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REZENSION/031: Barbara Wood - Der Fluch der Schriftrollen (Historisch) (SB)


Barbara Wood


Der Fluch der Schriftrollen



Professor Benjamin Messer, amerikanischer Experte für antike Schriften, erhält den Auftrag, ein paar alte Schriftrollen aus dem ehemaligen Magdala (heute Khirbet Migdal in Israel) zu übersetzen. Der Fund erweist sich bald als Sensation, denn der Schreiber der Rollen, ein gewisser David Ben Jona, lebte etwa im Jahre siebzig in Jerusalem.

Zu Beginn seiner Arbeit erfährt Benjamin Messer, daß David Ben Jona die Schriftrollen, die seine persönliche Lebensbeichte enthalten, durch einen Fluch, der Wahnsinn und Verderben bringen soll, vor Unbefugten geschützt hat. Schon bald gerät Benjamin Messer völlig in den Bann der Lebensgeschichte des David Ben Jona, denn er ist selbst Jude und stellt zunehmend Parallelen zwischen Davids und seinem eigenen Leben fest.

Benjamins Übersetzungstätigkeit gerät in vielerlei Hinsicht zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft, obschon er seit langen Jahren dem jüdischen Glauben den Rücken gekehrt hat. Zumindest glaubt er das.


Anhand der beiden Hauptpersonen in ihrem Roman - dem jungen Schriftenkundler Benjamin Messer und dem gelehrten Juden David Ben Jona - beschreibt Barbara Wood das Scheitern zweier Menschen an den Gesetzen einer Glaubenslehre, die wie die meisten etablierten Religionen statt einer ehrlichen Bemühung um Erkenntnis rigide Gehorsam fordert.

Benjamin Messer, dessen Mutter im Konzentrationslager Majdanek gefoltert und dessen Vater dort von den Nazis lebendig begraben wurde, hat eine grauenvolle Kindheit hinter sich. Die aufgrund ihrer Erlebnisse dem Wahnsinn nahe Mutter hält dem angstgepeinigten Kind stets die Greueltaten vor Augen, die an den Juden verübt wurden und fordert von ihrem Sohn, als Rabbi über die Gesetze seines Volkes zu wachen.

In Amerika wächst der Knabe Benjamin mit dem Judenhaß der andersgläubigen Kinder auf, der durch die strenge Forderung nach Abgrenzung seitens seiner Mutter noch gefördert wird. Benjamin wird stets seine besondere Verantwortung als Angehöriger eines auserwählten Volkes vor Augen gehalten, doch er bringt zu viel Interesse an den Denkweisen anderer Menschen auf, um sich vor ihnen so konsequent zu verschließen, wie es seine Mutter im Namen des jüdischen Glaubens verlangt. So kehrt er schließlich nach Abschluß der Schule dem Judentum den Rücken, nennt sich einen Atheisten und wird Paläograph.


Professor Benjamin Messer ist eine gelungene Verkörperung des Zwiespalts, zwar einem auserwählten Volk anzugehören, aber dadurch offenbar zum Leiden verdammt zu sein. Benjamin, der zunächst den Anschein erweckt, als lehne er persönlich den jüdischen Glauben ab, verdeutlicht durch sein schier übermächtiges Interesse an David Ben Jona und durch seine wachsende Identifikation mit dessen Lebenslauf, daß er sich sehr wohl noch als Jude begreift. Viele Erinnerungen an vergangene Schrecken steigen in ihm auf, aber nur ein einziges Mal streift ihn der Gedanke, daß die schrecklichen Dinge, die Menschen einander antun, nichts mit dem jüdischen Glauben zu tun haben, sondern daß auch andere Außenseiter, Andersartige oder vermeintlich minderwertige Menschengruppen Opfer von Massakern und Greueltaten geworden sind. Ihm kommen kurz die Zigeuner, die Russen und die Polen in den Sinn, die in den KZ's der Nazis umgebracht wurden. Doch diese angedeutete Relativierung der jüdischen Rolle als bevorzugtes Opfer ist nicht von Bestand.

Um so erstaunlicher mutet es an, wenn Benjamins vom Leid zerstörte Mutter ihrem Sohn eröffnet, sein Vater wäre nicht "wie ein Lamm in den Tod wie die Juden in Auschwitz" gegangen (S.124). Denn damit hält sie ihm vor Augen, daß es keine geheime Größe in sich birgt, ein Opfer zu sein.

Dem Leser wird stillschweigend die Frage nahegelegt, ob die alltägliche Forderung, sich einem strengen Gesetzeswerk unterzuordnen, nicht mit dem Erwerb einer großen Anpassungs- und Duldungsbereitschaft korrespondiert, die in Situationen der Gefahr tödliche Folgen haben kann. Aber das hat mit dem Judentum an sich nichts zu tun. Ein Mensch, der schon in frühestem Alter dazu angehalten wird, sich an eine Vielzahl von Regeln anzupassen, die ihn einschränken und aufgrund der Androhung von (mitunter göttlichen) Strafmaßnahmen vielleicht auch ängstigen, wird sich vermutlich mit diesen Forderungen arrangieren. Und die Bereitschaft, sich zu arrangieren, läßt sich offenbar recht hoch entwickeln. Doch der Nachteil dieser Überlebensstrategie zeigt sich, wenn Menschen in ihrer Angst versuchen, sich ihren Henkern anzupassen und "wie die Schafe" in den Tod gehen. Allerdings wird dabei leicht übersehen, daß man nicht erst "wie ein Schaf" in den Tod, sondern bereits durch sein gesamtes Leben geht und wohl nur die wenigsten sich plötzlich in einen Wolf verwandeln können.


Benjamin Messer, der sich mehr und mehr mit den Greueltaten beschäftigt, die an ihm selbst, seiner Familie und seinem Volk verübt worden sind, beschränkt sich auch weiterhin auf das überschaubare Schlachtfeld der Juden gegen den Rest der Welt. Er denkt kein einziges Mal an die Not der Palästinenser in den israelischen Lagern, er denkt nicht an die indianische Minderheit in seinem eigenen Land, die einen verzweifelten Kampf gegen die übermächtige amerikanische Regierung führt. Er ist ein Jude, der fraglos furchtbares durchgemacht hat. Und in erster Linie sieht er sich als Juden und nicht als Mensch, der einer unliebsamen Kategorie angehört.

Entsprechend dem Bestehen auf Besonderheit und dem Festhalten an unüberbrückbaren Gegensätzen endet auch die Beziehung zwischen Benjamin Messer und seiner Freundin Angie, die ihm sehr zugetan ist. Indem Benjamin sich immer faszinierter auf seine jüdischen Wurzeln besinnt, errichtet er eine Mauer zwischen sich und der nichtjüdischen Angie. Auf einmal kann er ihr nicht mehr vermitteln, was ihn innerlichst bewegt, und statt der sehr bemühten Angie einen Zugang zu verschaffen, wird sie ziemlich übergangslos durch die "verständnisvollere" Jüdin Judy Golden ersetzt.

Der von seinem antiken Spiegelbild David Ben Jona besessene Benjamin wird wie dieser von Schuldgefühlen geplagt, weil er kein Jude mehr sein wollte und fühlt sich als Verräter am eigenen Volk. Sicherlich ist er auch ein Verräter, aber nicht am jüdischen Volk und auch nicht mit dem Pathos, das er für so wichtig zu halten scheint. Wie fast alle Menschen ist er ein Verräter am nackten Menschsein in all seiner Erbärmlichkeit, Unzulänglichkeit und Bosheit. Das Gefühl, sich aus einer Verantwortung gestohlen zu haben, trügt ihn nicht. Denn wer sich selbst etwas vorlügt, sollte nicht das Unschuldslamm spielen.

Ob er sich nun als Jude, Atheist oder als Christ bezeichnet, es bliebe in einem Punkt dasselbe: Er sähe in sich mehr als bloß einen Menschen, weil er nach "höheren" Dingen strebt. Und um diese "höheren" Dinge wird auch heute noch Blut vergossen in dem verbissenen Streben, der vermeintlichen Niedrigkeit des Menschseins entrinnen zu können.

Alles in allem läßt Barbara Wood, was Benjamin Messer angeht, sozusagen die Synagoge im Dorfe und Benjamin bleibt trotz mancher vorübergehend aufkeimenden Zweifel der Egozentrik seiner Selbstfindungssucht treu: "Ich muß noch einmal ganz von vorn anfangen, um zu mir selbst zu finden, Judy" (S. 299). Dabei ist es schon absehbar, daß er am Ende seiner Suche einen Juden, einen Atheisten, einen Gelehrten, einen Psychopathen oder einen Mann finden wird, aber nicht den verängstigten Menschen Benjamin Messer mit seiner tagtäglichen Beteiligung an einer grauenerregenden Welt.


Sehr spannungsreich und geschickt hat Barbara Wood die in den Schriftrollen festgehaltene Lebensgeschichte des Juden David Ben Jona mit dem Schicksal von Benjamin Messer verflochten. David Ben Jona war ein strebsamer, glaubensstarker Knabe, dem es sogar gelang, von Jerusalems berühmtestem Rabbi als Schüler angenommen zu werden. Als er eines Abends bei Freunden zuviel Wein trinkt und sich infolge seines Rausches zum Genuß von Schweinefleisch hinreißen läßt, erhält sein Leben eine entscheidende Wende. Sein Lehrer jagt ihn fort und er gerät immer mehr in Konflikt mit den Forderungen, die an einen ehrbaren Juden gestellt werden. So beginnt er als verheirateter Mann ein Verhältnis mit der Frau seines besten Freundes. Als Jerusalem später von den Römern belagert wird, weigert er sich, ein Schwert in die Hand zu nehmen, denn er hat sich einer frühchristlichen Gemeinde angeschlossen. Erst als sein bester Freund und seine Frau Rebecca getötet werden, bereut er, Jerusalem nicht verteidigt zu haben, weil er auf den angekündigten Erlöser gewartet hat. In seinem Zorn und seiner Enttäuschung schüttet er Gift in den Abendmahlskelch einer Gruppe von Nazaräern, die ihn zum gemeinsamen Gebet eingeladen haben und tötet dadurch mehr als achtzig Männer, Frauen und Kinder.

An der Person des David Ben Jona wird deutlich, wie ein Mensch sich durch die unerbittlichen Anforderungen eines Gesetzeswerks zunehmend in Schuld und Verwerflichkeiten verstrickt. Er hat die eigenen Bedürfnisse und Aggressionen immer weniger im Griff, bis er schließlich Dinge tut, zu denen er ursprünglich gar nicht fähig gewesen wäre. David Ben Jona wird das Opfer seines eigenen Anspruchs, den er als Jugendlicher in seinem leidenschaftlichen Wunsch nach Anerkennung bereitwillig verinnerlicht hat.

Und weil Benjamin Messer David Ben Jona wohl in diesem Punkt intuitiv versteht, ruft die Konfrontation mit den Schriftrollen bei ihm einen Zustand hervor, den ein Mystiker Besessenheit und ein Psychiater Persönlichkeitsspaltung nennen würde. Angenehmerweise enthält sich Barbara Wood jeglicher letztgültigen Erklärung und überläßt es dem Leser, zu ergründen, was mit Benjamin Messer geschehen ist. Ohnehin scheint es nicht ihr Anliegen zu sein, zu den Themen, die sie in ihrem Roman verarbeitet hat, mehr als nur vage Stellung zu nehmen.

Sicherlich, ihre Darstellung der verworrenen Verhältnisse im alten Jerusalem und der ersten Christen im damaligen Rom legt nahe, daß sie zumindest keinen kirchenchristlich verklärten Standpunkt zu diesem Abschnitt der Geschichte einnimmt. Doch kann man sich insgesamt des Eindrucks nicht erwehren, daß sie zwar mit Interesse recherchiert, aber dennoch vermieden hat, zu den gesellschaftlich oft heiklen Fragen, die mit dem jüdischen Glauben verbunden werden, einen klaren Standpunkt zu entwickeln.

Doch für einen unterhaltsamen und durchaus fesselnden Roman bedarf es der grundlegenderen Durchdringung dieser Thematik sicherlich nicht. So ist denn auch der Schluß des Buches dem Kurzweil suchenden Leser angemessen, dem es unmittelbar einleuchtet, daß Benjamin Messer und David Ben Jona gleichermaßen ein schweres Schicksal aufzuarbeiten haben und von ihrer Vergangenheitsbewältigung derart gefordert sind, daß sie in der Tiefe ihres persönlichen Leids keinen Blick mehr für die Menschen erübrigen können, um deren Anerkennung sich nicht zu ringen lohnt, weil sie sich ihrer bereits sicher sind: Rebecca, die als Davids Frau bis zu ihrem Tod zu ihm hält und Angie, Benjamin Messers geduldige und tolerante Lebensgefährtin. Beiden wird die gleichgültige Geringschätzung der Hauptfiguren zuteil, was erkennen läßt, daß ein Mensch, der unter der Mißachtung seiner Person und seiner Würde gelitten hat, dadurch keineswegs davon abgehalten wird, vermeintlich Unterlegenen mit derselben Haltung gegenüberzutreten. Allein aus diesem Grund ist der ganze Aufwand der judenspezifischen Selbstbetrachtung und Selbstanalyse, die Benjamin Messer und David Ben Jona gleichermaßen betreiben, im Grunde nichts als eitel und ein Haschen nach dem Wind.

Dennoch - wer sich gern spannend unterhalten läßt und im nebenherein gern ein paar Denkanstöße aus einer partiell recht sorgfältigen Hintergrundrecherche erhält, sollte sich den "Fluch der Schriftrollen" auf keinen Fall entgehen lassen. Immerhin beschreibt das Buch die Probleme von zwei Menschen, die zu Verarbeiten versuchen, was wohl kaum jemand verarbeiten kann ...


Barbara Wood
Der Fluch der Schriftrollen
Historischer Roman
Fischer Verlag, Frankfurt 1994
299 Seiten
ISBN 3-596-12031-4