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REZENSION/042: Aitmatow - Die weiße Wolke d. Tschinggis Chan (Mythos) (SB)


Tschingis Aitmatow


Die weiße Wolke des Tschinggis Chan



Der Inhalt des Buches "Die weiße Wolke des Tschinggis Chan" ist identisch mit dem 9. Kapitel von Aitmatows Roman "Ein Tag länger als ein Leben". Aus politischen Gründen konnte die Erzählung 1981 nicht in die Erstausgabe des Romans aufgenommen werden.

Der wohl gleichnishaft eingesetzte Mythos um Tschinggis Chans Wolke wurde von Aitmatow in einen kurzen Lebensabschnitt des Abutalip Kuttybajew eingebettet, der in Alma-Ata in Isolationshaft sitzt. Abutalip ist als völlig unpolitischer Mensch von dem Untersuchungsführer des KGB, Tansykbajew, als Instrument einer Liquidierungskampagne zur Förderung von Tansykabjews Karriere ausersehen worden.

Eindrücklich schildert Aitmatow die Schrecken der Lichtfolter und die Verzweiflung des Opfers, das für die grausame Behandlung keinen Grund finden kann und doch immer noch nach einem sucht in der Hoffnung, es könne sich alles als Irrtum herausstellen.

Wie wenig der Einzelne mit seinen Vorstellungen und Träumen zählt angesichts des immerwährenden Vernichtungsprozesses, den die Menschen innerhalb der eigenen Art in Gang halten, wird an vielen Stellen deutlich.

Mit ihm würde eine große Aktion beginnen, die der restlosen Ausrottung von versteckten Staatsfeinden diente. Benötigt wurde er als das erste Glied einer noch unsichtbaren Kette. Was aber kann über den Staatsinteressen stehen? Manche meinen - das Menschenleben. Komische Käuze! Der Staat ist ein Ofen, für den nur ein Heizmaterial taugt - Menschen. Ohne diesen Brennstoff erstickt der Ofen. Und wird nicht mehr benötigt. Doch eben diese Menschen können ohne Staat nicht existieren. Deshalb organisieren sie sich ihre Verbrennung selbst. Die Heizer aber müssen für Feuerung sorgen. Darauf beruht alles. (S. 27)

Dieser recht nüchternen Sichtweise des KGB-Funktionärs Tansykbajew stellt Aitmatow immer wieder das Bild des friedliebenden Menschen entgegen, der in üble Machenschaften hineingezogen wird und von der eigenen Unschuld so sehr überzeugt ist, daß er gar nicht darauf kommt, nach seiner Beteiligung an den Zuständen zu fragen. So fragt sich auch Abutalip im KGB- Gefängnis von Alma-Ata:

Warum sind sie nur so? Sie sehen doch wie Menschen aus! Wie kann man nur so gehässig sein? Schließlich habe ich keinem von ihnen persönlich auch nur das Geringste angetan. Sie haben mich nie gekannt. Ich habe sie nie gekannt, doch sie schlagen mich, verhöhnen mich so, als müßten sie an mir Blutrache üben. Warum? (S. 7/8)

Abutalip ist das klassische Opfer, das unausgesprochen beansprucht, sich heraushalten zu können aus dem mörderischen sozialen Gefecht, in das alle Menschen verstrickt sind, ob sie nun vom Kommunismus oder der idealen Zweierbeziehung träumen. Abutalip und vielleicht auch sein Schöpfer Aitmatow glauben fest daran, daß ein Leben als Mensch mit sauberen Händen möglich ist. Denn Abutalip war "kein Dieb, kein Gewalttäter, kein Mörder, sondern ein ehrlicher, rechtschaffener Mann, der Krieg und Gefangenschaft mitgemacht hatte, sich zu keinem anderen Glauben bekannte als der Liebe zu seinen Kindern und seiner Frau und darin den höchsten Sinn des Lebens sah."

Daß auch ein Abutalip an den Gewaltverhältnissen beteiligt ist, wird zwar nicht direkt aus seinen Aktivitäten deutlich, doch aus der Vermeidung, die er zwangsläufig praktiziert haben muß. Denn während er vor seiner Gefangennahme mit Frau und Kindern offenbar glückliche Tage verlebte, waren andere Gefangene in der Isolationshaft, die ebenso "schuldlos" waren wie er. Und mit Sicherheit hat Abutalip davon gewußt. Aber er kannte sie nicht und ihr Schicksal ging ihn nichts an. Und diese Gleichgültigkeit ist die Gewalt, mit der alle Abutalips zutiefst an den Verhältnissen beteiligt sind, durch die manche von ihnen schließlich erbarmungslos zugrundegerichtet werden. In seiner Legende von Tschinggis Chan, die mit der Hinrichtung eines Liebespaares endet, deutet Aitmatow an, weshalb Menschen angesichts von Gewalt, die sie nicht selbst betrifft, sehr duldsam sind:

Der Augenblick rückte näher. Die Trommeln wurden allmählich leiser, um vor der Hinrichtung zu verstummen und die gespannte Stille anzuheizen, wenn in schrecklicher Erwartung die Zeit sich dehnte, zerfiel und erstarb, um dann wieder ohrenbetäubend und wütend loszudröhnen, den Prozeß der Auslöschung eines Lebens mit einem wilden Wirbel zu begleiten und so das Bewußtsein der Zuschauer mit einer Ekstase blinder Rache und Schadenfreude zu betören, um einen jeden mit heimlichem Jubel im Herzen zu berauschen, daß nicht er den Tod durch Erhängen erleiden mußte, sondern ein anderer. (S. 91/92)

Das Schicksal oder Gott, die Abutalip abwechselnd beschwört, sind nichts weiter als Entschuldigungen für den Versuch, sich aus einem Konflikt herauszuhalten, der alle Lebewesen betrifft, die auf Kosten von anderen existieren. Gott oder das Schicksal sind für die Schrecken des eigenen Daseins verantwortlich, man selbst hat nichts damit zu tun, hat sich immer brav verhalten:

"Gott aber - das ist der Himmel, unerreichbar und unermeßlich. Und der Himmel weiß, wem er welches Schicksal bestimmt - wer geboren werden, wer leben soll." (S. 72)

Ähnlich anonym wie Gott oder dem Schicksal wird auch politischen Ideologien in Bausch und Bogen die Verantwortung für menschliches Leid zugeschoben, beispielsweise dem Sozialismus, als wäre dieser eine klar zu definierende Person:

... Tansykbajew und sein Untersuchungsgefangener aber fuhren in einem Wagen, um gemeinsam, jeder auf seine Weise, etwas zu tun, was für das Wohl der Werktätigen unentbehrlich war, nämlich die fällige Entlarvung von versteckten ideologischen Feinden zu vollziehen, ohne die der Sozialismus undenkbar wäre, sich selbst aufgelöst hätte, aus dem Bewußtsein der Massen verschwunden wäre. Deshalb mußte man ständig mit jemandem kämpfen, jemand entlarven, etwas liquidieren. (S. 118/119)

Derartige Formulierungen stoßen im kapitalistischen Westen natürlich auf Zustimmung, gerade weil sie flach und unreflektiert den Sozialismus diskreminieren, der bisher wohl noch nie in die Tat umgesetzt werden konnte. Es wäre genauso leicht, Aitmatows Ideal von der großen Liebe ad absurdum zu führen, denn für sie gibt es wohl ebensowenig praktische Beispiele wie für einen funktionierenden Sozialismus. Nur daß dieses Ideal im Westen hochgehalten werden darf, weil es wohl individualistischer und ungefährlicher für die gegenwärtigen Verhältnisse anmutet.

In der Legende von Tschinggis Chan, die Aitmatow von seiner Hauptfigur Abutalip niederschreiben läßt, wird die ideale Liebe zwischen dem mongolischen Hundertschaftsführer Erdene und der Fahnenstickerin Dogulang aus dem Troß des Chan beschrieben. Sie haben gegen das ausdrückliche Verbot des Herrschers während des Kriegszuges ein Kind bekommen und Dogulang wird dafür zum Tode verurteilt. Sie verrät Erdene selbst angesichts ihres nahen Todes nicht als Vater des Kindes. Er aber stellt sich freiwillig und geht mit ihr in den Tod. Nach diesem Ereignis wird Tschinggis Chan, den wochenlang eine weiße Wolke begleitet hatte, von der Wolke verlassen, was er für einen Fingerzeig des Himmels hält. Er bricht seinen Kriegszug vor den Toren Europas ab, um den weiteren Vorstoß seinen Söhnen und Enkeln zu überlassen.

Hier kommt also eine "höhere Gerechtigkeit" ins Spiel, auf deren Existenz Aitmatow zu zählen scheint. Die weiße Wolke mutet dabei wie die Hand Gottes an, die jemandem Schutz gewährt, aber diesen Schutz bei Fehlverhalten wieder entzieht. Und die Hinrichtung der beiden Liebenden hatte Tschinggis Chan um die weiße Wolke gebracht.

Aitmatows Beschreibung des Tschinggis Chan legt nahe, daß es allein Skrupellosigkeit und Gewalttätigkeit waren, die ihm seinen beispiellosen Erfolg als Imperator bescherten. Doch verfügten über diese Eigenschaften zu früheren Zeiten sicherlich auch andere ehrgeizige Stammesfürsten. Daß Tschinggis Chan über einen außergewöhnlichen politischen Weitblick und eine seltene Menschenkenntnis verfügt haben könnte, will Aitmatow nicht wahrhaben, da diese Eigenschaften sich wohl nicht mit seiner Vorstellung von Weisheit und Güte vereinbaren lassen. Aitmatow stellt Tschinggis Chan als Herrscher dar, der nur seine Meinung gelten läßt. Doch andere Quellen lassen viel eher den Schluß zu, daß er allem Neuen gegenüber außergewöhnlich aufgeschlossen und lernbereit gewesen sein muß und diese Haltung seinen Untertanen auch weitervermittelt hat:

Der lange Bestand seines nach den Grundsätzen des Nomandentums organisierten Reichs beruhte auf der raschen Angleichung der Mongolen an die chines. und iran. Kultur und auf T.s fast völliger religiöser Duldsamkeit. Auf diese Weise wurde er auch zum Mittler zwischen vielen Kulturen und zum Wegbereiter eines neuen Weltverkehrs. (dtv-Lexikon, Bd. 19, S. 29)

Aitmatow versteigt sich sogar dahin, den Mongolenführer mit dem Abscheu zu beschreiben, den die weiße Rasse vielen asiatischen Völkern entgegenbringt, als würde das Aussehen in gewisser Weise schon den üblen Charakter festschreiben: "Seine grausam zusammengepreßten Lippen und der starre, kalte Blick seiner schmalen Schlitzaugen hatte etwas Schlangenhaftes." (S. 92)

Aitmatow zieht nicht einmal in Erwägung, daß vieles an der Lebensweise der Nomaden dem Menschen angemessener sein könnte als die Formen vorangeschrittener Zivilisation (einschließlich dem angeblichen Sozialismus der damaligen UdSSR). Und obwohl ihm offensichtlich klar ist, daß Tschinggis Chan kaum eine andere Wahl hatte, als sein Riesenreich ständig zu expandieren (genau aus demselben Grund mußte der KGB ja stets gegen irgendwelche ideologischen Feinde kämpfen), führt er mit christlich- moralisierendem Tadel die unersättliche Herrschlust des Tschinggis Chan ins Feld. Dabei galt schon damals, ebenso wie in den heutigen Wirtschaftskriegen, das Gesetz: Wer nicht mehr expandiert, verliert. Moral erscheint an dieser Stelle als eines der hilflosesten Gegenargumente.

Diese Wahnsinnsidee, die unbezähmbare Gier nach Alleinherrschaft und Allmacht, bestimmte letzten Endes das grausame Wesen des Steppenimperators, seine historische Mission. Das gesamte Leben des Reiches - mit all seinen botmäßigen Stammesverbänden, den Ulussen in den riesigen asiatischen Gebieten, mit seiner gesamten, heterogen zusammengesetzten Bevölkerung, die von einer einzigen harten Hand gebändigt war, mit allen Begüterten und Besitzlosen, gleich, ob sie in den Städten oder in Nomadenlagern lebten, jedes einzelnen Menschen also, wer immer er war und womit immer er sich befassen mochte - diente dieser unersättlichen, teuflischen Leidenschaft, immer neue Gebiete zu erobern, immer mehr Völker zu unterwerfen. (S. 36/37)

Ob Aitmatow letztendlich sagen will, daß den sowjetischen Sozialismus seine weiße Wolke verlassen hat, weil in seinem Namen zu viele Verbrechen begangen worden sind, sei dahingestellt. Trotz der nicht sonderlich ausdrucksstarken und etwas hergeholt wirkenden Legende von der weißen Wolke des Tschinggis Chan ist dieses Buch lesenswert. Enthält es doch sehr eindrucksvoll erzählte Passagen über die Unpersönlichkeit menschlicher Grausamkeit, über das sich Klammern an Hoffnungen und über einige Herrschaftsmechanismen, die selten so deutlich benannt worden sind.


Tschingis Aitmatow
Die weiße Wolke des Tschinggis Chan
Roman um einen Mythos
Unionsverlag, Zürich 1994
ISBN 3-293-00198-X