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REZENSION/030: H. Courths-Mahler - Wir sind allzumal Sünder (Liebe) (SB)


Hedwig Courths-Mahler


Wir sind allzumal Sünder



"Wir sind allzumal Sünder" ist einer von insgesamt 208 Romanen, die Hedwig Courths-Mahler (1867 - 1950), eine der vielgelesensten Autorinnen des deutschsprachigen Raums, verfaßt hat. Legt man die Verkaufszahlen ihrer Werke zugrunde, ist ihr Erfolg fast einzigartig zu nennen: Anfang der siebziger Jahre waren über 27 Millionen Exemplare ihrer Romane verkauft.

Die hohen Verkaufszahlen ihrer Werke scheinen jedoch mit einem schlechten Image einherzugehen. Weit verbreitet, insbesondere in Kreisen der Literaturkritik, ist die Auffassung, Hedwig Courths- Mahler wäre schlichtweg nicht ernstzunehmen. Bei ihren Romanen handele es sich um Liebesgeschichten simpelster Machart, die strenggenommen nicht einmal als `Literatur' einzustufen wären. Ungeachtet dessen fand und findet sie noch heute Zustimmung in einer breiten Leserschaft, die schon zum Gegenstand soziologischer und psychologischer Studien wurde mit dem Ziel, eine Erklärung dafür zu finden, warum diese Romane so gerne gelesen werden. Die Erklärungsmodelle laufen auf eine Psychologisierung der Leserschaft hinaus. Da ist von `Ersatzfunktion' die Rede, sprich: In diesen Romanen finden die Leser das, was ihnen im Leben versagt bleibt, und flüchten sich deshalb liebend gern in diese Scheinwelt märchenhafter Zustände.

Dieser Einschätzung soll hier einmal anhand des Romans "Wir sind allzumal Sünder" auf den Zahn gefühlt werden. Einerseits ist dieses Buch so aufgebaut wie alle anderen dieser Autorin: Ein rechtschaffener und edler Mann um die 30 lernt eine etwa zehn Jahre jüngere Dame kennen, beide verlieben sich ineinander, können jedoch aufgrund widriger Umstände nicht zueinanderfinden - und am Ende steht wie immer die glückliche Hochzeit. Von dieser Kerngeschichte ist Hedwig Courths-Mahler - das darf ohne Kenntnis sämtlicher Werke getrost einmal angenommen werden - niemals abgewichen. Die Einzigartigkeit der einzelnen Romane besteht in der Ausgestaltung der jeweiligen Probleme und ihrer Auflösung. Es ist, so könnte man vielleicht sagen, eine Übertragung des Märchens von den zwei Königskindern, die nicht zueinander finden konnten, in deutsche Verhältnisse in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts - inklusive Happy-End.

Bei "Wir sind allzumal Sünder" ist das nicht anders. Hier ist es der arbeitslose Diplom-Ingenieur Gunter Bertram, der mit seiner Schwester Gundi in einer kleinen Berliner Mansardenwohnung lebt. Beide leiden große Not, weil er keine Arbeit findet - die Schwester sorgt durch das Abtippen von Manuskripten für das Allernotwendigste. `Sie' ist Joan Werder, die Tochter eines reichen und angesehenen Börsenmaklers, die mit ihrem Vater eine Villa am Wannsee bewohnt.

Beide begegnen sich eines Tages auf der Straße und sind sofort "vom Blitzschlag getroffen". Sie wechseln ein paar Worte miteinander, denn in unmittelbarer Nähe wurde gerade ein Banküberfall verübt. Der flüchtende Täter fuhr mit seinem Motorrad dicht an Joan vorbei, die ob des Schreckens fast in Ohnmacht fiel - eine Situation also, in der Gunter Bertram sich nähern und ihr hilfreich beiseite stehen konnte, ohne das gesellschaftliche Taktgefühl zu verletzen. Und sofort war es um beide geschehen; sie wußten, daß es nie mehr eine andere oder einen anderen geben würde, auch wenn sie sich nicht wiedersehen sollten.

Gunter Bertram wußte jedoch nicht, was der eigentliche Anlaß für Joans Schwächeanfall war. Sie glaubte in dem Bankräuber ihren eigenen Vater erkannt zu haben! Und hier nimmt die Geschichte einen Verlauf, der nicht unbedingt in das klischeehafte Schema paßt, das Hedwig Courths-Mahler gemeinhin unterstellt wird. Bald wird deutlich, daß ihr Vater, ein wohlangesehener Bürger, tatsächlich ein Verbrecher ist, ein Bankräuber aus Leidenschaft! Der Schwarz-Weiß-Gegensatz ließe sich noch aufrechterhalten, wenn dieser `Sünder' moralisch verdammt werden würde, doch das tut die Autorin gerade nicht. Im Gegenteil schildert sie ihn als liebevollen und treusorgenden Vater, der sich auch des jungen Gunter Bertrams in respektvoller Weise annimmt und ihm in unaufdringlicher Weise aus seiner finanziellen Misere hilft.

Rudolf Werder führt ein Doppelleben, von dem seine Tochter nie etwas erfährt. Seinem künftigen Schwiegersohn gegenüber legt er jedoch eines Tages - die näheren Umstände, die dahin geführt haben, können hier getrost außer acht gelassen werden - eine umfassende Lebensbeichte ab:

Die Inflationskrise nahm auch mir mein Vermögen. Das war ein harter Schlag, aber erst der plötzliche Tod meiner Frau drückte mich vollends nieder. Das wenige mir noch verbliebene Geld, es waren gut dreitausend Mark, die ich in die stabilisierte Währung hinüberrettete, gab ich damals, mürbe und niedergeschlagen durch das harte Schicksal, wie ich war, einem mir bekannten Bankmanne. Er betrog mich darum. Fast mittellos stand ich da. Mit dem letzten Rest meines Geldes brachte ich mein kleines Töchterchen in ein Erziehungsheim. Dann fuhr ich nach Berlin zurück und schlief in einem Obdachlosenheim. Soviel Geld hatte ich noch, um mir einen Revolver und Zeug zum Unkenntlichmachen zu beschaffen. Denn ich wollte versuchen, auf unrechtmäßige Weise mein mir genommenes Geld wiederzuerlangen oder zu sterben. In einer der nächsten Nächte wurde in der Wohnung des Bankmannes, der mich um die dreitausend Mark betrogen hatte, ein Überfall verübt. Mit vorgehaltener Pistole drang ein Räuber, der offensichtlich das Haus und dessen Räumlichkeiten genau kennen mußte, in das Arbeitszimmer dieses Mannes ein und zwang ihn unter Todesandrohungen, ihm einen größeren Geldbetrag zu geben. Der Überfallene, der in seinem Arbeitszimmer einen Tresor stehen hatte, lieferte tatsächlich die geforderte Summe aus, worauf der Räuber ihn fesselte und knebelte. Der vermummte Täter entkam unerkannt. Am nächsten Tag herrschte in Berlin große Aufregung. Man stellte alle möglichen Untersuchungen an, aber man fand den Täter nicht. Es war fast unglaublich, daß der Überfallene den Verdacht nicht auf mich lenkte. Denn ich war es, der diese Tat ausgeführt hatte. Von jener Zeit an ließ mich die Lust am Abenteuer nicht mehr los. Ich konnte nicht anders, ich mußte rauben, mußte Menschen bedrohen, ihnen unter Lebensgefahr Geld abnehmen. (S. 207/208)

Ist das etwa eine heile Märchenwelt? Natürlich wird die Unterscheidung in `gute' und `böse' Menschen hier nicht etwa aufgelöst, sondern in einer Weise inszeniert, die durchaus als sozialkritisch interpretiert werden könnte. Der `böse' Mensch in dieser Geschichte ist nicht etwa der Vater mit dem Doppelleben, sondern sein letztes `Opfer' - ein amerikanischer Geschäftsmann, der ihn mit Hilfe eines Privatdetektivs zur Strecke bringen will. Daß er damit am Ende auch Erfolg hat, darf hier schon einmal verraten werden. Ja, schlimmer noch, das sich anbahnende Glück zwischen seiner Tochter und dem Diplomingenieur, den Rudolf Werder inzwischen zu seinem Privatsekretär und Kompagnon machte, wird durch den plötzlichen Tod des Vaters getrübt. Als die Berliner Kriminalpolizei in sein Haus kommt und ihn verhört, erleidet er einen Herzanfall und stirbt.

Daß er, der so elementar gegen eherne Gesetze verstoßen hat, dennoch ein `herzensguter' Mensch war, sieht nicht nur sein Schwiegersohn in spe so, sondern auch Kriminalkommissar Hempel, der durch sein hartes Verhör die Katastrophe ausgelöst hat und sich gegenüber Gunter Bertram folgendermaßen äußert:

"Mein Beruf verlangt Strenge von mir", sagte Hempel mit tiefem Ernst, "Unnachsichtigkeit, sogar Rücksichtslosigkeit gegen den Verächter des Gesetzes, der seinen Mitmenschen Schaden zugefügt. - Glauben Sie mir, es ist manchmal nicht leicht, der Mann mit der eisernen Hand sein zu müssen; allein ohne Gesetz und Recht würde die Welt aus den Fugen gehen. Richter bin ich jedoch nicht, möchte auch in diesem Fall nicht richten, wo der Tod den Gestrauchelten der irdischen Gerechtigkeit entzogen hat, denn ... wir sind allzumal Sünder." (S. 227)

Gut möglich, daß dies eine der Stellen ist, mit denen die Autorin ihre Stellungnahme zu der politischen Verhältnissen in ihrer Zeit zum Ausdruck bringt - und zwar keineswegs völlig kritiklos. Hedwig Courths-Mahler stand nicht auf der Sonnenseite des Lebens - sie stammte, wie es im Klappentext heißt, "aus sehr einfachen Verhältnissen, arbeitete in Leipzig als Verkäuferin und schrieb mit siebzehn Jahren ihren ersten Roman".

Wenn auch ihre Werke sicherlich nicht jedem zu empfehlen sind, ist doch die überheblich anmutende Art und Weise, in der diese Romane als `Schundliteratur' abgetan werden, völlig fehl am Platze. Legt man an literarische Werke den Maßstab an, ob in ihnen das Versprechen von Liebes- und Zweierbeziehungen aufgebaut und idealisiert wird, würde eine Menge mehr, auch anerkannter Werke, unter den Tisch fallen müssen. Um das Ganze noch weiter auf die Spitze zu treiben, wäre noch anzumerken, daß das Versprechen auf Verläßlichkeit und Treue das befristete Bindemittel sozialer Beziehungen ist. Nicht zufällig enden alle Courths-Mahler-Romane an der Stelle, wo die verhinderten `Königskinder' zueinander gefunden haben. Ein solcher Moment des Glücks läßt sich nur kurz aufrechterhalten - Hedwig Courths- Mahler wird gewußt haben, warum sie ihre Geschichten ausgerechnet an dieser Stelle enden ließ.


Hedwig Courths-Mahler
Wir sind allzumal Sünder
Lichtenberg Verlag, 1975