleibt. Was aber erreicht man damit? Das Ergebnis ist, daß man das, was man erforschen möchte, Bekanntem zuteilt.

Laut Benedikt ist die Zeit solcher Verirrungen bald vorbei. Er weiß, daß solche wissenschaftlichen Methoden ein "verführerischer Sumpf" sind, in den sich die meisten verfangen. Es gehört seiner Meinung nach große Entschlossenheit und Willensstärke dazu, mit diesen Denkgewohnheiten zu brechen. Auch die Brüder des Klosters sind gegen eine Verführung nicht gefeit. Allzu schnell geben sie sich mit Teilergebnissen zufrieden, verlieren ihre Fragen aus den Augen.

Der Mönch Gaudenus sieht solche aufrührerischen Gedanken, wie Benedict sie formuliert, als Gotteslästerung an:

So, wie du es verstehst, Benedikt, als ein Gleichnis, wäre es zu akzeptieren. Doch würde ich in der Wahl meiner Bilder vorsichtig sein. Du weißt, wie die Naturwissenschaftler denken. Sie sehen in der Art und Weise, wie sich die Elementarteilchen zu größeren Einheiten fügen, bereits das Grundgesetz unserer Welt. Sie meinen, in diesen formelhaft erfaßbaren Zusammenhängen wäre bereits der große Organisations- plan beschrieben, der zur Entwicklung der toten und lebendigen Substanz bis zum Abbild Gottes, des Menschen, führt. Welche Blasphemie! (S. 68)

Da haben wir es! Wer sich der allgemein anerkannten Wahrheit widersetzt, wird der Blasphemie bezichtigt. Was aber ist eine Wahrheit? Ursprünglich bedeutete das Wort `wahr' nichts anderes, als `vertrauenswert', `Gunst erweisen'. Demzufolge hatte der Begriff nicht immer diese Bedeutung der Unumstößlich- keit, vielmehr erachtete man ursprünglich das als wahr, was einem vertrauenserweckend erschien.


Die Wahrheit liegt stets in der Hand des Stärkeren ...

Blickt man einmal zurück in die Geschichte, zu Zeiten, bevor die Naturwissenschaften sich etablieren konnten, so herrschte ein für unser heutiges Verständnis absurder Glaube an Götter und Götzen. Katastrophen wurden vielfach damit erklärt, daß der jeweilige Gott wütend sei. Dies galt derzeit als Wahrheit. Mit den Jahren wurde dieser Glaube durch Verkünder des Christentums auf brutalste Weise unterdrückt und durch eine neue Wahrheit ausgetauscht.

Es ist deutlich, daß hier die Religion in erster Linie den Herrschenden zum Vorwand diente, das Volk verfügbar zu halten. Verfolgt man einmal, wie hartnäckig sich Religionsvertreter, die derzeit die höchsten Positionen im Lande besetzten, sich gegen die aufkeimenden ersten Ansätze der naturwissenschaftlichen Forschungen wehrten, indem sie sie als ketzerisch und dem Teufel zugehörig verdammten, so wird ihre Absicht offensichtlich. Doch nicht lange, und Wissenschaftler nahmen führende Positionen ein, und ebenso wie ehemals die christliche Lehre galt nun die Wissenschaft als die Wahrheit schlechthin.

Daß es bei der Etablierung der Naturwissenschaften in erster Linie wieder um Herrschaftsinteressen einiger höherer Berufsstände ging, erkennt auch Mönch Abraham:

Es sehe, wer Augen hat, und es höre, wer Ohren hat! Was ist das schon anderes als eine Anweisung zur auf- merksamen Beobachtung, zur kritischen Analyse, zur wachen Aufnahme dessen, was um uns herum geschieht? Den Fehler, den die Naturwissenschaftler bisher gemacht haben, sehe ich in einem ganz anderen Aspekt. Sie haben darauf geachtet, aus dem zutagegeförderten Wissen möglichst viel praktischen V o r t e i l, möglicherweise sogar kommerziellen G e w i n n zu schlagen. Hier trennen sich die Wege, uns geht es um etwas ganz anderes: um die Wahrheit und den dahintersteckenden Sinn. Es ist der Sinn, den Gott der Welt gegeben hat, und wir kommen ihm näher, wenn wir diesen Sinn verstehen lernen. (S. 119)

Das seltsame Ende der Geschichte ...

Morde, Intrigen und eine brutale Konkurrenz haben letztlich dazu geführt, daß das ganze Kloster in Schutt und Asche liegt. Einzige Überlebende: Alwin und Mona. Und mit den einstürzenden Klostermauern schwindet auch die Arbeit jahrelanger Forschung. Nur Alwin weiß darum, und er ist sich sicher: Diese Ergebnisse dürfen nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Seinem Auftraggeber verrät er nur vage Andeutungen, ohne konkrete Fakten.

Nachdem etwas Gras über die Sache gewachsen ist, begeben sich Mona und Alwin noch einmal in die Überreste des alten Gemäuers. Sie finden im Keller den Arbeitsplatz eines der Mönche völlig unversehrt. Der Computer funktioniert, und binnen kurzem erhalten sie große Datenmengen. Mit diesem Wissen, meint Mona, "ist also alles möglich. Du kannst alles tun, was du willst. Du kannst an den Anfang der Welt zurückgehen oder ihr Ende hervorrufen. Du kannst eine neue Welt erschaffen - oder die alte vernichten!"

Wie lautet nun die wirklich `richtige Wahrheit'?

Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung jener Mönche im abgelegenen Kloster mitten im Zentrum der Milchstraße sind so hochbrisant, daß auch der Leser sie nicht vollständig erfährt. Mona und Alwin sind die einzigen noch lebenden Menschen, die darum wissen. Sie sind sich ihrer Verantwortung, es nicht in falsche Hände zu geben, durchaus bewußt.

Und auch ich werde es dem potentiellen Leser nicht vorwegnehmen - möglicherweise ist der Mensch noch gar nicht reif, sich so grundlegend und kritisch mit den Naturwissenschaften auseinanderzusetzen, daß er zu diesen umstürzlerischen Ergebnissen kommt.


Herbert W. Franke
Zentrum der Milchstraße
Phantastische Bibliothek Suhrkamp Taschenbuch